Otto Bauer

Die österreichische Revolution


Dritter Abschnitt
Die Vorherrschaft der Arbeiterklasse

§ 11. Die Revolution in den Betrieben


Literatur:

Braunthal, Die Sozialpolitik der Republik, Wien 1919. – Pribram, Die Sozialpolitik im neuen Österreich, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 18. Band. – Der erste Betriebsrätekongreß der Arbeiter und Angestellten der Metallindustrie: Protokoll der Verhandlungen, Wien 1921. – Berichte der Gewerbeinspektoren über ihre Amtstätigkeit, Wien 1920 und 1921. – Niox Chateau, Les conseils d’Entreprise et le controle ouvrier en Autriche, Paris 1923.

Bauer, Der Weg zum Sozialismus, Wien 1919. – Bauer, Die Sozialisierungsaktion im ersten Jahre der Republik, Wien 1919. – Eilenbogen, Sozialisierung in Österreich, Wien 1921. – Eilenbogen, Die Fortschritte der Gemeinwirtschaft in Österreich, Wien 1922. – Inge Debes, Socialisering i Osterrike, Kristiania 1920.



Die Revolution hatte die kapitalistische Produktionsverfassung schwer erschüttert. Die ganze Produktion war auf die Befriedigung des Kriegsbedarfes eingestellt gewesen; als der Krieg zu Ende war, wurden die Maschinen mit einem Schlage stillgesetzt. Die ganze Produktion hatte aus den Kohlenlagern Schlesiens, Mährens und Böhmens die bewegende Energie bezogen; als die Kohlenzuschübe aus der Tschechoslowakei aufhörten, erlosch das Feuer in den Dampfkesseln. Die Arbeitsdisziplin in der Kriegsindustrie war auf die militärische Befehlsgewalt gestützt gewesen; als die Revolution die militärischen Betriebsleiter aus den Fabriken verjagte, lösten sich alle Bande der Fabrikdisziplin auf. Die Kriegsgewalt hatte vier Jahre lang unterernährter Arbeitskraft maßlose Überarbeit aufgezwungen; als die Kriegsgewalt gebrochen war, verweigerten die erschöpften, übermüdeten Nerven und Muskeln den Dienst, dem vierjährigen Mißverhältnis zwischen Ernährung und Arbeitsleistung, zwischen zugeführter und verausgabter Energie folgten als unvermeidliche Reaktion Arbeitsunlust und Rückgang der Arbeitsintensität.

Der Zustand der Auflösung, in den die ganze kapitalistische Produktion geraten war, erschütterte den Glauben an den Kapitalismus. In Rußland war im Verlauf des Jahres 1918 die ganze Industrie nationalisiert und die große Agrarumwälzung vollzogen worden. Im Deutschen Reiche begann im November 1918 die Sozialisierungskommission ihre Arbeit; und in dem stürmereichen Winter von 1918 auf 1919 verkündete die deutsche Regierung immer wieder von Amts wegen, die Sozialisierung sei „auf dem Marsche“. Im Frühjahr 1919 sozialisierte die ungarische Räterepublik die ganze Industrie. Auch die deutschösterreichische Arbeiterschaft forderte in elementarer stürmischer Bewegung ihr Selbstbestimmungsrecht in ihren Produktionsstätten. In einzelnen Fällen – so in dem Donawitzer Werk der Alpinen Montangesellschaft am 7. April 1919 – haben die Arbeiter die Betriebsleiter abgesetzt und ein Direktorium aus ihrer Mitte gewählt, das den Betrieb weiterleiten sollte.

Der Glaube der kapitalistischen Gesellschaft an sich selbst war erschüttert. Die Kriegswirtschaft hatte die kapitalistische Produktion unter dem Kommando der Staatsgewalt in Zwangsverbänden organisiert; mußte jetzt nicht die Arbeiterklasse das Erbe der Militärgewalt antreten, um das große Organisationsgebäude, das dem Kriege gedient hatte, zu sozialistischer Organisation weiterzuentwickeln? Die Finanzen der besiegten Staaten waren in einen Zustand der Zerrüttung geraten, den mit den altgewohnten Mitteln des „Steuerstaates“ zu überwinden nicht möglich erschien; war es nicht unvermeidlich, daß der Staat einen großen Teil der aufgehäuften Privatvermögen an sich zieht, um seinen Haushalt in Ordnung zu bringen? So sah auch die bürgerliche Welt eine „Neue Wirtschaft“ kommen. Die Universitätsprofessoren der Nationalökonomie, unter den Deutschösterreichern vor allen Schumpeter, Grünberg, Lederer, Ammon, Schwiedland, Gelehrte, die aus bürgerlichem Lager kamen, wie Goldscheid und Neurath, schrieben Abhandlungen über die Sozialisierung als die Aufgabe des Tages, sie stellten sich in Wien wie in Berlin, in Leipzig wie in München in den Dienst der Sozialisierungskommissionen, sie arbeiteten Sozialisierungsprojekte aus, sie tadelten nicht selten die Sozialdemokratie, daß sie allzu zaghaft an die große Aufgabe herantrete. Binnen wenigen Monaten entstand eine ganze Sozialisierungsliteratur. Sie war das ideologische Spiegelbild jener tiefen ökonomischen Erschütterung, die die kapitalistische Gesellschaftsordnung in Krieg und Revolution erlitten hatte. Ist auch von den mannigfachen Projekten, die in der Sozialisierungsliteratur der ersten Revolutionsmonate gegeneinander rangen, sehr wenig verwirklicht worden, so hat doch jene tiefe ökonomische Erschütterung, die sich in der Sozialisierungsliteratur spiegelte, praktische, nach Befriedigung drängende Bedürfnisse geschaffen, die tatsächlich die kapitalistische Produktionsverfassung sehr wesentlich umgestaltet und ganz neue Elemente, Keimzellen sozialistischer Zukunftsorganisation, in sie eingefügt haben.

In den Tagen der Oktoberrevolution hatte Ferdinand Hanusch die Leitung des Staatsamtes für soziale Verwaltung übernommen. Im engsten Einvernehmen mit der Gewerkschaftskommission arbeitend, verwandelte er das Staatsamt in ein Exekutivorgan der Gewerkschaften. Mit ebensoviel Besonnenheit wie Tatkraft ging er daran, die praktischen Bedürfnisse der Zeit zu befriedigen

Vorerst stellte die Demobilisierung die nächste Aufgabe. Die zerrüttete Industrie konnte die von der Front heimkehrenden und die aus den stillgelegten Kriegsindustriebetrieben hinausgeschleuderten Arbeitermassen nicht aufnehmen. Die Masse der Arbeitslosen schwoll an. Es galt zunächst, die Rückführung der Arbeitslosen in die Produktionsstätten zu fördern. Schon am 4. November 1918 erließ der Staatsrat zwei Vollzugsanweisungen, von denen die eine die Organisation der Arbeitsvermittlung regelte, die andere die aus Unternehmer- und Arbeitervertretern paritätisch zusammengesetzten Industriellen Bezirkskommissionen als Organe zur Organisierung und Überwachung der Arbeitsvermittlung schuf. In den Industriellen Bezirkskommissionen schuf sich Hanusch Lokalstellen der sozialen Verwaltung, deren Wirkungskreis sehr bald weit über ihre ursprüngliche Aufgabe ausgedehnt werden konnte. Schon zwei Tage später, am 6. November, folgte die Vollzugsanweisung über die staatliche Arbeitslosenunterstützung. Hatte der Staat bis dahin die Fürsorge für die Arbeitslosen den Gewerkschaften und der Armenpflege überlassen, so sicherte er jetzt jedem Arbeitslosen eine Unterstützung aus Staatsmitteln in der Höhe des Krankengeldes, Familienerhaltern überdies Familienzulagen zu; damit wurden nicht nur die Arbeitslosen vor dem physischen und moralischen Untergang bewahrt, es wurde auch der Druck der Arbeitslosen auf die Löhne der Arbeitenden abgeschwächt. Aber sehr bald zeigte es sich, daß in einer Zeit tiefer Zerrüttung der kapitalistischen Produktion die Organisierung der Arbeitsvermittlung und der Arbeitslosenunterstützung nicht hinreichte, daß es tieferer Eingriffe bedurfte.

