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Die Vorstellung des Hauses ist im Kopfe des Baumeisters fertig, ehe der Bau des Hauses beginnt. Das Haus besteht im Bewußtsein des Baumeisters als Arbeitsplan, ehe es durch die Arbeit verwirklicht wird. Der Arbeitsplan, die anschauliche Vorstellung des Hauses, die der Erbauung des Hauses vorausgeht, ist die Idee des Hauses. Der Baustoff, aus dem die Arbeiter gemäß dieser Idee das Haus aufrichten, ist die Materie. Alle menschliche Arbeit ist Formung der Materie nach Ideen, Arbeitsverrichtung gemäß einem Arbeitsplan.
Nach dem Vorbilde ihrer eigenen Arbeit stellen sich die Menschen alles Weltgeschehen vor. Plato nennt den Weltschöpfer Demiurgos (Werkmeister); er lehrt, der Demiurg gestalte nach den Ideen aus der Hyle, der Materie, die er vorfindet, die Welt. Die Dinge seien daher Abbilder der Ideen. Der Idealismus überträgt das Verhältnis zwischen Arbeitsplan und Arbeitsverrichtung, Idee und Materie, wie es bei der menschlichen Arbeit besteht, auf alles Weltgeschehen.
Alle Arbeit besteht darin, daß der Mensch Körper bewegt: Körper hebt oder wirft, drückt oder stößt. Um einen Körper zu bewegen, bedürfen wir einer Anstrengung; diese Anstrengung ist uns bekannt aus den Muskelempfindungen, die unsere Arbeit begleiten. Die von uns empfundene Muskelanspannung, die die Arbeit erfordert, nennen wir Kraft. Der Arbeitsstoff, die Materie, ist uns durch die Natur gegeben; wir können ihn weder vermehren noch vernichten; unsere Arbeit besteht nur darin, daß wir durch Aufwendung unserer Kraft Stoffe bewegen.
Nach dem Vorbild der menschlichen Arbeitsverrichtung stellen wir uns alle Veränderungen in der Natur vor. Wo immer etwas geschieht, nehmen wir an, daß eine Kraft wirke, die die Materie bewege. Alles Geschehen sei Bewegung von Stoffen durch Kräfte. Der Materialismus überträgt das Verhältnis zwischen Kraft und Stoff, wie es bei der menschlichen Arbeit besteht, auf alle Naturvorgänge.
Durch die Arbeit erwirbt der Mensch seinen Lebensunterhalt. Arbeit ist die dem Menschen eigentümliche Art des Daseinskampfes in der Natur. Nur nach dem Vorbild seiner Arbeit, analog seiner Arbeit kann sich der Mensch alles Geschehen in der Natur verständlich machen. Der Idealismus denkt alles Geschehen als Verwirklichung eines Arbeitsplans. Der Materialismus denkt alles Geschehen als Arbeitsverrichtung, als Bewegung von Stoffen durch Kräfte. Der Idealismus stellt sich das Weltgeschehen vor nach dem Vorbilde der geistigen Arbeit, die den Arbeitsplan entwirft, den die Arbeitsverrichtung ausführt. Der Materialismus denkt die Welt als körperliche Arbeit, als Bewegung von Stoffen, die einer Anstrengung, einer Kraft bedarf.
Die Weltauffassung des Zeitalters des Feudalismus, die ältere Scholastik, ist idealistisch. Wissenschaft kann in jener Zeit nur von der Geistlichkeit betrieben werden: von einer Klasse, die müßig Renten verzehrt, aller körperlichen Arbeit völlig fern steht, ausschließlich mit geistiger Arbeit beschäftigt ist. Sie denkt die Welt ausschließlich nach dem Vorbilde geistiger Arbeit, also idealistisch. Ihr ganzes Bewußtsein ist erfüllt von der Religion; sie interessiert nicht das Weltgeschehen selbst, sondern das Verhältnis des Weltgeschehens zum Weltschöpfer. Sie denkt das Weltgeschehen als Verwirklichung der Ideen des Weltschöpfers; als Verwirklichung des Arbeitsplans, nicht als Arbeitsverrichtung; also idealistisch, nicht materialistisch.
