Otto Bauer

Die österreichische Revolution


Dritter Abschnitt
Die Vorherrschaft der Arbeiterklasse

§ 12. Der Staat und die Arbeiterklasse


Literatur:

Berichte der Parteivertretung der sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschösterreichs an die Parteitage 1919 und 1920. – Stärke und Leistungsfähigkeit der Gewerkschaften Deutschösterreichs im Jahre 1919, Die Gewerkschaft, 1920.

Über die Siedlungsbewegung: Neurath, Gildensozialismus, Klassenkampf, Vollsozialisierung, Anhang: Siedlungs-, Wohnungs- und Baugilde Österreichs, Dresden 1922. – Ellenbogen, Fortschritte der Gemeinwirtschaft in Österreich, Wien 1922.

Ausführungen des Unterstaatssekretärs für Unterricht über den Stand der Schulreform in den Sitzungen des Ausschusses für Erziehung und Unterricht am 22. April, 23. Juli, 22. Oktober 1919, 12. Februar und 15. Juli 1920. – Glöckel, Schulreform und Volksbildung in der Republik, Wien 1919. – Burger, Bilanz der Glöckelschen Schulreform, Monatshefte für pädagogische Reform, 1920. – Lehmann, Deutschösterreich bei Aufbau und Abbau, Deutsche Schule, 1922. – Volkserziehung, Zeitschrift des Unterrichtsamtes, Wien 1919ff.



Die Revolution hatte den militärischen Herrschaftsapparat, der die Arbeiterklasse niedergehalten hatte, zerschlagen. Die Arbeiterklasse war frei geworden. Keine bewaffnete Gewalt hielt das Proletariat nieder. Aber die Revolution hatte zugleich auch das alte österreichisch-ungarische Wirtschaftsgebiet aufgelöst. Sie hatte damit Deutschösterreich in furchtbares Elend, in drückende Abhängigkeit vom Auslande gestürzt. Das war der zwiefache innere Widerspruch der deutschösterreichischen Revolution: der Widerspruch zwischen der starken politischen Macht der Arbeiterklasse und ihrem furchtbaren wirtschaftlichen Elend; der Widerspruch zwischen der Freiheit der Arbeiterklasse im Innern und ihrer drückenden Abhängigkeit von dem kapitalistischen Ausland.

Dieser Widerspruch konnte nur gelöst werden durch die Selbstbeschränkung des Proletariats; nur dadurch, daß sich das Proletariat selbst, aus eigener Erkenntnis und eigenem Willen, im Gebrauche seiner Freiheit, im Gebrauche seiner Macht die Selbstbeschränkung auferlegte, die notwendig war, wenn es nicht in einen Konflikt mit dem Ausland geraten sollte, der die Hungerkatastrophe, die Invasion, den Untergang der jungen Freiheit herbeigeführt hätte.

Die Eisenbahner, die Arbeiter der lebensnotwendigen Betriebe hätten dem Staat durch große Massenausstände alles, was sie nur begehrten, aufzwingen können. Es gab ja keine Gewalt, sie zur Versehung ihres Dienstes zu zwingen; keine Technische Nothilfe, ihre Arbeitskraft zu ersetzen. Keine Gewalt, sondern nur eigene Einsicht konnte sie dazu bestimmen, ihre Forderungen darauf zu beschränken, was der arme Staat leisten konnte, ohne die ganze Volkswirtschaft zu zerstören.

In den Kasernen war die tatsächliche Macht nicht in den Händen der Offiziere, sondern in den Händen der Soldatenräte. Keine militärische Zwangsgewalt stellte die Volkswehr in den Dienst der Koalitionsregierung. Nur solange Soldatenräte und Volkswehrmänner überzeugt waren, daß der Weg der Koalitionsregierung der allein mögliche, der notwendige war, stellte die von revolutionärem Geist, von proletarischem Klassenbewußtsein erfüllte Volkswehr ihre Waffen in den Dienst der Regierung.

Arbeiter und Soldaten hätten jeden Tag die Diktatur des Proletariats aufrichten können. Es gab keine Gewalt, sie daran zu hindern. Nur ihre eigene Einsicht, daß dem roten Terror unter den gegebenen internationalen Bedingungen unvermeidlich der weiße Terror folgen werde, konnte sie vor dieser Versuchung bewahren.

Jede Revolution hat ihren Gang gegen Massen verteidigen müssen, die, von revolutionären Illusionen erfüllt, von revolutionären Leidenschaften getrieben, über das unter den gegebenen sozialen Bedingungen Mögliche, über das unter den gegebenen historischen Bedingungen Erreichbare und Behauptbare hinauszustürmen versuchten. Aber die Koalitionsregierung der deutschösterreichischen Revolution besaß keine Gewaltmittel, von revolutionären Leidenschaften erfüllte Massen niederzuwerfen. Die deutschösterreichische Revolution mußte in Hungersnot und Invasion untergehen, wenn sich die revolutionären Massen nicht selbst die Beschränkung auferlegten, sich mit dem wirtschaftlich Möglichen, mit dem unter den gegebenen internationalen Machtverhältnissen Erreichbaren und Behauptbaren zu begnügen.

Das war das eigentliche, das schwierigste Problem der Revolution: hungernde, verzweifelnde, von allen Leidenschaften, die der Krieg und die Revolution aufgewühlt hatten, bewegte Massen nicht mit Gewaltmitteln niederzuhalten, sondern mit geistigen Mitteln dazu zu bestimmen, daß sie aus freiem, aus eigener Erkenntnis stammenden Entschlüsse die Grenzen nicht überschreiten, die das wirtschaftliche Elend und die wirtschaftliche und militärische Ohnmacht des Landes der Revolution setzten.

Das war die Eigenart des Regierens der Revolutionsregierung: sie konnte nicht, wie alle Regierungen vor und nach ihr, regieren durch Gewalt, die die Regierten im Gehorsam erhält; sie konnte nur mit geistigen Mitteln regieren, regieren mittels der Erweckung der Einsicht der Massen, mittels des Appells an ihr Verständnis der Lage des Landes, mittels des Appells an ihr Verantwortlichkeitssgefühl.