Viele Unternehmer, durch die Auflösung der gewohnten Produktionsbedingungen und durch die Auflehnung der Arbeiterschaft entmutigt, wendeten keine Mühe auf, ihre Betriebe auf die Friedensproduktion einzustellen, ihren Betrieben Rohstoffe, ihren Waren Absatz zu suchen; sie zogen es vor, ihr Kapital aus der Produktion zurückzuziehen und es in ausländischem Gelde anzulegen, in ausländischen Banken zu deponieren. Es galt also, dieser Sabotage des Unternehmertums entgegenzuwirken, die Unternehmer zur Ausübung ihrer Unternehmerfunktionen zu zwingen. Hinderte man die Unternehmer, ihre Arbeiter zu entlassen, zwang man sie, ihre Arbeiter zu entlohnen, so zwang man sie damit, sich um die Möglichkeit produktiver Beschäftigung dieser Arbeiter zu bemühen. Schon am 18. November verordnete der Staatsrat, daß die dem Handlungsgehilfengesetz unterstehenden, aus dem Kriege heimkehrenden Angestellten in die Dienststellen, die sie vor dem Kriege innegehabt, wiederaufgenommen werden müssen. Im Mai 1919 aber, in der Zeit, in der einerseits die Arbeitslosigkeit den höchsten Stand erreichte und anderseits die Bedrohung durch den ungarischen Bolschewismus die Widerstandskraft der bürgerlichen Parteien am meisten schwächte, setzte Hanusch einen viel tiefergehenden Eingriff in das Herrnrecht des Unternehmens durch. Am 14. Mai verordnete Hanusch, daß jeder Gewerbeinhaber, der am 26. April wenigstens 15 Arbeiter oder Angestellte beschäftigt hatte, um ein Fünftel mehr Arbeiter und Angestellte in seinen Betrieb einstellen und diesen Arbeiterstand nicht ohne Erlaubnis der Industriellen Bezirkskommission verkleinern dürfe. Es gelang auf diese Weise in der Tat, einen Teil der Arbeitslosen in die Betriebe zurückzuführen. Wohl konnten die Industriellen Bezirkskommissionen selbstverständlich die Erlaubnis zur Verkleinerung des Arbeiterstandes nicht verweigern, wo es sich als unmöglich erwies, den vergrößerten Arbeiterstand produktiv zu beschäftigen. Aber da die Verkleinerung des Arbeiterstandes fortan der Genehmigung durch die Industriellen Bezirkskommissionen bedurfte, war die Entlassung der Arbeiter doch der Willkür der Unternehmer entzogen, die Arbeitslosigkeit, sei es auch um den Preis der Kurzarbeit der Arbeitenden, eingedämmt, der Sabotage des Unternehmertums ein Damm gesetzt, die Ausübung der Unternehmerfunktionen unter eine paritätische Kontrolle gestellt. Wie gut sich dieser kühne Eingriff in die Selbstherrlichkeit des Unternehmertums bewährt hat, beweist die Tatsache, daß Hanusch’ Verordnung, ursprünglich nur als Notstandsmaßregel für wenige Monate gedacht, heute noch in Wirksamkeit ist.

Eine zweite Aufgabe wurde unserer sozialen Gesetzgebung durch den physischen Zustand gestellt, in dem die Arbeiterklasse aus dem Kriege hervorgegangen war. Vierjährige Unterernährung hatte die Körper der Arbeiter furchtbar geschwächt. Die Blockade, die die neuerstandenen Nationalstaaten über uns verhängt hatten, hatte unsere Ernährungsverhältnisse zunächst noch verschlechtert; der Zustand der Unterernährung dauerte daher an. Die Arbeitsleistung des Arbeiters mußte seiner durch die Unterernährung verkleinerten Arbeitsfähigkeit angepaßt werden. Die Erfüllung der alten Forderung der Arbeiterschaft nach dem Achtstundentag war zu einer physiologischen Notwendigkeit geworden. Für den Achtstundentag sprachen zwingende ökonomische Gründe: einen langen Arbeitstag hindurch die Kraftmaschinen laufen, die Werkstätten beleuchten und beheizen zu lassen, ist eine Vergeudung der Kohle, wenn der geschwächte Körper des Arbeiters die lange Arbeitszeit nicht intensiv ausnützen kann; ein kürzerer, aber intensiver ausgenützter Arbeitstag mußte daher das anzustrebende Ziel sein. Für den Achtstundentag sprachen gewichtige sozialpolitische Erwägungen: in den kontinuierlichen Betrieben erforderte die Einführung des Achtstundentages, der Übergang von zwei zwölfstündigen zu drei achtstündigen Schichten die Vermehrung des Arbeiterstandes um die Hälfte, sie ermöglichte daher die Überführung eines Teiles der Arbeitslosen in diese Betriebe. Der Widerstand des Unternehmertums gegen die Einführung des Achtstundentages war in den ersten Monaten nach der Revolution sehr schwach. Die kontinuierlichen Betriebe hatten schon während des Krieges damit gerechnet, daß die Arbeiterschaft die zwölfstündige, bei dem wöchentlichen Schichtenwechsel achtzehnstündige Arbeitszeit nicht mehr ertragen werde; einzelne große Unternehmungen der Eisenindustrie hatten sich schon während des Krieges auf den Übergang zum Achtstundentag vorbereitet. Die nicht kontinuierlichen Betriebe aber hatten damals wohl überhaupt kein Interesse, sich gegen den Achtstundentag zu wehren. Der Zentralgewerbeinspek:tor Tauß schreibt in seinem Bericht über das Jahr 1919:

„Die trostlose Lage, in welche die industrielle und gewerbliche Produktion nach Beendigung des Krieges geraten ist und welche sich infolge der fortschreitenden Verschärfung der Heiz- und Rohmaterialnot immer kritischer gestaltet hat, zwang fast alle Unternehmungen zu weitgehenden Einschränkungen der Betriebe. In den meisten derselben konnten daher die Arbeiter nur bei einer sehr stark gekürzten Arbeitszeit oder nur an einzelnen Tagen der Woche beschäftigt werden. Es ist daher erklärlich, daß zu der Zeit eines solchen Stillstandes der gewerblichen Beschäftigung die Einführung der achtstündigen Arbeitszeit beziehungsweise der achtundvierzigstündigen Arbeitswoche im allgemeinen ohne wesentliche Betriebsstörung möglich wurde.“

Und der Wiener Gewerbeinspektor Ingenieur Ehrenhofer sagt geradezu:

„Die gesetzliche Einführung des Achtstundentages hätte kaum zu einer passenderen Zeit erfolgen können als gerade innerhalb jener Wochen, in welchen Arbeitsgelegenheit und Betriebsleben so rapid sanken.“

Anderseits freilich mußten wir auch damit rechnen, daß sich eine Regelung der Arbeitszeit für die Dauer auch den Konkurrenzverhältnissen zwischen der deutschösterreichischen Industrie und den wichtigsten konkurrierenden Industrien des Auslandes anpassen muß. Deshalb ging Hanusch bei der Einführung des Achtstundentages überaus vorsichtig vor. Das Gesetz vom 19. Dezember 1918 setzte den achtstündigen Höchstarbeitstag nur für die fabriksmäßigen Betriebe fest; und die Geltungsdauer dieses Gesetzes war mit dem Friedensschluß befristet. Erst die Erfahrungen der folgenden Monate erlaubten es, weiterzugehen. Einerseits zeigte es sich nämlich, daß sich der Achtstundentag im Verlauf der ersten Monate nach der Revolution in fast allen Betrieben, also auch in denen, die dem Gesetz nicht unterworfen waren, tatsächlich durchsetzte; anderseits wurde im Verlauf dieses Jahres der Achtstundentag nicht nur in allen von der Revolution erfaßten Staaten, sondern auch in den neutralen und in den Siegerländern teils durch Gesetz, teils durch gewerkschaftliche Aktionen durchgesetzt. So konnten wir denn nunmehr über das erste Achtstundentaggesetz weit hinausgehen. Das Gesetz vom 17. Dezember 1919 hat den achtstündigen Höchstarbeitstag allgemein und dauernd, ohne Beschränkung auf die fabriksmäßigen Betriebe und ohne zeitliche Befristung, festgelegt.