Erst mit dem Kapitalismus entsteht eine zahlreiche Klasse, die zwar mit geistiger Arbeit beschäftigt ist, aber diese geistige Arbeit unmittelbar benützt, die körperliche Arbeit zu leiten, ihr neue Aufgaben zu stellen, sie umzugestalten, aus ihr Gewinn zu schöpfen. Die entstehende kapitalistische Welt interessiert nicht mehr nur das Verhältnis des Arbeitsplans zur Arbeitsverrichtung, sondern auch die Arbeitsverrichtung selbst; die Revolution der Arbeitsverfahren ist ja die große Tat des Kapitalismus. So beginnt man denn, sich auch das Naturgeschehen als Arbeitsverrichtung vorzustellen; als Bewegung von Stoffen durch Kräfte. Die ungeheure Umwälzung, in der der Frühkapitalismus entstanden ist, die gewaltige Revolution, die alle alten sozialen Bande zerrissen, die ganze Gesellschaft umgebildet hat, hat die Menschen vom Banne der Überlieferung befreit und damit auch die Allmacht der überlieferten Religion zerstört. Ihre Auflösung äußert sich im Leben der breiten Volksmassen in der Umbildung der religiösen Vorstellung (Reformation); in der Oberschicht der Gesellschaft darin, daß neben und vor den religiösen auch außerreligiöse, weltliche Interessen Raum gewinnen (Renaissance, Humanismus). Das neue Geschlecht interessiert nicht nur das Verhältnis des Weltschöpfers zum Weltgeschehen, sondern auch das Weltgeschehen selbst; es kann sich daher die Welt nicht mehr nur als Verwirklichung des göttlichen Arbeitsplans vorstellen, es muß sie auch als Arbeitsverrichtung denken: als Bewegung von Stoffen durch Kräfte.
Wie der Kapitalismus sich nur allmählich aus der feudalen Gesellschaft entwickelt, wird auch das feudale Weltbild nur allmählich, nur in einem Jahrhunderte währenden Entwicklungsvorgange überwunden. Diese Entwicklung beginnt schon innerhalb der Scholastik mit dem Siege der aristotelischen über die platonische Denkweise. Im 11. Jahrhundert findet der Feudalismus in England durch die normannische Eroberung seine vollkommenste Verwirklichung; in diesem Zeitalter blüht dort die platonisierende Scholastik (Anselmus von Canterbury). Im 13. Jahrhundert blühen in Italien die Städte und wird dort die Landwirtschaft geldwirtschaftlich umgebildet; die frühkapitalistische Entwicklung beginnt. In dieser Zeit gründet sich die Scholastik auf die Lehre des Aristoteles, die das Weltgeschehen als Formung des Stoffes durch zweckstrebig bewegende Kräfte (Entelechien), also als Arbeitsvorgang begreift (Thomas v. Aquino). Aber auch diese Naturauffassung dient noch durchaus der Theologie: die Scholastik sucht nicht die Gesetze, nach denen die Körper durch Kräfte bewegt werden; ihr dient die Betrachtung, daß das Naturgeschehen Bewegung sei, nur als Vordersatz für den Schluß, daß alle Bewegung eines letzten Bewegers bedürfe. Sie betrachtet das Weltgeschehen als Arbeitsverrichtung nur zu dem Zwecke, um schließen zu können, daß die Arbeitsverrichtung einen Arbeitsplan voraussetze.
Alles Wissen der mittelalterlichen, an eine allmächtige Überlieferung gebundenen Welt hat es nicht mit den Gegenständen selbst zu tun, sondern nur mit den Begriff en von ihnen; es ist immer nur Auslegung überlieferter Begriffe: die Rechtswissenschaft bloße Auslegung überlieferter Rechtsordnungen, die Theologie Auslegung der Schrift und der Väter. So ist auch die entstehende Naturwissenschaft zunächst nur Auslegung der aristotelischen Physik. Aber dem durch den Frühkapitalismus emporgetragenen, durch eine gewaltige Revolution vom Banne der Überlieferung befreiten, in unerhörte Lebensverhältnisse gestellten Geschlecht genügt dieses alte Wissen nicht mehr. Es will nicht mehr alte Rechtsordnungen auslegen, sondern ein neues Recht nach seinen Bedürfnissen gestalten; nicht mehr die alte Gotteslehre auslegen, sondern sich seinen Gott nach seinem Ebenbilde schaffen; nicht mehr Aristoteles’ Physik gläubig hinnehmen, sondern selbst die Natur anschauen, aus eigener Geisteskraft erkennen, „was die Welt im Innersten zusammenhält“. Das neue Geschlecht wagt es, aus eigener Naturbeobachtung ein neues Weltbild zu gestalten (Bacon). Und dieses neue Weltbild will nicht mehr nur der Theologie dienen; die Natur interessiert das neue Geschlecht an sich, außer jedem Zusammenhange mit der Theologie. Es überläßt die Frage nach dem Weltschöpfer den Theologen und fragt nur nach dem Weltgeschehen. Es überläßt es den Theologen, in der Natur die Verwirklichung des göttlichen Arbeitsplans zu finden; es bescheidet sich damit, sich die Naturvorgänge nach der Analogie der Arbeitsverrichtungen begreiflich zu machen. So entsteht eine von der Theologie losgelöste, von der Autorität des Aristoteles befreite Naturwissenschaft, die das Naturgeschehen nach dem Vorbilde der körperlichen Arbeit als Bewegung von Stoffen durch Kräfte denkt.