Konnte die Regierung nur mit geistigen Mitteln die Massen führen, so konnte sie sie nur durch die großen gesellschaftlichen Organisationen führen. Dies setzte voraus, daß die Regierung im engsten Einvernehmen mit den Organisationen handelte, keine wichtige Regierungshandlung ohne Einvernehmen mit ihnen setzte. Nur der Einfluß der Soldatenräte auf die Wehrmänner sicherte den Befehlen des Staatssekretärs für Heerwesen Gehorsam, darum konnte der Staatssekretär für Heerwesen seine Regierungsgeschäfte nicht anders führen als im ständigen Einvernehmen mit den Soldatenräten. Nur der Einfluß der Gewerkschaften und der Personalvertretungen der Eisenbahner, der Postler, der Telegraphen- und Telephonangestellten verbürgte die ungestörte Aufrechterhaltung des Verkehrs; darum konnte der Staatssekretär für Verkehrswesen sein Amt nicht anders verwalten als im engsten Einvernehmen mit den Gewerkschaften und Personalvertretungen. Wenn die Nahrungsmittel-, die Kohlenzuschübe stockten, wenn sich die Arbeiter bald da, bald dort gegen die furchtbare wirtschaftliche Not auflehnten, dann konnte nur der Arbeiterrat die erregten Massen beruhigen; der Staatssekretär für Inneres konnte daher seine Amtsgeschäfte nicht anders führen als im engsten Einvernehmen mit den Arbeiterräten. Ebenso konnte das Staatsamt für soziale Verwaltung nur im engsten Einvernehmen mit den Gewerkschaften, das Staatsamt für Volksernährung nur im engsten Einvernehmen mit den Konsumgenossenschaften verwaltet werden. So gewannen die Organisationen bestimmenden Einfluß auf die ganze Staatsverwaltung. Es war die zwingende Maxime dieses Regierens: keine Regierungshandlung zu :setzen ohne Einvernehmen mit der Organisation der durch diese Regierungshandlung unmittelbar Betroffenen.

Öamit aber veränderte sich auch die Funktion der Organisationen. Entschieden die Organisationen über alle wichtigen Regierungshandlungen mit, so mußten sie diese Regierungshandlungen vor der Masse verantworten. Setzten die Organisationen in täglichen Verhandlungen mit der Regierung durch, was möglich, was erreichbar war, so lag es ihnen ob, in den Massen Forderungen nach Unmöglichem, Unerreichbarem abzuwehren. War einerseits die Regierung zum Vollzugsorgan des Willens der Organisationen geworden, so mußten anderseits die Organisationen zu den Organen werden, durch die die Regierung die Massen beherrschte. So waren die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften, die Soldatenräte und die Arbeiterräte Teilhaber an der Regierungsgewalt und Organe der Regierungsgewalt zugleich.

Die Struktur der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften hatte sich vollständig verändert. Die Revolution führte ihnen neue Massen zu. Die Sozialdemokratie hatte im .Jahre 1913 in den deutschen Gebieten Innerösterreichs 91.900 Mitglieder. Im Jahre 1919 waren es 332.391. Die Gewerkschaften hatten in demselben Gebiet im Jahre 1913 253.137 Mitglieder, im Jahre 1919 772.146. Zwei Drittel der Partei- und der Gewerkschaftsmitgliedschaft waren neu gewonnene, erst nach der Oktoberrevolution zu den alten Kaders gestoßene Genossen. Die Gleichgültigen, die vor dem Kriege an der Arbeiterbewegung keinen Anteil genommen; die Unterwürfigen, die der Fabriksfeudalismus vor dem Kriege in die gelben Gewerkschaften hineingezwungen hatte; die Angestellten, die sich vor dem Kriege von den Arbeitern abgesondert hielten – sie alle waren nun der Partei und den Gewerkschaften zugeströmt. Politisch , und gewerkschaftlich unerfahrene und ungeschulte Massen füllten die Organisationen.

Mit der Struktur hatte sich aber auch die Funktion der Partei und der Gewerkschaften verändert. Vor dem Kriege und während des Krieges war CS unsere wichtigste Aufgabe, die Massen zu revolutionieren: die Unterwürfigen aus dem ererbten Untertanenglauben an die Obrigkeit im Staat und in der Fabrik herauszureißen, die Kleinmütigen zu der Erkenntnis der Kraft, die die Organisation der Masse verleiht, zu führen, in den Zaghaften Kampfeswillen, Mut und Opferwilligkeit zu wecken. In der Revolution und nach der Revolution fiel uns eine ganz andere, eine geradezu entgegengesetzte Aufgabe zu. Nun galt es, die Massen, die der Zusammenbruch des alten Herrschaftsapparats mit überschwenglichem Kraftbewußtsein erfüllt hatte, besonnenen Gebrauch ihrer Kraft zu lehren. Nun galt es, zu verhüten, daß die neuerrungene Freiheit der durch vierjährigen Krieg verrohten Massen zu zügelloser Gewalttätigkeit entarte; daß die furchtbare Not der Massen sie zu blindem, selbstmörderischem Darauf losschlagen verführe; daß die durch die Revolution hervorgerufenen Rlusionen die Massen zu Taten, die sie selbst zum Untergang geführt hätten, verleiten. Wir mußten vor der Revolution „Hetzer“„ wir mußten in der und nach der Revolution „Bremser“ sein. Die neue Aufgabe war leicht, wo wir unseren alten, gut geschulten, disziplinierten„ in jahrzehntelangen Kämpfen mit Vertrauen zur Führerschaft erfüllten Kaders gegenüberstanden; sie wurde ungleich schwerer, wo wir den neugewonnenen Massen gegenübertreten mußten, denen noch jede politische und gewerkschaftliche Schulung fehlte.