Das Achtstundentaggesetz fand seine Ergänzung in dem Gesetz vom 30. Juli 1919, das jedem Arbeiter den Anspruch auf einen vollbezahlten Urlaub in jedem Jahre sichert; dauert der Urlaub in der Regel je nach der Dauer der Beschäftigung der Arbeiter im Betrieb eine oder zwei Wochen, so wurde den Lehrlingen und den jugendlichen Arbeitern im Jahre 1919 ein vierwöchiger Urlaub gesichert, um die während des Krieges herangewachsene Jugend durch längeren Urlaub, den sie zum Teil in staatlichen Urlaubsheimen verbringen konnte, vor der sie besonders schwer bedrohenden Gefahr der Tuberkulose einigermaßen zu schützen. Einen schweren Verlust an Arbeitsleistung hat die Volkswirtschaft durch die Einführung der Arbeiterurlaube nicht erlitten, da die Industriearbeiter in vielen Kollektivverträgen auf die Arbeitsruhe an den meisten Feiertagen der katholischen Kirche verzichteten, um dafür das Recht auf den Urlaub einzutauschen, für die Wiederherstelhing der durch Krieg und Unterernährung erschütterten Volksgesundheit aber bedeutet ein ununterbrochener ein- oder zweiwöchiger Urlaub im Jahre unzweifelhaft mehr als die Arbeitsruhe an einigen über das ganze Jahr verstreuten Feiertagen. Neben dem Achtstundentaggesetz hat das Gesetz über die Arbeiterurlaube wohl am meisten dazu beigetragen, daß sich die Gesundheitsverhältnisse in den ersten drei Jahren nach dem Kriege erstaunlich schnell gebessert haben. Nicht geringer aber als die volkshygienische ist die kulturelle Bedeutung der beiden Gesetze. Die Verkürzung der täglichen Arbeitszeit hat den Arbeitern erst die Muße gesichert zu jener reichen kulturellen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Betätigung, über die wir noch zu berichten haben werden. Die Einführung der Arbeiterurlaube hat die ungeahnte Entwicklung der Arbeitertouristik. ermöglicht, die den Arbeitern edlere, ihrer körperlichen und geistigen Entwicklung förderlichere Erholungsfreuden erschlossen hat, als sie sie vordem gekannt haben.

Aber nicht nur in diesen Gesetzen spiegelte sich die neuerrungene politische Machtstellung der Arbeiterklasse. Die Arbeiterklasse mußte vielmehr die Vormachtstellung in der Republik, die sie der Revolution verdankte, ausnützen, um das ganze System unserer sozialpolitischen Gesetzgebung den neuen Machtverhältnissen anzupassen. So war denn das ganze erste Jahr der Republik von fruchtbarer sozialpolitischer Gesetzgebungsarbeit erfüllt. Das Arbeiterrecht wurde durch die Abschaffung des Arbeitsbuches und der Abschaffung der Strafbarkeit des Kontraktbruches der Arbeiter neugestaltet, die Arbeiterschutzgesetzgebung durch die Gesetze über das Verbot der Nachtarbeit der Frauen und der Jugendlichen, über die Regelung der Kinderarbeit und der Heimarbeit, durch Sondergesetze für die Bäcker, für den Bergbau, für das Handelsgewerbe ausgebaut.

Aber so wichtig auch diese sozialpolitische Arbeit war, dem drängenden Bedürfnis der Zeit konnte der bloße Ausbau der herkömmlichen sozialpolitischen Gesetzgebung einer vergangenen Geschichtsepoche nicht genügen. Die Arbeiterschaft forderte mehr. Die Arbeiterschaft drängte nach der Umwälzung der ganzen Produktionsverfassung. Sozialisierung war das Schlagwort des Tages. Aber das Schlagwort bedeutete im Munde der Arbeiter etwas anderes als im Munde der Bürokraten. Den in der Schule der Kriegswirtschaft erzogenen Bürokraten war Sozialisierung staatliche Organisierung und Reglementierung der Volkswirtschaft. Den Arbeitern bedeutete Sozialisierung etwas ganz anderes. Die Arbeiter wollten nicht mehr lebende Werkzeuge der Unternehmer sein. Der Arbeiter wollte mitherrschen, wo er mitarbeitete; die Industrie mitregieren, in der er mitproduzierte. Sollte auch nur der erste Schritt zur Sozialisierung im Sinne der Arbeiter erfolgen, so galt es vor allem, die Arbeiterschaft jedes Betriebes als ein Ganzes, als eine Gemeinde zu konstituieren und sie mit eigenen Organen auszustatten, die in ihrem Auftrage den Betrieb ihrer Kontrolle, ihrer Mitbestimmung unterwerfen sollen. Dahin drängte die Arbeiterklasse überall.. In Rußland hatte der Bolschewismus sofort nach der Oktoberrevolution Betriebsräte als Organe der „Arbeiterkontrolle in den Betrieben“ geschaffen. In Deutschland waren Arbeiterausschüsse schon in der Kriegsindustrie entstanden. In England hatte die Whitley-Kommission im Wiederaufbauministerium ein großes Projekt einer Organisation der Industrie entworfen, deren Basis die Works’ Commitees bilden sollten. Als in Deutschösterreich nach den Februarwahlen die Sozialisierungskommission eingesetzt und ich zu ihrem Präsidenten gewählt wurde, war es die erste Aufgabe, die ich der Kommission stellte: einen Gesetzentwurf über die Betriebsräte auszuarbeiten. Nach sorgfältigen Vorarbeiten, an denen die Gewerkschaften hinter der Führung Huebers, Domes’ und Wiedenhofers regen Anteil nahmen, wurde der Entwurf am 24. April in der Nationalversammlung eingebracht, am 15. Mai 1919 von der Nationalversammlung beschlossen.

Deutschösterreich war, von Sowjetrußland abgesehen, der erste Staat, dessen Gesetzgebung Betriebsräte schuf; erst 1920 ist uns das Deutsche Reich, erst 1921 die Tschechoslowakei gefolgt. In Deutschösterreich haben wir die Zeit der Hochflut der mitteleuropäischen Revolution, den Monat, in dem in Budapest und in München zugleich die Sowjetdiktatur herrschte, ausgenützt, um dem Unternehmertum das Betriebsrätegesetz aufzuzwingen; deshalb greift unser Betriebsrätegesetz in mancher Hinsicht tiefer in die kapitalistische Produktionsverfassung ein als die später, in der Zeit abebbender Revolution erlassenen Gesetze Deutschlands und der Tschechoslowakei. Vor allem beschränkt unser Gesetz die Befugnisse der Betriebsräte nicht durch eine taxative Aufzählung. Es gibt den Betriebsräten ohne jede Einschränkung das Recht, die „wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Interessen“ der Arbeiter und Angestellten wahrzunehmen; die einzelnen Aufgaben der Betriebsräte zählt es nur beispielsweise auf„ aber es beschränkt die Betriebsräte nicht auf die aufgezählten Tätigkeitszweige. So hängt es nur von der Macht der Arbeiterschaft und von der Tüchtigkeit ihrer Betriebsräte ab, wie sie die neue Institution auszunützen vermag.