So wird die Lehre von der Bewegung, die Mechanik, zur Grundlage der ganzen Naturwissenschaft (Galilei). Ihr Grundbegriff ist die Arbeit. Sie feiert ihre großen Triumphe, sobald es ihr gelingt, die Bewegung der Himmelskörper aus den allgemeinen Gesetzen, die von jeder Bewegung der Materie durch Kräfte gelten, zu erklären, sie uns also zu Arbeit, nach der Analogie menschlicher Arbeitsverrichtung, begreiflich zu machen (Kepler, Newton). Sie unternimmt es nun, alle Naturerscheinungen – Schall und Licht, Wärme und Elektrizität – auf mechanische Vorgänge zurückzuführen und sie dadurch nach der Analogie menschlicher Arbeit als Bewegung von Stoffen durch Kräfte begreiflich zu machen.
Die Welt spaltet sich dadurch in das Wesen der Dinge und in ihre bloße Erscheinung: das Wesen der Dinge sind Bewegungen von Körpern; Schall, Licht, Wärme, Elektrizität sind Trug unserer Sinne; Sinnesempfindungen, die durch jene Bewegung ausgelöst werden, aber jene Bewegungen nicht getreu widerspiegeln, sondern in trügerischer, durch die Natur unserer Sinnesorgane bestimmten Art. Das ist die Grundvorstellung der mechanistischen Naturauffassung.
In der feudalen Gesellschaft ist der Einzelne eingesponnen in alte, durch das Herkommen geheiligte herrschaftliche und genossenschaftliche Verbände. Lehensverband und Grundherrschaft, Mark- und Hofgenossenschaft, Zunft und Gilde binden den Einzelnen. Er ist an das Recht, an den Glauben, an die Sitte seiner Gemeinschaft gebunden. Was recht ist, kann man nicht beschließen, sondern nur finden; was wahr ist, nicht erkennen, sondern nur glauben; was sich ziemt, nicht beurteilen, sondern nur befolgen. Der Einzelne wird in die Gemeinschaft hineingeboren, er gehört ihr durch seine Geburt und bis zu seinem Tode an. Die Gemeinschaft ist vor dem Einzelnen da und sie bestimmt des Einzelnen Schicksal.
Nach dem Vorbilde dieser Gesellschaftsordnung malte sich die mittelalterliche Menschheit die Ordnung der Welt; nach der Analogie ihres gesellschaftlichen Seins bildete sie sich ihr praktisch-theoretisches Weltbild. Praktisch im Weltsystem Augustins: die Erbsünde lastet auf dem Einzelnen und durch Christi Opfertod wird der Einzelne erlöst; das Individuum wird sündig nicht durch seine Schuld und erlöst nicht durch sein Verdienst; Schuld und Sühne werden vorbestimmt durch Gottes Ratschluß, durch Gottes Gnadenwahl. Theoretisch im „Realismus“ der älteren Scholastik: die wirklichen Wesenheiten sind die Begriffe, die Ideen, das Allgemeine; die einzelnen Dinge sind nur Exemplare der Begriffe, nur Abbilder der Ideen, nur Einzelfälle des Allgemeinen. Im „Realismus“ des 11. Jahrhunderts drückte sich der Idealismus und der Universalismus der Weltauffassung des Zeitalters des Feudalismus am getreuesten aus: weil sie nicht das Weltgeschehen selbst, sondern nur das Verhältnis des Weltgeschehens zum Weltschöpfer interessiert, betrachtet sie die Welt als Verwirklichung des göttlichen Arbeitsplanes, die Dinge als Abbilder der Ideen; wie der einzelne Mensch ein Geschöpf der Gemeinschaft ist, in die er hineingeboren wird, denkt er auch die einzelnen Dinge als Erzeugnisse der allgemeinen Begriffe, unter die sie fallen.
Mit der Entwicklung des Kapitalismus wurden die alten gesellschaftlichen Verbände zerrissen; das Individuum wird von ihrem Banne befreit. Die gesellschaftliche Arbeitsteilung differenziert die Individuen. Der einzelne wird Unternehmer; sein Schicksal ist nicht mehr nur durch die Geburt bestimmt, sondern durch seine eigene Tüchtigkeit, seine eigene Arbeit. „Jeder ist seines Glückes Schmied“ heißt es nun. Die kapitalistische Gesellschaft löst sich endlich auf in eine unorganisierte Masse von Individuen, die durch keinerlei ständische Organisationen mehr miteinander verknüpft sind, nach eigenem Willen Arbeitsort und Beruf wählen, durch eigene Tätigkeit ihr Schicksal schmieden, die im Wettbewerb gegeneinander stehen und miteinander durch nichts verknüpft sind als durch die „gefühllose bare Zahlung“.