Das nun war der Mechanismus des Regierens: Alle wichtigen Regierungshandlungen wurden von den sozialdemokratischen Mitgliedern der Regierung mit den Leitern der großen proletarischen Organisationen„ mit den führenden Organen der Partei und der Gewerkschaften, der Arbeiter- und der Soldatenräte vereinbart. Den sozialdemokratischen Regierungsmitgliedern fiel dann die Aufgabe zu, das Vereinbarte im Schöße der Koalitionsregierung und in der Nationalversammlung durchzusetzen. Die Leiter der proletarischen Organisationen aber mußten für den Regierungskurs, den sie mit den Regierungsmitgliedern vereinbart hatten„ das Einverständnis der Masse gewinnen, die Masse selbst zum Verzicht auf die über das Vereinbarte hinaus drängenden Forderungen bewegen. Die Leiter der proletarischen Organisationen mußten zuerst Verständnis und Zustimmung der Vertrauensmänner gewinnen: der Partei- und der Gewerkschaftsvertrauensmänner, der Arbeiter- und der Soldatenräte. Und diese Vertrauensmänner erst hatten dann die schwierigste und die wichtigste Arbeit zu leisten: in Betriebs- und Kasernenversammlungen vor der Masse selbst die Politik der Organisationen durchzusetzen. Da stand vor der wild erregten Masse ein Parieivertrauensmann, ein Betriebsrat, ein Soldatenrat auf der Rednertribüne. Die Masse war unzufrieden. Die Masse forderte mehr, als der Vertrauensmann bringen konnte. Die Masse schrie nach gewaltsamer Entscheidung. Der Vertrauensmann sprach von der wirtschaftlichen Not der Republik, von ihrer Abhängigkeit vom Ausland, von den Gefahren des Konflikts mit den übermächtigen ausländischen Kapitalsmächten. Hunger, Verzweiflung, Leidenschaft im Saal; Einsicht in das wirtschaftlich Mögliche, Erkenntnis der internationalen Bedingtheit der Revolution. Mahnung zur Besonnenheit und Verantwortlichkeitsgefühl auf der Rednertribüne. Es war ein schwerer Kampf; ein Kampf, der an die Vertrauensmänner nicht nur die höchsten intellektuellen, sondern vor allem die höchsten moralischen Anforderungen stellte: die Fähigkeit, sich um der großen Sache willen den eigenen Genossen furchtlos entgegenzustellen, Beschimpfungen, Anklagen, zuweilen selbst Bedrohungen, ja Mißhandlungen durch die erregten Menschen zu ertragen und doch unerschüttert, in zähem Kampfe gegen Verzweiflung urvd Erregung das als notwendig Erkannte schließlich durchzusetzen. Friedrich Adler, dem seine revolutionäre Tat höchste Popularität geworben, hat in solcher Stunde gesagt: „Die Popularität ist ein Kapital, das nur dazu verwendet werden darf, konsumiert zu werden.“ Nach dieser höchsten moralischen Maxime haben nicht nur die paar Dutzend Partei- und Gewerkschaftsbeamten, nein, nach ihr haben viele Tausende schlichter Vertrauensmänner, Betriebsräte, Arbeiter- und Soldatenräte gehandelt.

In solchen Betriebs- und Kasernenversammlungen ist die große Versuchung des Bolschewismus abgewehrt worden. In solchen Betriebsversammlungen ist allmählich die Wiederherstellung der aufgelösten Arbeitsdisziplin durchgesetzt worden. In solchen Betriebsversammlungen wurden wilde Streiks beigelegt, wurden, wenn Hunger und Erregung die Masse zu Gewalttaten und Ausschreitungen verleitet hatte, Disziplin und Ordnung wiederhergestellt. Die Geschichte der Betriebs- und Kasernenversammlungen – sie ist die innere, geistige Geschichte der deutschösterreichischen Revolution; der Bourgeoisie gegenüber, die diesen großen Prozeß der geistigen Selbstbeherrschung, Selbstüberwindung der Arbeiterklasse kaum bemerkt, gewiß nie verstanden hat, ihre Geheimgeschichte.

In der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 ist die Demokratie definiert worden als das System des Regierens im Einvernehmen mit den Regierten. Nie und nirgends ist die Demokratie in diesem Sinne vollkommener verwirklicht worden als in dieser ersten Phase der deutschösterreichischen Revolution. Denn ihre Regierung, alle Gewaltmittel gegen die Regierten entbehrend, konnte gar nicht anders regieren, als indem sie sich täglich und stündlich das Einvernehmen mit den Regierten mühevoll erarbeitete. Es war die Schwäche der aus der Revolution hervorgegangenen Staatsgewalt, die ihr diese Regierungsmethoden aufzwang. Sie mußte mit diesen Methoden zu regieren versuchen unter den denkbar ungünstigsten Bedingungen: in einer Zeit außerordentlich schwerer Massennot, in einer Zeit außerordentlich großer Massenerregung, in einer Zeit, in der ein großer Teil der Massen durch vierjährigen Krieg demoralisiert war. Der Versuch konnte nur um den Preis manches schweren Opfers, auch manches Opfers Kies Intellekts, gelingen. Aber er ist gelungen. Daß er gelungen ist, ist das ^menschlich Größte an der Geschichte der deutschösterreichischen Revolution.

Es ist wichtig, den Inhalt und Sinn der Regierungsmethoden, durch die dies gelungen ist, noch näher zu bestimmen.

Die parlamentarische Demokratie sucht die Übereinstimmung zwischen den Regierenden und den Regierten zu sichern durch das Mittel der Wahl. Sie glaubt, diese Übereinstimmung sei gesichert, wenn nur die Volksgesamtheit in jedem dritten oder vierten Jahr zur Wahl des Parlaments berufen wird, das die Zusammensetzung der Regierung bestimmt und die Tätigkeit der Regierung kontrolliert. Die Arbeiterklasse hat es überall erfahren, daß dieser Glaube eine Illusion ist; daß die Macht der Bourgeoisie über die Presse, über die Kanzel, über den Wahlapparat es ihr ermöglicht, den Ausgang der Wahlen. so zu bestimmen, daß die aus allgemeinen Volkswahlen hervorgehende Regierung zur Klassenregierung der Bourgeoisie, zur Regierung einer Minderheit des Volkes wird. Darum zieht sich durch die ganze revolutionäre Bewegung, die der große Krieg hervorgerufen hat, überall der Kampf der Arbeiterklasse gegen die bloß parlamentarische Demokratie. Aus diesem Kampf geht die russische Idee des Sowjetstaates ebenso hervor wie die britische Idee des Gildenstaates. So grundverschieden beide Ideen sind, in beiden sucht das Proletariat nach einem Mittel, die Übereinstimmung zwischen den Regierenden und den Regierten vollkommener zu sichern„ als sie durch die bloß parlamentarische Demokratie gesichert werden kann.