In der Tat haben sich die Betriebsräte in den verschiedenen Betrieben sehr verschieden entwickelt. In der Industrie und im Gewerbe, wo schon eine alte, gefestigte gewerkschaftliche Organisation bestand, übernahmen die erfahrenen Vertrauensmänner der Gewerkschaften die Funktionen der Betriebsräte. Sie verstanden es sehr bald, das Gesetz auszunützen. Die Bedeutung des Gesetzes bestand hier darin, daß es die Anerkennung der Vertrauensmänner, die vordem von dem Willen des Unternehmers abhing, dem Unternehmer zur Pflicht macht, die Vertrauensmänner gegen Maßregelung wegen ihrer Tätigkeit schützt und den Wirkungskreis der Vertrauensmänner weit über die unmittelbar gewerkschaftlichen Aufgaben hinaus erweitert. Aber das Gesetz schrieb die Institution der Betriebsräte nicht nur den Industrie- und Gewerbebetrieben, sondern Betrieben aller Art vor. In Krankenhäusern und in Theatern, in Gastwirtschaften und in Handelsbetrieben, in den Forsten und in den Steinbrüchen wurden Betriebsräte gewählt. So drang die neue Institution auch in Betriebe ein, in denen es vordem noch keine oder nur eine unentwickelte gewerkschaftliche Organisation gegeben hatte. Hier nun wurde die neue Institution zu einem Hebel der Entwicklung und Ausbreitung der Gewerkschaften. Anderseits freilich fehlte hier zunächst noch ein Stab geschulter Vertrauensmänner, der die neue Institution zweckmäßig zu benützen verstanden hätte; in solchen Betrieben kam daher in der ersten Zeit so mancher Mißgriff und Mißbrauch vor, der erst durch die allmähliche Selbsterziehung der Massen in der Praxis der neuen Institution überwunden werden kann.

Die Entwicklung der Betriebsräte wurde sehr wesentlich durch die Eigenart der Zeit bestimmt, in der sie entstanden. Es war eine Zeit schneller Geldentwertung, die immer wieder die Anpassung der Arbeitslöhne an den sinkenden Geldwert erforderte. Die einander schnell folgenden Lohnbewegungen beanspruchten die Aufmerksamkeit und Arbeitskraft der Betriebsräte und erschwerten es ihnen daher, sich in ihre anderen Tätigkeitszweige einzuarbeiten. In dieser Hinsicht war die Zeit der Entwicklung und Schulung der Betriebsräte sehr ungünstig. Anderseits aber stellte gerade die Zeit der schwersten wirtschaftlichen Zerrüttung den Betriebsräten besondere Aufgaben, deren Erfüllung ihre Bedeutung für den Betrieb und ihre Autorität sowohl gegenüber dem Unternehmer als auch gegenüber den Arbeitern und Angestellten schnell und wesentlich erhöhte.

Vor allem galt es, die zerrüttete Arbeitsdisziplin wiederherzustellen. Die alte autokratische Betriebsdisziplin war zerstört; sollte die Produktion wieder in Gang kommen, so mußte an ihre Stelle eine neue, demokratische Arbeitsdisziplin treten. Gehorchten die Arbeiter nicht mehr willenlos dem Kommando des Betriebsleiters, so mußten sie selbst dafür sorgen, daß sich jeder einzelne Arbeiter der Ordnung des Ganzen, der Notwendigkeit der Produktion einfüge. So wurden die Betriebsräte zu Organen der Wiederherstellung der Arbeitsdisziplin. Die Gewerbeinspektoren berichten, daß einzelne Betriebsleitungen Betriebsräte wählen ließen, noch bevor das Gesetz in Kraft trat, weil sie nur mit Hilfe der Betriebsräte die gelockerte Arbeitsdisziplin wiederherstellen konnten. Der Wiener Gewerbeinspektor Ingenieur Oßwald schrieb schon in seinem Bericht über das Jahr 1919, daß viele Betriebsräte „Ersprießliches leisten, indem sie ihr Augenmerk auch auf die Hebung der gesunkenen Arbeitsdisziplin richten“. Der Wiener Gewerbeinspektor Ingenieur Hauck schreibt in seinem Bericht über das Jahr 1920:

„In vielen der größten Unternehmungen halten die Betriebsräte unter der Arbeiterschaft eine strenge Disziplin und unterstützen in dieser Beziehung die Leitungen der Unternehmen. In mehreren Betrieben wurden von selten der Betriebsräte Geldstrafen für jedwede Lockerung der Disziplin oder für Vergehen gegen die Bestimmungen des Arbeiterschutzes eingeführt. Die Einhebung der Strafen, die Verwaltung der Gelder und deren entsprechende Verwendung besorgt der Betriebsrat.“

Selbstverständlich konnte die Arbeitsdisziplin nur allmählich wiederhergestellt werden. Sie wurde wiederhergestellt in dem Maße, als einerseits die Arbeiterschaft den Zustand der Erschöpfung, der Übermüdung, in dem. sie aus dem Kriege herausgetreten war, und den Zustand der leidenschaftlichen Erregung, in den sie durch die Revolution gestürzt worden war„ überwand, als anderseits bessere Kohlen- und Rohstoffzuschübe wieder eine regelmäßige, ununterbrochene Arbeit, bessere Nahrungsmittelzuschübe wieder eine bessere Ernährung der Arbeiter ermöglichten. Aber war die Wiederherstellung der Arbeitsdisziplin nur allmählich, nur mit der allmählichen Wiederherstellung ihrer physiologischen, psychologischen und produktionstechnischen Voraussetzungen möglich, so konnte doch diese Möglichkeit in den Groß- und Mittelbetrieben nur mit den Betriebsräten. und durch die Betriebsräte ausgenützt werden. Gerade diese ihre Funktion machte die Betriebsräte zu unentbehrlichen Organen der Produktion selbst. und sicherte ihnen dadurch eine starke Machtstellung in den Produktionsstätten. Die Unternehmer mußten den Betriebsräten desto stärkeren Einfluß in den Betrieben einräumen, je mehr sie erkannten, daß nur der Einfluß der Betriebsräte die Wiederherstellung der Arbeitsdisziplin ermöglichte. So wurde die Anarchie, in die die Revolution die Betriebe gestürzt hatte, allmählich überwunden; aber das Ergebnis ihrer Überwindung ist eine neue Betriebsverfassung, innerhalb derer die Machtstellung der Arbeiterschaft im Betrieb wesentlich erweitert ist, die Arbeiterschaft als Ganzes durch den von ihr gewählten Betriebsrat den Betrieb mitregiert und jeder einzelne Arbeiter in der verstärkten Machtstellung der Gesamtheit die Bürgschaft seiner persönlichen Freiheit, Würde und Wohlfahrt innerhalb des Betriebes findet.