Damit verändert sich auch das Weltbild. Auch in den Vorstellungen, die sich die Menschen von der Welt machen, gewinnt das menschliche Individuum immer größere Selbstbestimmung und das Einzelding in der Natur immer größere Selbständigkeit. Die Entwicklung beginnt schon in der Scholastik des 13. Jahrhunderts: Thomas v. Aquino mildert Augustins Lehre von der Gnadenwahl und er mildert den Begriffs-Realismus der älteren Scholastik. Aber vollständig überwunden wird der feudale Universalismus erst in der franziskanischen Philosophie, die im 13. und 14. Jahrhundert in England entstanden ist. Zunächst praktisch: Duns Scotus’ Voluntarismus untergräbt Augustins Lehre von der Vorbestimmung; der Einzelne, durch eigene Schuld verdammt und durch eigenes Verdienst die göttliche Gnade erwerbend, wird frei gegen Gott. [1] Wie der einzelne Mensch frei wird, wird nun auch das einzelne Ding selbständig. Der Nominalismus tritt dem alten Begriffs-Realismus gegenüber: Was in der Welt ist, sind Einzeldinge; die allgemeinen Begriffe sind nur aus den Einzeldingen abstrahiert, nur Namen, unter denen der Mensch viele Einzeldinge zusammenfaßt (Occam). Und diese praktisch und theoretisch individualistische Philosophie der britischen Franziskaner führt nun ganz unmittelbar in die englische Erfahrungsphilosophie über: wie der Einzelne nicht durch göttliche Vorbestimmung, sondern durch eigene Tat selig oder verdammt wird, so kann er auch nicht durch gläubige Hinnähme alter Meister, sondern nur durch eigene Beobachtung, eigene Erfahrung die Welt erkennen; und da alles Allgemeine nur Zusammenfassung von Einzeldingen ist, führt zur Erkenntnis kein anderer Weg als die Induktion: die Beobachtung und Vergleichung der einzelnen Erscheinungen (Bacon). [2]
So ist die Welt aufgelöst in eine Masse einzelner Dinge und einzelner Erscheinungen. Die Wissenschaft sucht alles Mannigfaltige in die Einzeldinge, aus denen es zusammengesetzt ist, alle komplizierten Erscheinungen in die einfachen Einzelerscheinungen, aus denen jene entstehen, aufzulösen. So will sie die Welt begreifen aus den Bewegungen kleinster, nicht weiter teilbarer Körper. Zu diesem Behufe ersinnt Descartes seine Corpuscula; zu demselben Zwecke gräbt Gassendi aus der Philosophie der Antike die Atome aus. Die mechanistische Naturauffassung setzt sich nun die Aufgabe, alles Naturgeschehen als Bewegung von Atomen darzustellen.
Der Kapitalismus hat die alten Verbände, die das Wirtschaftsleben durch Befehl, Satzung und Gewohnheitsrecht geordnet hatten, zerstört. Er hat die Gesellschaft aufgelöst in eine Masse unorganisierter Individuen, deren jedes nur seinem eigenen Interesse nachgeht. Die Individuen sind untereinander nur dadurch verknüpft, daß ein Individuum sich mit anderen zur Verfolgung gemeinsamer Zwecke verbindet und ein Individuum gegen die anderen im Wettbewerb kämpft. Nach dem Vorbild dieser Gesellschaftsordnung malten sich die Menschen ihr Weltbild. Nach dem Vorbild des Individuums ersannen sie das Atom: Individuum und Atom bedeuten dem ursprünglichen Wortsinne nach dasselbe; Individuum bezeichnet in der lateinischen, Atom in der griechischen Sprache das Unteilbare. War die Gesellschaft zersetzt in selbstherrliche Individuen, so dachten die Menschen auch die Natur zerfällt in selbständige Atome. War der gesellschaftliche Zusammenhang aufgelöst in Kooperation der Individuen miteinander und Wettbewerb der Individuen gegeneinander, so glaubten die Menschen, auch alles Weltgeschehen auf Anziehung und Abstoßung der Atome zurückführen zu können. Die mechanistisch-atomistische Naturauffassung schuf die Welt nach dem Ebenbilde des Kapitalismus.