In der modernen kapitalistischen Gesellschaft hat sich neben der politischen Demokratie, die in der demokratischen Organisation des Staates und der Gemeinden verkörpert ist, die industrielle Demokratie entwickelt„ die in den großen demokratisch organisierten Gewerkschaften und Konsumvereinen der Arbeiter, in den Berufsorganisationen der Angestellten und Beamten, in den Genossenschaften der Bauern lebt. Die politische Demokratie kennt nur den Staatsbürger schlechthin; sie sieht von der wirtschaftlichen Stellung, von dem Beruf, von der gesellschaftlichen Funktion des Staatsbürgers ab, sie beruft alle Staatsbürger ohije Unterschied zur Wahlurne, sie gliedert sie nicht anders als in territorial abgegrenzte Wahlbezirke. Die industrielle Demokratie dagegen gliedert die Menschen nach ihren Berufen, nach ihren Arbeitsstätten, nach ihrer Funktion in der Volkswirtschaft; nach ihrer .gesellschaftlichen Funktion faßt sie sie zu Betriebs-, Berufs-, Industrieorganisationen zusammen. Im Kampfe gegen die bloß parlamentarische Demokratie hat nun die Arbeiterklasse überall, wenngleich in sehr verschiedenen Formen, der politischen Demokratie, die die Staatsbürger ohne Unterschied zur Bildung des Staatswillens beruft, den Gedanken der funktionellen Demokratie entgegengestellt, das heißt die Forderung, daß die Regierung kontrolliert werde durch die nach Beruf oder Arbeitsstätte, also nach ihrer gesellschaftlichen und volkswirtschaftlichen Funktion zusammengefaßten und gegliederten Staatsbürger. Fordert die politische Demokratie, daß die Regierung im Einvernehmen mit dem Parlament, das alle paar Jahre einmal von der Volksgesamtheit gewählt wird, regiere, so fordert die funktionelle Demokratie, daß die Regierung in jedem einzelnen Zweige ihrer Wirksamkeit im ständigen Einvernehmen mit der organisierten Gesamtheit der nach ihrem Beruf oder ihrer Betriebsstätte, nach ihrer gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Funktion von diesem Zweige des Regierens unmittelbar betroffenen Staatsbürger bleibe. Eine Kombination der politischen und der funktionellen Demokratie – das war das Wesen der Regierungspraxis, die der Regierung der Republik durch die aus der Revolution hervorgegangenen Machtverhältnisse aufgezwungen wurde.

Die Bourgeoisie sah in dem starken Einschlag funktioneller Demokratie in der Praxis des Regierens nichts als das Walten illegaler „Nebenregierungen“, nichts als „schleichenden Bolschewismus“. In Wirklichkeit war es nicht nur eine Vertiefung des demokratischen Gedankens der Regierung im Einvernehmen mit den Regierten, war es nicht nur die legale Form der Machtübung und Machterweiterung der Arbeiterklasse, war es nicht nur die Rettung des Landes vor der Gefahr blutiger Katastrophe. Es war mehr. Es war das gewaltigste Mittel der Selbsterziehung der Massen. Es war das Mittel zu völliger Umwälzung des Verhältnisses der Massen zum Staat. Es war das Mittel zur Weckung der Initiative, der fruchtbarsten Selbstbetätigung der Massen.

Zunächst hat das ständige Ringen in den Versammlungen der Partei- und Gewerkschaftsvertrauensmänner, in den Arbeiter- und Soldatenräten, in den Betriebs- und Kasernenversammlungen, in denen das Einvernehmen der Regierung mit den Regierten Tag für Tag in harten Kämpfen erarbeitet werden mußte, den Gesichtskreis der Arbeitermassen bedeutend erweitert. In diesen leidenschaftserfüllten Diskussionen mußte es die Masse allmählich erlernen, Geldentwertung und Teuerung aus wirtschaftlichen Gesetzen zu begreifen, die Abhängigkeit der Lebensmittelversorgung und des Arbeitsmarktes von internationalen Beziehungen zu verstehen, die Umwälzung im eigenen Lande im Rahmen der internationalen Entwicklung zu sehen. Aber die Betriebs- und Kasernenversammlung mußte nicht nur den intellektuellen Gesichtskreis der Massen erweitern, sondern auch moralische Kräfte in ihnen wirksam machen; sie mußte die Massen dazu führen, ihre Leidenschaften nüchterner Erkenntnis unterzuordnen, ihre Macht mit Besonnenheit, ihre Freiheit mit Verantwortungsbewußtsein zu gebrauchen. Denn nur auf diese Weise war es möglich, das Volk durch die Zeit der schwersten wirtschaftlichen Not und der schwerstem äußeren Gefahren, ohne Gewaltanwendung, ohne Blutvergießen hindurchzuführen.

Damit aber veränderte sich das ganze Verhältnis der Massen zum Staat. Die Massen sahen, daß ihre Organisationen die Staatsregierung beherrschten. Die Massen sahen, daß sich, die Staatsregierung durch die proletarischen Organisationen in ständigem engem Einvernehmen mit den Massen selbst halten mußte. Die Massen sahen, daß sie selbst durch ihre Vertrauensmänner den Kurs der Regierung bestimmen konnten. Die Massen sahen, daß die Staatsregierung die Arbeiterklasse nicht mit Mitteln der Gewalt beherrschen, sondern nur im Einvernehmen mit der Arbeiterklasse den Staat führen konnte. Die Republik – das war den Massen nicht bloß eine Staatsverfassung, in der es keinen Kaiser mehr gibt; sondern eine Staatsordnung, die die Staatsregierung unter den wirksamen Einfluß der proletarischen Organisationen stellt. Die Demokratie – sie war den Massen nicht mehr bloß die Regierung durch Erwählte des allgemeinen Wahlrechtes, sondern die Regierungsmethode, die sich für jeden einzelnen Regierungsakt die Zustimmung der von ihm betroffenen Massen selbst erwerben, erarbeiten mußte. Die Republik hatte den Massen zunächst nur Hungerrationen, nur Arbeitslosigkeit, nur Not und Elend bringen können, sie hatte so manche der überschwenglichen Hoffnungen ihrer Anhänger enttäuschen müssen. Aber sie hatte den Massen die Freiheit gebracht: nicht die Freiheit der Zügellosigkeit, aber die Freiheit, die darin bestand, daß dem Handeln des Proletariats seine Schranke nicht mehr gesetzt war durch eine Gewalt, die ihm entgegenzutreten vermocht hätte, sondern nur noch gesetzt war durch seine eigene Einsicht, dufch sein eigenes Verantwortlichkeitsgefühl, durch den von der eigenen Vernunft geleiteten Willen, zu dem es sich in seinen bewegten Vertrauensmänner- und Betriebs- und Kasernenversammlungen durchrang. Diese Erfahrung war es, die die Arbeiterklasse mit republikanischem Patriotismus erfüllte; die sie befähigte, ohne Auflehnung schwere Not zu leiden und schwere Opfer zu bringen, die eigenen Leidenschaften zu zügeln um der Erhaltung und Befestigung der Republik willen.