Die Not der Zeit, in der die Betriebsräte entstanden, stellte ihnen noch andere Aufgaben. Vor allem organisierten sie, oft in Verbindung mit den Konsumgenossenschaften der Arbeiter, die Versorgung der Arbeiter mit Nahrungsmitteln, mit Heizmaterial, mit Volksbekleidungsstoffen. Bald aber begannen sie auch, sich um die Versorgung des Betriebes mit Kohle und Rohstoffen zu kümmern. Die Betriebsräte der Fabriken fuhren in die Kohlenreviere und bewogen dort die Bergarbeiter in Betriebsversammlungen, Überstunden- und Sonntagsarbeit zu leisten, um die Fabriken oder auch um die Volksschulen der Industrieorte mit Kohle zu versorgen; die Betriebsräte der Bergarbeiter kontrollierten dann, daß die in den Überstunden geförderte Kohle auch wirklich dem von ihnen bestimmten Zweck zugeführt werde. In vielen Fällen fuhren die Betriebsräte nach Wien und wandten sich an die in den Staatsämtern tätigen Genossen, um für ihre Industrieorte eine stärkere Zuteilung von Lebensmitteln, für ihre Betriebe stärkere Kohlenzuteilung, Einfuhr- oder Ausfuhrbewilligungen zu erlangen. Es unterliegt keinem Zweifel, daß sich unerfahrene Betriebsräte in dieser ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit oft von den Unternehmern mißbrauchen ließen. Trotzdem hatte auch diese Tätigkeit große Bedeutung, indem auch sie einerseits die Betriebsräte den Unternehmern selbst unentbehrlich machte und dadurch ihre Machtstellung gegen die Unternehmer stärkte, indem sie anderseits die Betriebsräte in den Fragen der wirtschaftlichen und technischen Betriebsführung schulte und sie dadurch befähigte und lehrte, ihre Tätigkeit allmählich über den gewerkschaftlichen Aufgabenkreis hinaus auf die Betriebsführung selbst zu erstrecken.

Als später die Lebensmittel- und Kohlennot allmählich überwunden und die zentrale Bewirtschaftung allmählich abgebaut wurde, verlor dieser Wirkungskreis der Betriebsräte freilich an Bedeutung. Dafür aber erschlossen sich den Betriebsräten immer neue Tätigkeitsgebiete. In den Großbetrieben entwickelten sich die Betriebsräte zu großen Verwaltungsorganismen mit eigenen Büros und mit einer oft recht komplizierten Arbeitsteilung innerhalb des Betriebsrates. Der Wiener Gewerbeinspektor Ingenieur Ehrenhofer konnte schon in seinem Bericht über das Jahr 1919 erzählen, daß sich die Betriebsräte der Großbetriebe in Unterausschüsse zu gliedern beginnen, von denen jeder besondere Funktionen auszuüben hat. Die Betriebsverfassung der gemeinwirtschaftlichen Anstalten sieht vor, daß jeder Betriebsrat je einen Referenten für betriebstechnische Fragen, für den Arbeiterschutz, für Lohn- und Akkordfragen und für Steuerwesen wählen und besondere Unterausschüsse für Organisation und Bilanz, für Wohlfahrtseinrichtungen und für das Lehrlingswesen einzusetzen habe. Auch diese Gliederung erschöpft den Wirkungskreis der Betriebsräte keineswegs. So haben zum Beispiel viele Betriebsräte auch Betriebsbibliotheken angelegt und Unterrichtskurse organisiert; der Betriebsrat der gemeinwirtschaftlichen Anstalt „österreichische Werke“ hat sogar die Leitung einer Fachschule für Maschinenbau, die Arbeiter zu Werkmeistern ausbildet, übernommen.

Selbstverständlich können die Betriebsräte nur allmählich die Erfahrungen und Kenntnisse erwerben, die sie brauchen, um ihre mannigfachen Funktionen mit Erfolg zu versehen. Die Berichte der Gcwerbeinspektoren liefern Beispiele auch dafür, wie die Betriebsräte allmählich zur Erfüllung ihrer Aufgaben heranreifen. So kehrt in den Berichten über das Jahr 1919 die Klage immer wieder, daß die Betriebsräte den Fragen der Gewerbehygiene und der Unfallverhütung wenig Verständnis entgegenbringen. Dagegen schreibt schon 1920 der Wiener Gewerbeinspektor Ingenieur Naske:

„Die wertvolle Mitarbeit der Betriebsräte bei Vornahme der Inspektionen verdient es, anerkennend hervorgehoben zu werden; nicht, allein, daß die Anwesenheit der Betriebsräte bei Inspektionen das Verantwortungsgefühl der Gewerbeinhaher hebt und die Verbindlichkeit der Unternehmer gegenüber ihren Arbeitern in wirksamer Weise festgelegt erscheint, übernehmen die anwesenden Arbeitervertreter gleichzeitig in der ilegel die Gewähr, daß die vom Gewerbeinspektor getroffenen Maßnahmen auch wirklich zur Durchführung gelangen, ohne daß es notwendig wäre, von Amts wegen einen besonderen Druck auf die Gewerbeinhaber ausüben. zu müssen. Die Betriebsräte bilden aber auch aus dem Grunde eine wertvolle Unterstützung für den amtierenden Gewerbeinspektor, weil sie, mit den örtlichen Verhältnissen besonders gut vertraut, auf Gefahren aufmerksam zu machen in der Lage sind, welche unter Umständen dem Gewerbeinspektor leicht entgehen können. Es hat sich auch öfter ereignet, daß Betriebsräte sich schriftlich an das Amt gewandt haben und um Abstellung dieser Übelstände ersuchten.“

Ähnlich urteilte in dem Bericht über 1920 auch der Wiener-Neustädter Gewerbeinspektor Ingenieur Astolfi, während die Inspektoren aus Gebieten mit rückständigerer Arbeiterschaft, zum Beispiel der Vorarlberger Inspektor Ingenieur Eberl, noch erzählen, daß die Betriebsräte die Fragen des technischen Arbeiterschutzes noch nicht zu würdigen verstehen.

Die Entwicklung der Betriebsräte hängt in sehr hohem Maße auch von der Entwicklung der Beziehungen zwischen den Arbeitern und den Angestellten ab. Die Verschiedenheiten der Erziehung, der Lebensweise, der politischen Ansichten und die Tatsache, daß der Angestellte dem Arbeiter als Vorgesetzter gegenübersteht, dem Arbeiter gegenüber Unternehmerfunktionen auszuüben hat, erschweren jenes enge Zusammenwirken zwischen den Betriebsräten der Arbeiter und der Angestellten, das allein einerseits den Angestelltenbetriebsräten die starke Stütze der Arbeiterschaft sichern, anderseits die höheren technischen und kommerziellen Kenntnisse der Angestellten in den Dienst der Arbeiterbetriebsräte stellen kann. Auch diese Schwierigkeiten können nur allmählich, nur durch die Selbsterziehung der Betriebsräte im Prozeß ihrer Tätigkeit überwunden werden.