In der feudalen Gesellschaftsordnung wird alles Wirtschaftsleben planmäßig, zweckbewußt geleitet. Der Hausvater verteilt die Arbeit und den Arbeitsertrag auf die Mitglieder seines Haushaltes. Der Marktaiding ordnet die Bestellung des Ackers und die Nutzung der Allmende. Der Grundherr mißt den Bauern, der Fürst den Grundherren Rechte und Pflichten zu.
Nach dem Vorbilde ihrer Gesellschaft malt sich die feudale Menschheit die Regierung der Welt. Sie stellt sich vor, daß auch das Weltgeschehen planmäßig, zweckbewußt geleitet werde. Gott leitet alles Geschehen in der Natur zweckbewußt nach seinem Willen. Wie der König seine Lehensmannen über die Bauern, der Grundherr seine Meier über die Fronhöfe setzt, damit sie die Arbeit der Bauern leiten und über die Bauern zu Gerichte sitzen, so überträgt Gott einzelne Zweige der Weltregierung den Heiligen, damit sie das Naturgeschehen nach Gottes Willen lenken. Alles Weltgeschehen wird also durch einen planmäßig, zweckbewußt wirkenden Willen gelenkt.
Der individualistische Kapitalismus besitzt kein Organ, das die gesellschaftliche Arbeit zu leiten vermöchte. Er überläßt es den einzelnen, zu wirtschaften, wie es ihnen beliebt; mittels der un-geleiteten, ungeregelten Handlungen der Individuen, die nichts als ihre Selbstsucht leitet, setzen sich die gesellschaftlichen Notwendigkeiten durch. Der individualistische Kapitalismus bedient sich der anarchischen Methode, des „freien Spiels der Kräfte“, Arbeit und Arbeitsertrag auf die Individuen zu verteilen, die Entwicklung der Produktivkräfte zu fördern und das Wachstum des Produktionsapparats dem Bevölkerungswachstum anzupassen.
Die Anarchie des Wirtschaftslebens übertragen die Menschen, deren Denken durch den individualistischen Kapitalismus geformt ist, auch auf die Natur. Sie denken sich auch das Weltgeschehen nicht mehr planmäßig, nicht mehr durch zweckbewußten Willen geleitet. Über den Individuen der menschlichen Gesellschaft steht kein Lehensherr und kein Grundherr, kein Marktaiding und keine Zunft mehr; jedes Individuum geht nur seinen individuellen Zwecken nach und alles wirtschaftliche Geschehen geht hervor aus den selbständigen Aktionen der Individuen, die sich um ihrer individuellen Zwecke willen zu gemeinsamer Arbeit vereinigen oder im Wettbewerb einander bekämpfen. Ebenso steht über den Atomen kein Gott mehr, der ihre Bewegungen leitet; jedes Atom wirkt nur durch seine individuellen, ihm innewohnenden Kräfte, und alles Naturgeschehen geht hervor aus den selbständigen Aktionen der Atome, die gemäß den ihnen innewohnenden Kräften aufeinander wirken, einander anziehen und abstoßen. Ist das wirtschaftliche Geschehen nicht mehr zweckbewußt geleitet durch eine über den wirtschaftenden Menschen stehende Obrigkeit, so denken sich die Menschen auch das Weltgeschehen nicht mehr zweckbewußt geleitet durch einen über der Welt stehenden, zweckbewußt handelnden Willen. Die Menschen der feudalen Welt denken die Welt als das Produkt eines über ihr stehenden zweckbewußt tätigen Willens; die Menschen der kapitalistischen Welt denken sie als die Resultierende konkurrierender individueller Kräfte. So tritt an die Stelle der teleologischen die kausale Weltbetrachtung.
Der Mensch kann sich alles Geschehen nur nach der Analogie seiner eigenen Arbeit begreiflich machen. Arbeit ist aber zweckbewußte Tätigkeit. Sehen wir, daß im Wirtschaftsleben der Verbrauch der Erzeugung, die Verteilung der Arbeitenden auf die einzelnen Arbeitszweige der Gliederung des Bedarfs nach den einzelnen Gütergattungen, die Vergrößerung des Produktionsapparats dem Wachstum der Bevölkerung angepaßt wird, so stellen wir uns diese Anpassung zunächst nach der Analogie einer zweckbewußten Tätigkeit vor; wir sagen also, die Gesellschaft passe den Verbrauch der Erzeugung, die Arbeitsteilung der Gliederung des Bedarfs, die Akkumulation des Kapitals dem Wachstum der Bevölkerung an. Wir sprechen von der Gesellschaft, als ob sie ein vernünftiges zweckbewußt handelndes Wesen wäre.