Endlich aber wurde der ständige innere Kampf in den Vertrauensmänner- und Betriebs- und Kasernenversammlungen zur Triebkraft stärkster geistiger Bewegung in den Massen. Der Zusammenbruch des Kaisertums hatte alle Autoritäten im Staat und in der Gesellschaft erschüttert. War die älteste und mächtigste von allen Autoritäten gefallen, so sah jeder Vorstand in seinem Büro, jeder Betriebsleiter in seiner Fabrik, ja, selbst jede Hausfrau in ihrer Küche ihre Autorität erschüttert. Die Damen der Bourgeoisie erzählten entrüstet, die Herren spottend die Geschichte von der Köchin, die ihrer Hausfrau zugerufen:

„Ich lasse mir von Ihnen nicht vorschreiben, wie ich kochen soll. Denn jetzt leben wir in der Republik und ich kann besser kochen als Sie.“

Es war zum Spott kein Grund. Denn die Erschütterung des Untertanenglaubens an die überlieferten Autoritäten, das Erwachen so lang in Unterwürfigkeit gehaltener Seelen zum Bewutßsein des eigenen Wertes waren Triebkräfte stärkster geistiger Entwicklung. In den Massenversammlungen, in denen die wichtigsten, folgenschwersten Entscheidungen des staatlichen Lebens der Beratung und dem Beschluß der Massen unterworfen waren, wurde das erwachte Selbstbewußtsein der Massen gewaltig gestärkt. Die geweckte geistige Regsamkeit der Massen drängte nach Betätigung. Und die Republik erschloß dem Betätigungsdrang der Massen viele neue Arbeitsfelder.

In den ersten Monaten nach der Oktoberrevolution fand der Betätigungsdrang der Massen seine Befriedigung in der wirtschaftlichen Aktion der Arbeiterräte. Aber diese Aktion, von elementarer Massenbewegung getragen, sehr oft dilettantisch in der Wahl ihrer Mittel, von dem Wahn, mit bloßer Gewalt die Gesetze der Volkswirtschaft unwirksam machen zu können, erfüllt, konnte die Masse nicht lang befriedigen. Sehr bald erkannten die Arbeiter, daß die Jagd auf kleine Hamsterer, die im Rucksack ein paar Kilogramm Kartoffeln nach Hause trugen, das Elend nicht lindern, die Absperrung der Bezirke gegeneinander das Elend nur verschärfen konnte. Allmählich verlor diese Aktion der Arbeiterräte an Bedeutung. Desto höher stieg im Frühjahr 1919, in der Zeit des Abwehrkampfes gegen den ungarischen Bolschewismus die politische Bedeutung der Arbeiterräte. Sie verwandelten sich allmählich aus Organen revolutionären Eingriffs in die Wirtschaftsverwaltung in Organe des politischen Klassenkampfes. In derselben Zeit aber entstanden die Betriebsräte. In ihnen fand nun der Drang der Massen nach unmittelbarer sozialer und wirtschaftlicher Betätigung reiche, zweckmäßigere Befriedigung. Viele tausende Arbeiter leisteten in den Betriebsräten fruchtbare soziale und wirtschaftliche Arbeit für die Arbeiterschaft ihrer Betriebe; und da sie sie in engster Verbindung mit der Arbeiterschaft ihres Betriebes, unter der täglichen Kontrolle der Betriebsversammlung leisten mußten, war so die ganze Masse der Arbeiter ständig mit den Problemen dieser sozialen und wirtschaftlichen Arbeit beschäftigt.

Neben der Rätebewegung erschloß die Demokratisierung der Verwaltung dem Drang der Massen nach Selbstbetätigung neue Arbeitsgebiete. Die Revolution hob das Privilegienwahlrecht, aus dem, die Gemeindevertretungen hervorgegangen waren, auf. Das allgemeine Wahlrecht wälzte die Zusammensetzung der Gemeindevertretungen um. In 236 Gemeinden eroberte die Soziajdemokratie die Mehrheit in der Gemeindevertretung, in 103 Gemeinden die Hälfte der Gemeinderatssitze, in 1.050 Gemeinden wurden Sozialdemokraten in die Gemeindevertretung gewählt. Hunderte Schlosser und Tischler, Eisenbahnschaffner und Forstarbeiter, Industrieangestellte und Volksschullehrer übernahmen nun die Ämter von Bürgermeistern und Gemeindevorstehern, die bisher von Hausbesitzern, Rechtsanwälten, Kaufleuten versehen worden waren. Es war eine Revolution, was sich da in den Gemeindestuben der Städte und Industriedörfer vollzog: die Klasse, die die Gemeinden bisher beherrscht hatte, wurde entthront und eine neue Klasse übernahm die Herrschaft. Die Arbeiterschaft mußte die Verwaltung der Gemeinden unter den schwierigsten Bedingungen übernehmen; denn Krieg und Geldentwertung hatten die Gemeindefinanzen zerrüttet. Die Arbeiter mußten die Gemeindeverwaltung übernehmen, ohne je Gelegenheit gehabt zu haben, die Führung der Verwaltungsgeschäfte zu erlernen; denn das Privilegienwahlrecht hatte die Arbeiter von den Gemeindestuben ferngehalten. Es ist daher nicht erstaunlich, daß in den Anfängen so manche Fehler in der Auswahl der leitenden Personen und in der Führung der Geschäfte begangen wurden. Aber ein gewaltiges Gebiet der Schulung, der Selbsterziehung der Arbeiterklasse war mit der Eroberung der Gemeinden errungen; die Schulung einer neuen, aufsteigenden Klasse zur Herrschaftsübung ist mit einzelnen Mißgriffen nicht zu teuer bezahlt. Zum erstenmal hatten tausende Arbeiter die Möglichkeit, die Führung öffentlicher Vexwaltungsgeschäfte zu erlernen. Und da sie ihre Geschäfte unter der ständigen Kontrolle der lokalen Parteiorganisationen führen mußten, wurden die Sorgen der Gemeindeverwaltung zu Sorgen der gesamten organisierten Arbeiterschaft; nicht nur die auserlesenen Funktionäre, sondern die ganze Masse der tätigen Genossen wurde mit den Problemen der öffentlichen Lokalverwaltung beschäftigt, mit ihnen vertraut. So erweiterte auch dieser neue Betätigungskreis das Gesichtsfeld der Massen, auch er vertiefte ihren Einblick in die Bedingungen und in die Verantwortlichkeit öffentlicher Verwaltung.