So stehen die Betriebsräte erst am Anfang ihrer Entwicklung. Die Revolution hat nur die Institution der Betriebsräte schaffen können; die Entfaltung der Keime, die in dieser Institution gelegen sind, kann nur in der Praxis der Betriebsräte erfolgen. Nur in allmählicher Entwicklung, allmählicher Selbsterziehung in der Praxis der Betriebsratstätigkeit wird die Arbeiterschaft aus ihrem Schoße einen Stab geschulter Vertrauensmänner hervorbringen können, der zur vollen Ausnützung der neuen Institution befähigt sein wird. Diese Selbsterziehung der Arbeiterschaft in der und durch die Betriebsratspraxis schafft aber erst die Voraussetzungen einer sozialistischen Produktionsverfassung. Das Beispiel Rußlands, wo die nach der Oktoberrevolution anfänglich versuchte demokratische Betriebsverfassung so schnell einem bürokratischen Staatskapitalismus weichen mußte, beweist, daß nur ein bürokratischer Staatssozialismus, der den Despotismus des Unternehmers bloß durch den Despotismus des Bürokraten ersetzt, möglich ist, solange sich die Arbeiterschaft die Fähigkeit zur Selbstregierung in ihrem Arbeitsprozeß noch nicht erworben hat. Der demokratische Sozialismus, der Sozialismus, den die Arbeiterschaft meint und will, der Sozialismus, der das Selbstbestimmungsrecht der Arbeitenden in ihrem Arbeitsprozeß verwirklicht, ist erst möglich, wenn die Arbeiterschaft die Produktion zu regieren vermag, ohne die Produktion zu zerstören. Als die große Schule der proletarischen Selbstregierung im Produktionsprozeß sind die Betriebsräte eine Vorstufe der sozialistischen Produktionsweise. Darum bedeutet die Entstehung und Entwicklung der Betriebsräte für die Entwicklung zur sozialistischen Gesellschaftsordnung weit mehr als jede gewaltsame Expropriation, wenn ihr Ergebnis nichts als bürokratisch regierte Staats- oder Gemeindebetriebe sind.

Die Kriegswirtschaft hatte die kapitalistischen Unternehmungen unter bürokratischer Oberleitung syndiziert und diese kapitalistisch-bürokratischen Zwangssyndikate zum Requisitionsapparat für die Bedürfnisse des Heeres gemacht. Sie hatte die einzelnen kapitalistischen Unternehmungen militarisiert, die Zwangsgewalt der militärischen Bürokratie in den Dienst der Kapitalsherrschaft, die Kapitalsherrschaft in den Dienst der militärischen Zwangsorganisation gestellt. In beiden Formen waren kapitalistisches Unternehmen und staatliche Bürokratie gegen die Arbeiterklasse verbündet. Die Auflehnung der Arbeitermassen richtete sich gegen beide Mächte: sowohl gegen das kapitalistische Unternehmertum als auch gegen die staatliche Bürokratie. War das erste Resultat der Auflehnung gegen die Herrschaft des kapitalistischen Unternehmertums die Institution der Betriebsräte, so war das erste Resultat der Auflehnung gegen die Herrschaft der staatlichen Bürokratie die den Betriebsräten analoge Institution der Personalvertretungen, die zunächst in den staatlichen Verkehrsbetrieben geschaffen wurden und auf die Verwaltung dieser Betriebe überaus starken Einfluß erlangten. Aber beide Institutionen genügten den Arbeitermassen nicht. Die Arbeiterklasse drängte nach der Sozialisierung der Industrie, die Sozialisierung sollte die Industrie von der Herrschaft des kapitalistischen Unternehmers befreien, ohne sie doch der Herrschaft der staatlichen Bürokratie zu unterwerfen. Es galt, eine Betriebsverfassung zu finden, die weder kapitalistisch noch bürokratisch sein sollte. Das war die Aufgabe, die ich zunächst in einigen Zeitungsartikeln zu lösen versuchte, die zuerst in der Arbeiter-Zeitung erschienen sind, später unter dem Titel Der Weg zum Sozialismus als Broschüre herausgegeben wurden. Der Organisationsplan, den ich in jenen Zeitungsartikeln entwarf, war angeregt einerseits durch den englischen Gildensozialisnius, dessen Grundgedanken ich schon vor dem Kriege aus G.D.H. Cole’s The world of labour (London 1913) kennengelernt hatte, anderseits durch die ursprünglichen Organisationsversuche des russischen Bolschewismus, wie sie der Kongreß der Volkswirtschaftsräte im Mai 1918 formuliert hatte. Beide hatten die Verwaltung der sozialisierten Industrie gründen wollen auf die Kooperation des Staates als des Vertreters der Gesamtheit und der Gewerkschaft als der Vertreterin der Sonderinteressen der in dem sozialisierten Industriezweig tätigen Arbeiter und Angestellten. Mein Organisationsplan schaltete in diese Kooperation als drittes gleichberechtigtes Glied die Organisation der Konsumenten ein. Ich schlug vor, daß jeder sozialisierte Industriezweig von einer besonderen Verwaltungskörperschaft verwaltet werden solle, die zusammenzusetzen sei aus Vertretern der Arbeiter und Angestellten, die in dem Industriezweig arbeiten, aus Vertretern der Konsumenten, für die der Industriezweig arbeitet, und aus Vertretern des Staates als Schiedsrichters zwischen den widerstreitenden Interessen der Produzenten und der Konsumenten. Ähnliche Vorschläge sind damals überall aufgetaucht, wo die Arbeiterschaft den Kampf um die Sozialisierung begann; so in dem von der deutschen Sozialisierungskommission entworfenen Plan einer „ Deutschen Kohlengemeinschaft“, in dem Organisationsplan Mr. Justice Sankey’s für den britischen Kohlenbergbau, in dem „Plum-Plan“ für die Organisation der Eisenbahnen der Vereinigten Staaten von Amerika, in dem Vorschlag der Confederation Generale du Travail über die Sozialisierung der französischen Eisenbahnen, später auch in den Organisationsplänen, die Sidney und Beatrice Webb in ihrer Constitution for the socialist commonwealth (London 1920) entwarfen. Blieb es aber dort überall bei bloßen Projekten, so konnten wir in Deutschösterreich zur Verwirklichung dieser Projekte, wenngleich vorerst nur in bescheidenem Ausmaß, übergehen.

Nachdem ich die Leitung der Sozialisierungskommission übernommen hatte, unternahm ich es zunächst, die Rechtsform für die von mir vorgeschlagene neue Unternehmungsform zu schaffen. Zu diesem Zwecke legte ich der Nationalversammlung gleichzeitig mit dem Entwurf des Betriebsrätegesetzes auch einen Gesetzentwurf über die gemeinwirtschaftlichen Unternehmungen vor; der Gesetzentwurf wurde im Sozialisierungsausschuß der Nationalversammlung sorgfältig umgearbeitet und am 29. Juli 1919 von der Nationalversammlung beschlossen. Sobald damit die rechtlichen Voraussetzungen geschaffen waren, gingen wir daran, die neue Unternehmungsform zu erproben.

Es waren praktische, aus der Auflösung der Kriegswirtschaft hervorgegangene Bedürfnisse, die die neue Unternehmungsform heischten. Die Republik hatte viele große Betriebe geerbt, die Eigentum des Heeresärars gewesen waren und unter militärischer Leitung für den Kriegsbedarf gearbeitet hatten. Nach dem Waffenstillstand waren diese Betriebe von der Zivilverwaltung übernommen worden; die „Generaldirektion der staatlichen Industriewerke“ übernahm ihre Leitung. Aber die bürokratische Leitung verstand es nicht, die Kriegsbetriebe zur Friedensproduktion überzuführen. Sie lieferte einen großen Teil der wertvollen Rohstoffe, die in den Betrieben aufgehäuft waren, dem Schiebertum aus. Sie entließ die Arbeiter nicht, um die Zahl der Arbeitslosen nicht zu vergrößern, aber sie versuchte es nicht, sie produktiv zu beschäftigen. So wurden die Betriebe zu einer schweren Last für den Staat. Die Betriebe an das Privatkapital zu verpachten oder zu verkaufen, war nicht ratsam; in einer Zeit, in der der Unternehmungsgeist gelähmt war, die Betriebe mit Riesendefiziten belastet waren und die schnelle Geldentwertung jede Bewertung der wertvollen Betriebsanlagen unmöglich machte und jeden Kaufschilling, den der Staat vereinbarte, schnell entwertete, hätte die Veräußerung der Betriebe die Vergeudung wertvollen Staatsbesitzes bedeutet. Aber ebenso unmöglich war es auch, die Betriebe in den Händen der technisch und kommerziell unfähigen bürokratischen Leitung zu lassen. So forderte der jämmerliche Zustand, in den die staatlichen Kriegsindustriebetriebe geraten waren, eine neue Unternehmungsform, die die Betriebe im öffentlichen Eigentum erhalten, ihnen aber eine kommerziell bewegliche, von der bürokratischen Zwangsjacke freie Leitung geben mußte. Und an dieser Leitung mußte die Arbeiterschaft der Kriegsindustriebetriebe starken Anteil haben. Nach dem Umsturz hatten die Arbeiter der Kriegsindustrie, um ihre Arbeitsstellen besorgt, die Betriebe gegen die Plünderung durch das mit der Bürokratie zusammenspielende Schiebertum verteidigt. Die Arbeiterschaft hatte die Betriebsanlagen und die Rohstoffvorräte für den Staat gerettet. Die Arbeiterschaft hatte, da die bürokratische Verwaltung die Betriebe nicht zu leiten, die Ordnung in ihnen nicht wiederherzustellen vermochte, die Macht über die Betriebe immer mehr an sich gerissen. Es war daher offenbar, daß die Betriebe nur unter tätiger Teilnahme der Betriebsräte zu geordneter Produktion zurückgeführt werden konnten. Die unmittelbare Beteiligung der Betriebsräte an der Verwaltung der Betriebe war also unabweisbar. So drängten die praktischen Bedürfnisse hier nach der neuen gemeinwirtschaftlichen Unternehmungsform.