Aber in Wirklichkeit ist die Gesellschaft auf der Entwicklungsstufe des Kapitalismus kein solches Wesen. Die Anpassung, die so gedacht werden kann, als ob sie die Wirkung zweckbewußten Handelns der Gesellschaft wäre, ist in Wirklichkeit die Resultierende der auf dem Markt wirkenden individuellen Kräfte, deren jede nur individuellen Zwecken zustrebt, die von ihrer gesellschaftlichen Gesamtwirkung völlig verschieden sind. Nach der Analogie dieser wirtschaftlichen Erfahrung stellen sich die Menschen auch das Weltgeschehen vor. Betrachten wir die Natur, so bewundern wir vorerst,
Wie alles sich zum Ganzen webt, Eins in dem ändern wirkt und lebt!
Auch diese von uns bewunderte Naturordnung stellen wir uns vorerst wie das Ergebnis einer zweckbewußten Tätigkeit Gottes oder der personifizierten Natur vor. Dann aber, das Erlebnis des Kapitalismus nachbildend, nehmen wir an, daß auch hier eine Resultierende individueller Kräfte ist, was uns vorerst als Ergebnis zweckmäßig ordnender Tätigkeit erschienen war. Nach dem Vorbilde der Anarchie des kapitalistischen Konkurrenzsystems denken wir die Natur als Mechanismus.
Die Oberwindung der theologisch-teleologischen durch die mechanistisch-kausale Naturauffassung ist das Ergebnis eines Jahrhunderte währenden Entwicklungsvorgangs. Noch im 17. und 18. Jahrhundert sind die Lehren der großen Naturforscher voll ideologischer Bestandteile. Nur allmählich werden sie ausgemerzt. Die stärkste Triebkraft dieser Entwicklung war unzweifelhaft der Kampf gegen die überlieferten religiösen Vorstellungen. Im Kampfe gegen den Feudalismus stößt das emporstrebende Bürgertum auf die Kirche, die gewaltigste Herrschaftsorganisation und die gewaltigste geistige Macht der feudalen Welt. Es sucht die Macht der Kirche über die Seelen zu erschüttern, indem es ein von allen religiösen Vorstellungen befreites Weltbild zu schaffen unternimmt. Darum sucht es sein Weltbild von der Teleologie zu befreien, die die letzte Zufluchtsstätte aller Theologie ist. Je vollständiger der Feudalismus überwunden wird, desto vollständiger werden die ideologischen Bestandteile aus der Naturwissenschaft ausgemerzt. Je vollständiger der Kapitalismus siegt, desto reiner wird auch die Natur nach dem Vorbilde kapitalistischer Anarchie als Mechanismus gedacht.
Die größten Schwierigkeiten bereiten der mechanistischen Naturauffassung die Lebewesen. Die gegenseitige Abhängigkeit der einzelnen Organe voneinander kann sich unser Erkenntnisvermögen nicht anders verständlich machen als durch die Annahme einer inneren Zweckmäßigkeit des Organismus. Erst durch Darwin wird auch das Reich des Lebenden der mechanistischen Naturauffassung erschlossen. Er unternimmt es, uns auch den zweckmäßigen Aufbau der Organismen als die Resultierende anarchisch wirkender individueller Kräfte begreiflich zu machen. Und gerade an diesem letzten großen Siege der mechanistischen Naturauffassung läßt sich ihr Ursprung am allerdeutlichsten zeigen; hat doch Darwin selbst bekannt, daß er sein Bild des Daseinskampfes der Lebewesen nach dem Vorbilde der Malthus’schen Darstellung des Konkurrenzkampfes der Menschen gestaltet habe! So wird gerade hier die geschichtliche Abhängigkeit der mechanistischen Naturauffassung vom Kapitalismus besonders deutlich erkennbar: ist in der Gesellschaft jede gesellschaftliche Wirkung nur die Resultierende anarchisch waltender individueller Kräfte, so wird auch in der Natur alles, was den Menschen früherer Zeiten als Naturzweck oder als das Ergebnis zweckbewußter Tätigkeit Gottes erschien, nur als das Ergebnis ungezügelt waltender individueller Kräfte gedacht. Der Mechanismus ist die anarchische Methode der freien Konkurrenz, – aus der Wirtschaft auf die Natur übertragen.
Die feudale Gesellschaft ruht auf der Gütererzeugung für den Eigenbedarf. Der Reichtum des Feudalherrn setzt sich zusammen aus soundso viel Joch Bodens, aus den Ansprüchen auf Fronarbeit, Zins und Bede soundso vieler Bauern, aus soundso viel Scheffeln Korn, soundso viel Zentnern Flachs usw. Diese Bestandteile seines Reichtums kann er nicht addieren; denn er kennt kein Maß, das so verschiedene Güter und Ansprüche zu messen, ihre Gesamtgröße zu berechnen erlaubte. Die Güterwelt setzt sich aus qualitativ verschiedenen Gütern zusammen, die an keinem gemeinsamem Maß gemessen werden können.