Die Basis dieser ganzen eifrigen Selbstbetätigung der Massen war der Achtstundentag. Er gab zehntausenden Arbeitern die Muße, die ihnen erst die Betätigung in Gemeinde- und Bezirksvertretungen, in Ortsschulräten und Fürsorgeräten, in Gemeinde- und Bezirkswirtschaftsämtern, in den Aufbringungskommissionen, in den Wohnungsanforderungs- und Wohnungszuweisungskommissionen ermöglichte. Der Achtstundentag war aber zugleich auch die Basis zu anderen Formen der Selbstbetätigung der Masse. Die Masse versuchte es, die errungenen Mußestunden auszunützen, um unmittelbar die wirtschaftliche Not zu bekämpfen. Schon während des Krieges war eine Kleingartenbewegung entstanden: die Arbeiter begannen den Boden rings um die Städte und Industrieorte urbar zu machen, auf ihm Gemüse zu bauen und Kleintiere zu züchten. Der Achtstundentag gab dieser Bewegung neuen Anstoß; Tausende benützten die eroberten Mußestunden zur Arbeit im Schrebergarten. So wurde Wien allmählich von 60.000 Kleingärten umgürtet. Die Wohnungsnot drängte weiter: die Kleingärtner begannen in ihren Gärten auch Wohnhütten zu bauen. Aus solchen vereinzelten Versuchen ging schließlich die Siedlerbewegung hervor. Siedlergenossenschaften entstanden, die die hohen Kosten des Wohnungsbaus dadurch zu verkleinern unternahmen, daß die Siedler selbst die Verpflichtung übernahmen, ihre durch den Achtstundentag freigesetzte Arbeitszeit zur Mitarbeit am Bau auszunützen. Allmählich wuchs so aus der Initiative der Massen selbst ein ganzes System gemeinnütziger Bautätigkeit hervor. Die Siedlergenossenschaften bauen Häusergruppen von Einfamilienhäusern. Die Bauarbeit wird teils von den Siedlern selbst neben ihrer Berufsarbeit geleistet, teils vom „Grundstein“, der vom Bauarbeiterverband gegründeten Produktivgenossenschaft der Bauarbeiter. Das Baubüro der „Siedlungs-, Wohnungs- und Baugilde“, in der sich die Siedlergenossenschaften mit den Bauarbeitern vereinigten, stellt die Baupläne bei und leitet den Bau. Die vom Staat, der Gemeinde Wien und dem Hauptverband der Siedlungsgenossenschaften begründete „Gemeinwirtschaftliche Siedlungs- und Baustoffanstalt“ liefert die Baustoffe. Staat und Gemeinde decken den verlorenen Bauaufwand. Diese ganze Bewegung ist in vieler Hinsicht bemerkenswert. Ihr Ursprung aus der Initiative der Massen selbst zeigt die Schöpferkraft des durch die Revolution geweckten Betätigungsdrangs der Masse. Ihr Aufbau zeigt die Verknüpfung mannigfacher Formen genossenschaftlicher und gewerkschaftlicher Organisation. Ihre Basierung auf der Arbeitskraft der Siedler selbst zeigt, wie der Achtstundentag in der Fabrik keineswegs die Arbeit auf acht Stunden beschränken muß. Der Arbeiter weigert sich, dem Kapital mehr als acht Stunden zu fronen; aber er nimmt es auf sich, nach der achtstündigen Arbeit im Dienste des Kapitals noch einige Arbeitsstunden für sich selbst im eigenen Kleingarten oder am eigenen Siedlungsbau zu arbeiten. Der Organismus des Arbeiters erträgt nicht mehr als achtstündige Arbeit im ewigen Einerlei des Fabriksaales; aber er verweigert nach den acht Stunden nicht eine andere Arbeit, die unter anderen Bedingungen geleistet wird, andere Muskeln und andere Nerven beansprucht.

Aber nicht nur die wirtschaftliche Not der Zeit gab der Initiative der Massen Inhalt und Ziel. Die geistige Bewegung, die durch die Massen ging, mußte sich auch geistige Ziele setzen. Es war vor allem das große Unternehmen der Schulreform, das dem Betätigungsdrang der Massen höhere, geistige Ziele setzte.

Nach den Februarwahlen hatte Otto Glöckel die Leitung des Staatsamtes für Unterricht übernommen. Er gliederte sofort dem aus juristisch gebildeten Verwaltungsbeamten zusammengesetzten Amte eine aus erfahrenen Schulmännern, an deren Spitze Viktor Fadrus steht, zusammengesetzte Schulreformabteilung an. Sie ging sofort ans Werk. Zwei Aufgaben waren es, die sie sich setzte: einerseits die Umgestaltung der Schulorganisation, anderseits die Umgestaltung der Unterrichtsmethoden.

Das Ziel der neuen Schulorganisation ist die Einheitsschule: alle Kinder vom 6. bis zum 14. Lebensjahr, ohne Unterschied der Klassenzugehörigkeit ihrer Eltern, in einer Einheitsschule. Vom 6. bis zum 10. Lebensjahr die allgemeine Grundschule; vom 11. bis zum 14. Lebensjahr eine Mittelschule für alle. Dann erst die Differenzierung: Fortbildungs- und Fachschulen einerseits, Oberschulen humanistischer und realistischer Richtung anderseits. Zunächst galt es, diesen Organisationsplan praktisch zu erproben. Zu diesem Zweck wurden die alten militärischen Unterrichtsanstalten in Staatserziehungsanstalten umgewandelt. Es ist ein Versuch der Durchbrechung des Bildungsmonopols der besitzenden Klassen: besonders begabte Proletarierkinder werden im 10. Lebensjahr in diese Anstalten aufgenommen und auf Staatskosten zu höherer Bildung geführt. Es ist zugleich ein Versuch zur Erprobung der geplanten neuen Schulorganisation: die neuen Schultypen der Einheitsmittelschule für das Lebensalter vom 11. zum 14. Lebensjahr und der neuen „Deutschen Mittelschule“ wurden hier zuerst praktisch erprobt. Es ist endlich auch eine Stätte zum Studium neuer Unterrichts- und Erziehungsmethoden: die Staatserziehungsanstalten sind zugleich Versuchsschulen für methodische Neuerungen. Die Einheitsmittelschule als Pflichtschule, in den Staatserziehungsanstalten zuerst praktisch erprobt, soll dann allgemein eingeführt werden; den ersten Schritt dazu machte der Wiener Stadtschulrat im Schuljahr 1922/23.