Wir machten den ersten Versuch im kleinen Maßstab. Die erste „gemeinwirtschaftliche Anstalt“, die wir gründeten, waren die „Vereinigten Leder- und Schuhfabriken“. Sie wurden vom Staat gemeinsam mit der Großeinkaufsgesellschaft österreichischer Konsumvereine als der Vertreterin der proletarischen Konsumenten und der Landwirtschaftlichen Warenverkehrsstelle als der Vertreterin der bäuerlichen Konsumenten begründet. Der Staat brachte seine Schuhfabrik in Brunn a.G. ein; die beiden Konsumentenorganisationen stellten das Betriebskapital bei und übernahmen den Vertrieb der Erzeugnisse. Die „Anstaltsversammlung“, die die oberste Leitung der Anstalt besorgt und die Geschäftsleitung einsetzt, ist zusammengesetzt aus Vertretern des Staates, aus Vertretern der beiden Konsumentenorganisationen und aus Vertretern des Betriebsrates und der Gewerkschaft der Arbeiter, die in dem Betrieb arbeiten. Diese erste Gründung hatte durchschlagenden Erfolg. Binnen kurzem gelang es, die Produktion in Gang zu bringen und die Arbeit zu intensivieren. Schon die erste Jahresbilanz wies einen bedeutenden Reingewinn aus. Ebenso gut war der Erfolg der zweiten Gründung, die sofort folgte: der „Österreichischen Heilmittelstelle“, die, vom Staat gemeinsam mit dem Wiener Krankenanstaltenfonds und den Krankenkassen gegründet, den Betrieb der ehemaligen Militärmedikamentendirektion übernahm. Sie hat die Versorgung der öffentlichen Heil- und Pflegeanstalten mit Arzneimitteln und Heilbehelfen organisiert und durch die Einführung ihrer abgepackten Arzneimittel die allgemeine Heilmittelversorgung reformiert. Die Erfolge dieser beiden ersten gemeinwirtschaftlichen Anstalten ermutigten zur Fortführung der Arbeit. Sie wurde, nachdem ich bei der Bildung der zweiten Koalitionsregierung im Oktober 1919 die Leitung der Sozialisierungskommission niedergelegt hatte, von Ellenbogen als Präsidenten der Sozialisierungskommission und von dem Oberbaurat Ried als dem Leiter ihres Büros mit großem Eifer fortgesetzt. So entstand allmählich ein ganzes System gemeinwirtschaftlicher Unternehmungen.

Einige kriegsärarische Betriebe wurden zur Gänze gemeinwirtschaftlichen Anstalten übergeben; so die großen Industrieanlagen des Wiener Arsenals der gemeinwirtschaftlichen Anstalt „Österreichische Werke“, der Betrieb in Puntigam den „Steirischen Fahrzeugwerken“. In anderen Fällen wurden die kriegsärarischen Industrieterrains gemeinwirtschaftlichen Anstalten übergeben, die aber die einzelnen Betriebe gemischtwirtschaftlichen, gemeinsam mit dem Privatkapital gegründeten und betriebenen Unternehmungen übergaben; so geschah es, in verschiedenen Formen, in Blumau und in Fischamend. Daneben entstanden gemeinwirtschaltliche Anstalten, die nicht auf ehemals kriegswirtschaftliche Betriebe gegründet sind, sondern neuerstandenen Bedürfnissen dienen; so die „Gemeinwirtschaftliche Siedlungs- und Baustoffanstalt“ und die gemeinwirtschaftliche Anstalt „Holzmarkt“. Endlich wurden auch Unternehmungen gebildet, die der Rechtsform nach nicht gemeinwirtschaftliche Anstalten, sondern Aktiengesellschaften sind, aber in gleicher oder ähnlicher Weise zusammengesetzt sind wie die gemeinwirtschaftlichen Anstalten; so zum Beispiel die Wäsche- und Bekleidungs-A.-G., die vom Staat gemeinsam mit der Großeinkaufsgesellschaft der Konsumvereine und der Landwirtschaftlichen Warenverkehrsstelle betrieben wird, und die von der Gemeinde Wien gemeinsam mit der Großeinkaufsgesellschaft betriebene „Wiener Holz- und Kohlengesellschaft“.

So schuf die Revolution eine neue Unternehmungsform. Hatte man vorher die bürokratisch geleiteten Staats- und Gemeindebetriebe auf der einen, die Produktionsbetriebe der Konsumgenossenschaften auf der anderen Seite gekannt, so entstand hier nun eine Mischform: die gemeinwirtschaftliche Anstalt wird in der Regel vom Staat (oder von einer Gemeinde) gemeinsam mit konsumgenossenschaftlichen Unternehmungen geleitet. Der Staat stellt die Betriebsanlagen, die Konsumgenossenschaft stellt kaufmännisch geschulte Betriebsleiter bei und sie organisiert den Absatz der Erzeugnisse. In diese Kooperation des Staates mit den konsumgenossenschaftlichen Organisationen fügen sich aber als wesentliches Glied die Betriebsräte und Gewerkschaften der in den gemeinwirtschaftlichen Betrieben beschäftigten Arbeiter und Angestellten ein. Sie sind nicht nur in der Anstaltsversammlung, sondern oft auch in der Geschäftsleitung selbst unmittelbar vertreten, sie haben daher hier viel unmittelbareren Einfluß auf die Geschäftsführung als in den Staats- und Gemeindebetrieben einerseits, den Produktionsbetrieben der Konsumgenossenschaften anderseits. Der Gedanke der unmittelbaren Kontrolle der Industrie durch die in ihr tätigen Arbeiter und Angestellten hat hier eine über den Rahmen des Betriebsrätegesetzes weit hinausgehende Verwirklichung gefunden. Die Machtverhältnisse zwischen den drei Partnern der Gemeinwirtschaft sind in den einzelnen Anstalten verschieden. In den Anstalten, die unmittelbar für den Bedarf öffentlicher Körperschaften arbeiten – so zum Beispiel in der Heilmittelstelle oder in der Wiener Holz- und Kohlengesellschaft – überwiegt der Einfluß der öffentlichen Körperschaften, des Staates oder der Gemeinde. In den Anstalten, die unmittelbar für den Bedarf der Genossenschaften arbeiten – so zum Beispiel in den Vereinigten Leder- und Schuhfabriken und in der Siedlungs- und Baustoffanstalt – überwiegt der Einfluß der Genossenschaften. In den Anstalten, die im freien Wettbewerb mit den kapitalistischen Unternehmungen für den freien Markt arbeiten – wie vor allem die Österreichischen Werke – überwiegt der Einfluß der Gewerkschaften und der Betriebsräte. In allen Fällen aber ist die Gemeinwirtschaft das Mittel gewesen, an die Stelle der bürokratischen Alleinherrschaft über die öffentlichen Betriebe ihre Mitverwaltung durch proletarische Organisationen, durch Genossenschaften auf der einen, Betriebsräte und Gewerkschaften auf der anderen Seite zu setzen. Freilich, nicht durch proletarische Organisationen allein. Denn in allen Anstalten finden wir neben der Großeinkaufsgesellschaft der Konsumvereine auch die von den landwirtschaftlichen Genossenschaften mitkontrollierte Warenverkehrsstelle; damit hat der Gedanke der Kooperation der Arbeiter mit den Bauern, der der ersten Koalitionsregierung zugrunde lag, seine wirtschaftliche Anwendung gefunden und damit wurde zugleich der Versuch unternommen, die Bauern für die „sozialisierten“ Unternehmungen zu interessieren und sie dadurch für den Gedanken der Sozialisierung zu gewinnen.