Die kapitalistische Gesellschaft beruht auf der Warenerzeugung. Der Schneider erzeugt Kleider, nicht um sich zu bekleiden, sondern um sie zu verkaufen; er setzt die Kleider der Menge Geldes gleich, die er für sie eintauschen kann. Dem Warenerzeuger ist jede Ware nur der Vertreter einer Menge Geldes, nur Vergegenständlichung einer Menge gesellschaftlicher Arbeit, deren Erzeugnis er gegen die Ware eintauschen kann. Aus so vielen verschiedenen Gütern und Ansprüchen der Reichtum des Kapitalisten bestehen möge: er kann in einer Zahl ausgedrückt werden, weil jedes Gut einem Geldbetrag, einer Menge gesellschaftlicher Arbeit gleichgesetzt wird. Im Gelde hat das Wirtschaftsleben, in der gesellschaftlichen Arbeit die Wirtschaftstheorie ein Maß gefunden, das alle Güter zu messen, alle Güter miteinander zu vergleichen, alle Güter zu addieren ermöglicht. Die qualitativ verschiedenen Güter erscheinen der kapitalistischen Welt nur noch als Vertreter verschiedener Mengen desselben Geldes, als verschiedene Quanta ununterschiedener gesellschaftlicher Arbeit, als Quantitäten eines qualitativ ununterschiedenen Substrats.
Der Reichtum der feudalen Gesellschaft ist ein System qualitativ verschiedener Güter und Ansprüche. Der Reichtum der kapitalistischen Gesellschaft ist eine Summe von Preisen oder Werten, er ist bloße Quantität. Auch diese wirtschaftliche Veränderung beeinflußt die Veränderung des Weltbildes. Der aristotelisch-scholastischen Physik ist die Welt ein System qualitativ verschiedener Dinge; die mechanistische Naturauffassung betrachtet die Welt als eine Summe von Massen, Kräften, Energien.
Die mechanistische Naturauffassung will alles Geschehen auf Bewegungen von Massen zurückführen. Die qualitativen Verschiedenheiten der Körper verschwinden: die Körper sind nur noch Massen, meßbar an der Beschleunigung, die gleiche Kräfte ihnen verleihen. Ebenso verschwinden die qualitativen Verschiedenheiten der Natur Vorgänge: Wärme, Licht, Elektrizität, von uns so verschieden empfunden, sind allesamt nur Mengen von Energie, meßbar an dem allen Energien gemeinsamen Maß, umrechenbar in Quanta mechanischer Arbeit. Schon Galilei verkündet, der Physiker dürfe nur den mathematisch erfaßbaren Eigenschaften der Körper seine Aufmerksamkeit schenken; in der vollendeten mechanistischen Auffassung der Natur sind alle qualitativen Verschiedenheiten auf bloße Quantitäten zurückgeführt gedacht. Die qualitative Beschaffenheit ist bloß in der Erscheinung. Ihr Wesen ist ein Quantum eines qualitativ ununterschiedenen Substrats.
Der Kapitalismus hat die Menschen rechnen gelehrt. Die Qualität des Erzeugnisses interessiert den Warenerzeuger nicht; er liefert sie, wie der Markt sie begehrt. Was ihn interessiert sind nur Quantitäten: Marktpreis und Kostpreis, Kapital und Profit. Erst in der kapitalistischen Welt haben es die Menschen lernen müssen, alle Güter in Marktpreise, alle Arbeit in Kostenpreise, den ganzen Erfolg ihrer Lebensarbeit in Profitgrößen umzurechnen. Erst dadurch wurden die Menschen einer Naturauffassung geneigt, die alle qualitative Individualität in bloße Quanta auflöst.
Nur das Meßbare, Rechenbare gilt. Und zwar, da alles Geschehen als Bewegung gedacht werden soll, nur diejenigen meßbaren Eigenschaften der Körper, die durch den Tastsinn wahrgenommen werden; nur ihr durch die Waage feststellbares Gewicht. Goethe, dessen ganzes Wesen sich immer wieder gegen die mechanistische Naturauffassung aufbäumt, beschreibt sie sehr zutreffend:
Daran erkenn’ ich den gelehrten Herrn! |
Und er weist auf die letzte Wurzel dieser Naturauffassung hin, indem er fortfährt:
Was ihr nicht münzt, das, meint ihr, gelte nicht. |
Das ganze Wesen des Kapitalismus, dem die Güter nur noch Geldwerte, die menschliche Arbeitskraft selbst eine Ware, Lebensziel und Lebenswerk für die einen nur noch Profit und für die anderen nur noch Lohn sind, – es spiegelt sich in einer Naturauffassung, die alle qualitative Beschaffenheit in bloße Quantitäten aufzulösen unternimmt.