Viel wichtiger als die neue Unterrichtsorganisation ist die neue Unterrichtsmethode. Und da konnte die Reform viel schneller durchgreifen. Die Lehrpläne unserer Volksschulen beruhten noch auf Bestimmungen aus dem Jahre 1883. Nun wurde ein neuer Lehrplan für die Grundschule entworfen, zuerst an 150 Versuchsklassen erprobt, dann vom Schuljahr 1920 an allgemein eingeführt. Arbeitsstatt der Lernschule – das war die Parole. Die Kinder sollen nicht mehr auswendig lernen, was der Lehrer ihnen vorgesprochen hat; sie sollen sich aus eigener Anschauung, eigener Beobachtung, eigener Betätigung, eigener Arbeit das Wissen erarbeiten. Die Gliederung des Unterrichts wird nicht mehr durch das System der Wissenschaften bestimmt, sondern durch die Erlebnisse der Kinder. Die Fessel des Stundenplans ist gesprengt; es gibt keine getrennten Unterrichtsstunden für Sprachlehre, Rechnen, Schreiben mehr. Auf Lehrspaziergängen schauen die Kinder, und um das auf jedem Lehrspaziergang Geschaute gruppiert sich dann der Unterricht. Da werden die Kinder zum Beispiel zu einem Bahnhof geführt. Und wenn sie dann in die Schule zurückgekehrt, wird das Gesehene verarbeitet. Da wird vor allem, was die Kinder auf dem Bahnhof gesehen haben, gezeichnet und modelliert;, eine Schule, die Menschen nicht, für die Studierstube, sondern für die Werkstätte erziehen soll, muß Auge und Hand ausbilden, nicht nur Begriffsbildung und Gedächtnis. Zugleich schreiben wir die Namen der Gegenstände, die wir zeichnen und modellieren; so lernen wir Rechtschreibung. Zwischendurch rechnen wir einmal: Wenn in einem Eisenbahnwagen 30 Sitze sind, wie viele sind im ganzen Zug? Was kostet die Fahrt bis zur nächsten Station? Was würde es kosten, wenn wir alle zusammen führen? So lernen wir multiplizieren. Wohin kann man mit der Bahn fahren? Durch welche Täler, über welche Flüsse fahren wir da? So lernen wir Geographie. Wer ist schon mit der Eisenbahn gefahren? Schreibt nun einmal die Geschichte dieser Fahrt! Es wird eine Aufsatzübung. Wie kommt es, daß die Lokomotive den Zug bewegt? Wir sind schon mitten in der Physik.

Die neue Unterrichtsmethode stellt an Können und Wissen der Lehrer bedeutend höhere Anforderungen als die alte. Die ganze Lehrerschaft mußte umlernen. In Bezirkslehrerkonferenzen wurde die Reform der Unterrichtsmethode vorbereitet. Die Lehrer schlossen sich zu Arbeitsgemeinschaften zusammen, die allmonatlich den Arbeitsplan für den nächsten Monat ausarbeiteten. Fortbildungskurse für die Lehrer wurden eingerichtet. Neues geistiges Leben pulsierte in der Lehrerschaft

Und diese Bewegung griff sofort auch tief in das Volksganze ein. Die Elternvereinigungen und Elternräte sind ein wesentliches Glied im System der Schulreform. Sie stellten zwischen Lehrern und Eltern eine ständige persönliche Beziehung her. Mit großem Eifer suchten und fanden sich die neugegründeten Elternvereinigungen schnell Betätigungsgebiete. Sie sammelten große Beträge, um die Schulen mit den Lehrmitteln für den Arbeitsunterricht, mit Arbeitsstoffen und Werkzeugen, mit Büchern und Bildern auszustatten. Bald gingen sie weiter. Sie besoldeten Lehrer, die den Nachhilfeunterricht für die schwächeren Kinder oder den Förderunterricht für die besonders Begabten übernahmen. Sie bestellten Jugendfürsorgerinnen und Schulpflegerinnen. Die Mitglieder der Elternräte begannen den Schulbesuch zu überwachen; sie gingen von Haus zu Haus und mahnten säumige Eltern, ihre Kinder in die Schule zu schicken.

Alle, denen das Alte, das Überlieferte heilig gilt, sahen diese Revolution in den Schulen mit Mißtrauen und Unbehagen. Als Glöckel die Verpflichtung der Lehrer und Schüler zur Teilnahme an den religiösen Übungen aufhob, begann sich der Klerikalismus offen gegen die Schulreform aufzulehnen. Die Schulreform wurde zum Gegenstand des politischen Kampfes. Desto leidenschaftlicher wurde die Teilnahme breiter Arbeitermassen an ihr.

Das Interesse der Massen für die Erziehungsfragen war geweckt. Es begann nun auch in den Arbeiterorganisationen wirksam zu werden. Die Bewegung der „Kinderfreunde“ erstarkte überaus schnell. In Niederösterreich zum Beispiel zählte der Verein „Kinderfreunde“ 1913 3.000, 1917 3.881 Mitglieder, 1919 schon 18.432, 1920 35.918. In der Zeit der schwersten Not führten vor allem die Fürsorgeeinrichtungen des Vereines, die Kinderausspeisungen in seinen Heimstätten und Horten, seine Erholungsstätten und Ferienkolonien dem Verein die proletarischen Mütter zu. Aber in dem Maße, als das Interesse der Massen für die Erziehungsfragen wuchs, begann sich der Verein aus einem Fürsorgeverein in eine Erziehungsorganisation umzuwandeln. Es ging dabei nicht ohne manches dilettantisch unternommene Experiment ab. Aber alle diese Versuche regten doch viele tausende Arbeiterfrauen zum Nachdenken über Erziehungsfragen an, begannen doch die Erziehung der Proletarierjugend vom Banne alter, überlebter Tradition zu befreien.