Wie die gewaltige Umwälzung der Arbeitsverfahren und der Arbeitsmittel, die der Kapitalismus vollbracht hat, das unverlierbare Erbe jeder künftigen Gesellschaftsordnung sein wird, so werden auch die großen Errungenschaften der Naturwissenschaft des kapitalistischen Zeitalters kommenden Geschlechtern unverloren bleiben. Aber unsere Bewunderung jener großen Leistungen des Menschengeistes darf uns ihre geschichtliche Bedingtheit nicht übersehen lassen. Von dem Werke der großen Naturforscher vom 16. bis zum 19. Jahrhundert wird gewiß unendlich viel der Menschheit bleiben als ein Besitz für immer; aber auch sie waren Kinder ihrer Zeit, auch ihr Weltbild trägt die Züge ihres Zeitalters, – Züge, die neuen Geschlechtern nicht mehr entsprechen können. Es war das Weltbild des emporsteigenden Kapitalismus, der nach dem Beispiel seiner eigenen Wirtschaftsordnung die Ordnung der Natur gedacht hat.
1. Die Augustinische Lehre von der Gnadenwahl ist Determinismus, religiös verkleidet. Im 13. und 14. Jahrhundert ist der scotistische Indeterminismus die Idee der individualistischen, antiautoritären Revolution. Drei Jahrhunderte später kehren sich die Parteirollen um: im 17. Jahrhundert ist gerade die Gnadenwahllehre, in Calvins Fassung, die wuchtigste Waffe der bürgerlich-individualistischen Revolution. Im 18. Jahrhundert wird wieder umgekehrt, – bei Kant und Schiller, – die Lehre von der Willensfreiheit zur Verbündeten der Forderung nach bürgerlicher Freiheit im Staat. Im 19. Jahrhundert tauschen Determinismus und Indeterminismus abermals die Rollen. Der Determinismus, der der historischen Rechtsschule und der Hegelschen Rechten noch als Waffe der Reaktion dient, wird im Marxismus wieder zur Waffe der Revolution.
2. Alles mittelalterliche Denken ist kirchlich gefärbt. Die neue Ideenwelt, die der Frühkapitalismus emporträgt, bildet sich daher zuerst teils im Kampfe gegen die Kirche, teils in der Fortbildung der kirchlichen Organisation und Lehre selbst. Der Einfluß des Frühkapitalismus auf die Kirche ist festzustellen nicht nur in der geldwirtschaftlichen Umbildung der kirchlichen Herrschaftsorganisation selbst, nicht nur in der Anpassung ihrer Propaganda-Organisation an die Bedürfnisse der neuerstehenden städtischen Volksmassen (Bettelorden!), sondern auch in der individualistischen Fortbildung des religiösen Fühlens (Franziskus v. Assisi), der Scholastik (Thomas v. Aquino), der christlichen Kunst (Dante, Giotto). Der Sitz aller dieser Bewegungen sind im 12. und 13. Jahrhundert die Mittelmeerländer, die die frühkapitalistische Entwicklung am schnellsten zurückgelegt haben: Italien, Südfrankreich, Spanien. Dort entstehen sowohl die ersten kirchenfeindlichen Bewegungen (Arnold v. Brescia, Waldenser, Albigenser), dort innerhalb der Kirche selbst die Bettelorden, die neuen Strömungen christlichen Empfindens, christlicher Wissenschaft und Kunst. Allmählich verschiebt sich der Schwerpunkt der wirtschaftlichen wie der geistigen Entwicklung aus den Mittelmeerländern an die atlantische Küste. Im 14. Jahrhundert schon fällt die Führung an England: sowohl die Führung der romfeindlichen Bewegung (Wiclif) als auch die Führung in der Umbildung der kirchlichen Lehre selbst (Duns Scotus, Occam). Doch ist der Zusammenhang mit der älteren italienischen Bewegung noch darin sichtbar, daß auch auf englischem Boden Franziskaner Träger der individualistischen Fortbildung der kirchlichen Lehre sind. Weshalb später die bürgerliche Aufklärung der jedes geschichtlichen Verständnis versagt war, diesen ganzen Kampf, in dem doch die Grundlagen ihrer eigenen Weltauffassung entstanden sind, für ein „Mönchsgezänk“ der Franziskaner mit den Dominikanern hielt!
Zuletzt aktualisiert am 3.8.2008