So erschloß sich der durch die Revolution geweckte Drang der Massen nach Eigenbetätigung immer neue Wirkungskreise. Zehntausende Menschen, deren Leben vorher nur zwischen dem ewigen Einerlei einer entgeistigten. mechanischen Fabriksarbeit und dem animalischen Dasein in den spärlichen Mußestunden im Familienkreis oder im Wirtshaus geteilt gewesen war, fanden nun in den Organisationen der Partei, der Gewerkschaften und der Genossenschaften, in den Betriebsräten und in den Arbeiterräten, in den Gemeindevertretungen und in den mannigfachen Instituten der kommunalen Selbstverwaltung, in der Kleingärtner- und der Siedlerbewegung, in den Elternvereinen und bei den „Kinderfreunden“ neuen Wirkungskreis und neuen Lebensinhalt. Es ist ein neuer Menschentypus, den diese soziale Selbstbetätigung der Masse hervorbringt.

In den Umsturztagen war der Typus des Revolutionärs der „Heimkehrer“: der durch furchtbarstes Erleben mit wilden Leidenschaften erfüllte heimkehrende Soldat, der mit Gewehr und Handgranate alles Bestehende gewaltsam umstürzen zu können glaubte. Und zu dem Heimkehrer hatte sich der Konjunkturrevolutionär gesellt, der vom Umsturz des Bestehenden Aufstieg und Macht, Stelle, Würde und Einkommen für sich erhoffte. Sehr bald aber gelang es einem ganz anderen, einem intellektuell und moralisch ungleich höher stehenden Menschentypus, die Führung der Bewegung an sich zu ziehen. Das waren jene zehntausende Partei- und Gewerkschaftsvertrauensmänner, Arbeiter-, Betriebs- und Soldatenräte, die in einem Wirken voll größten Verantwortungsbewußtseins die durch die Revolution geweckten Massenenergien, die in revolutionärem Ungestüm die Revolution selbst zu vernichten drohten, zu fruchtbarer Schaffensarbeit überzuleiten verstanden. Das waren jene zehntausende Arbeiter, die in den Gemeinden, in den Genossenschaften aller Arten, in den Erziehungsorganisationen aufbauende Arbeit für ihre Klasse zu leisten lernten. Der Aufstieg dieser geistigen Elite der Arbeiterklasse aus dem Schoße der Masse und die Führung und Erziehung der Masse durch diese ihre aus ihrem Fleisch und Blut hervorgegangene geistige Elite – das ist die eigentliche Errungenschaft der Revolution. Denn die Umwälzung staatlicher und gesellschaftlicher Institutionen ist nicht Selbstzweck; sie bedeutet in der Entwicklung der Völker nur so viel, als sie für die Erweckung, für die innere Wandlung, für die Aufwärtsentwicklung der Menschen selbst bedeutet.

Die Deutschösterreicher waren das herrschende Volk der Habsburgermonarchie gewesen. Als die nationale Revolution der Tschechen, Jugoslawen und Polen die Habsburgermonarchie sprengte, blieb Deutschösterreich in furchtbarster Not und furchtbarster Ohnmacht zurück. Unsere Ohnmacht und unsere Not setzten unserer Revolution unüberwindliche Schranken. Sie konnte ihr nationales Ziel, den Anschluß an Deutschland, nicht erreichen. Sie konnte die soziale Umwälzung nur innerhalb sehr enger Schranken vollziehen. Zur Selbstbescheidung, Selbstbeschränkung gezwungen, blieb sie an heroischen Taten, an dramatischen Episoden, an romantischen Kämpfen überaus arm. Aber gerade die Not und Ohnmacht dieser Revolution begründete ihre eigenartige Größe. Gerade weil Not und Ohnmacht uns hinderten, eine starke revolutionäre Gewalt aufzurichten, konnten wir nur mit geistigen Mitteln die Masse beherrschen. Gerade weil Not und Ohnmacht die Revolution zur Selbstbeschränkung zwangen, mußte die Selbstüberwindung, die Zügelung der Massenleidenschaften durch die Klasseneinsicht, im schwersten geistigen Ringen in der Masse selbst durchgesetzt werden. Diese Beherrschung der Masse mit rein geistigen Mitteln, diese Selbstüberwindung der Masse im rein geistigen Kampfe, sie haben den geistigen Gesichtskreis der Masse erweitert, ihre geistige Regsamkeit geweckt, ihren Selbstbetätigungsdrang aufs höchste gesteigert. Gerade die äußere Armut und Ohnmacht der Revolution ward so zur Ursache tiefschürfender innerer Umwälzung. Die Zehntausende, die in verantwortungsvollem Wirken in den Organisationen und in der Verwaltung überpersönlichen Lebensinhalt fanden; die Hunderttausende, deren Gesichtskreis weit erweitert und deren Gefühl für ihre persönliche Mitverantwortung für das Schicksal ihrer Klasse und ihres Volkes geweckt worden ist, sie zeugen von der Seelen weckenden, Seelen erziehenden Kraft dieser Revolution. Aus vielen müden, im ewigen Einerlei des Überlieferten geistlos dahinlebenden Arbeitstieren sind mitdenkende, mitarbeitende, mitkämpfende, ihrer Mitverantwortung bewußte Persönlichkeiten geworden. Diese Revolution im geistigen Leben der führenden Schicht der Masse ist der Revolution größtes Ergebnis. Denn alle Revolution im Staat und in den Gemeinden, in den Kasernen, in den Betrieben und in den Schulen ist bloßes Mittel, das dem letzten Zweck, der Revolution in den Seelen selbst, dient.

Die ganze Geschichte der Klassenkämpfe des Proletariats ist nicht nur die Geschichte der Umwälzung der Bedingungen, unter denen die Arbeiterschaft lebt, sondern auch die Geschichte der Entwicklung der Arbeiterschaft selbst. Am Anfang dieser Entwicklung war der Arbeiter im Betrieb nichts als ein willenloses Werkzeug in der Hand des Fabriksherrn, in den kargen Mußestunden am Feierabend nichts als ein rohes, erschöpftes Tier. Am Ende dieser Entwicklung muß der Arbeiter zur allseitig entwickelten Persönlichkeit gereift sein, die, zur Selbstregierung ihres Lebens und ihrer Arbeit fähig geworden, keinen Herrn mehr erträgt, weil sie keines Herrn mehr bedarf. Diese Entwicklung vom Arbeitstier zur Persönlichkeit – sie ist die Entwicklung zum Sozialismus. Jede Revolution staatlicher und gesellschaftlicher Institutionen bedeutet für die Entwicklung zum Sozialismus so viel, als sie für die Entwicklung vom Arbeitstier zur Persönlichkeit bedeutet.


Zuletzt aktualisiert am 4.8.2008