Die gemeinwirtschaftlichen Anstalten hatten und haben überaus große Schwierigkeiten zu überwinden. Die Betriebe, die sie übernommen haben, waren ausschließlich der Befriedigung des Kriegsbedarfes angepaßt gewesen; sie können nur mit sehr großen Schwierigkeiten und Kosten auf die Friedensproduktion umgestellt werden. So haben zum Beispiel die österreichischen Werke eine große Kanonenfabrik übernommen; die Betriebe, die nun nicht mehr zu ihrem ursprünglichen Zwecke verwendet werden können, mußten sie nun den verschiedensten neuen Zwecken anpassen. Aus der Kanonenfabrik gingen so allmählich eine Werkzeugmaschinenfabrik, ein Jagdwaffenfabrik, eine Erzeugungsstätte landwirtschaftlicher Maschinen, eine Kraftwagenfabrik, eine Bau- und Möbeltischlerei hervor. Dabei fehlte es den Anstalten an Kapital, diese Umstellung schnell durchzuführen. Die Anstalten waren in einer Zeit schneller Geldentwertung entstanden. In einer solchen Zeit muß jede industrielle Unternehmung ihr Betriebskapital immer wieder erhöhen. Die kapitalistische Aktiengesellschaft tut dies, indem sie von Zeit zu Zeit neue Aktien ausgibt und indem sie den Bankkredit stärker in Anspruch nimmt. Für die gemeinwirtschaftlichen Anstalten waren beide Wege nicht gangbar. Sie können natürlich keine Aktien ausgeben. Das Gesetz über die gemeinwirtschaftlichen Unternehmungen hatte ihnen allerdings das Recht eingeräumt, festverzinsliche Obligationen auszugeben. Aber die Begebung festverzinslicher Obligationen ist in einer Zeit schneller Geldentwertung unmöglich. Der § 8 des Gesetzes gab allerdings dem Staatssekretär für Finanzen das Recht, die Banken zu zwingen, daß sie einen vom Staatssekretär bestimmten Teil ihrer fremden Gelder und ihrer Reservefonds in Schuldverschreibungen der gemeinwirtschaftlichen Anstalten anlegen. Aber die Regierungen haben sich nie entschlossen, von diesem Recht Gebrauch zu machen. Aber auch in anderen Formen konnten die gemeinwirtschaftlichen Anstalten hinreichenden Bankkredit nicht bekommen. Die Banken gewähren Kredit den Unternehmungen, an denen sie beteiligt sind und die sie kontrollieren; den Anstalten, die ihrer Kontrolle nicht unterworfen sind, verweigerten sie den Kredit um so mehr, da die ständige feindliche Agitation der kapitalistischen Presse das Vertrauen zu diesen Unternehmungen erschütterte. So waren die gemeinwirtschaftlichen Anstalten darauf angewiesen, immer wieder vom Staat Zuschüsse zu ihrem Betriebskapital zu verlangen. Infolge der Notwendigkeit, ihr Betriebskapital zu vergrößern, blieben sie auf Staatszuschüsse angewiesen, obwohl ihre Bilanzen schon am Ende des ersten Geschäftsjahres nicht unbeträchtliche Reinerträgnisse auswiesen. Der Staat aber, in ärgster Finanznot, konnte den Geldbedarf der Anstalten immer nur unzureichend befriedigen; dadurch wurde ihre Entwicklung, wurde besonders die Durchführung der zur Umstellung auf die Friedensproduktion erforderlichen Investitionen verlangsamt. Die Anstalten sahen sich gezwungen, einzelne ihrer Betriebe, die sie infolge ihrer Geldnot nicht in Gang setzen konnten, an gemischtwirtschaftliche Unternehmungen, die sie mit privaten Kapitalisten zusammen begründeten, zu übertragen. So konnte zum Beispiel das Stahlwerk des Arsenals nur auf diese Weise in Gang gebracht werden. Auf diese Weise entwickelten sich mannigfache Verbindungen und Mischformen zwischen den gemeinwirtschaftlichen Anstalten und kapitalistischen Unternehmungen. Diese finanziellen Schwierigkeiten werden wohl überwunden werden, wenn der Geldwert nicht weiter sinkt. Aber erst die Erfahrung wird zeigen können, wie die noch nicht hinreichend gefestigten Anstalten die Gefahren der Absatzkrise bestehen werden, die der Stabilisierung des Geldwertes gefolgt ist.

Aber wenn auch die Schwierigkeiten der Anfänge der Gemeinwirtschaft noch keineswegs als überwunden gelten können, so hat sich doch die gemeinwirtschaftliche Unternehmungsform der bürokratischen schon jetzt unzweifelhaft überlegen erwiesen. Die Kriegsindustriebetriebe gewannen sofort ein ganz anderes Aussehen, sobald sie aus den Händen der bürokratischen „Generaldirektion der staatlichen Industriewerke“ in die Hände der gemeinwirtschaftlichen Anstalten übergingen. Die Leitung wurde kaufmännisch beweglich, die Produktion wurde in Gang gebracht, Arbeitsintensität und Arbeitsdisziplin wurden unter tätiger Mitwirkung der Betriebsräte und Gewerkschaften schnell verbessert, die Betriebsdefizite, die unter der bürokratischen Leitung überaus groß gewesen waren, sehr schnell reduziert. Gelingt es, die Anstalten mit hinreichendem Betriebs- und Investitionskapital auszustatten, dann ist ihre Lebens- und Leistungsfähigkeit nicht zu bezweifeln.

Das Gesetz über die gemeinwirtschaftlichen Unternehmungen hatte den Anstalten auch die Möglichkeit zu sichern gesucht, ihren Einfluß über ihre eigenen Betriebe hinaus zu erstrecken, in die kapitalistischen Unternehmungen einzudringen. Der § 37 des Gesetzes gibt der Staatsverwaltung das Recht, bei der Gründung von Aktiengesellschaften und bei Kapitalserhöhungen der Aktiengesellschaften eine Beteiligung am Gesellschaftskapital bis zur Hälfte zu Bedingungen zu verlangen, die nicht ungünstiger sein dürfen als die bevorzugten Bedingungen, zu denen die neuen Aktien den Gründern der Aktiengesellschaft oder den Inhabern der alten Aktien überlassen werden. In einer Zeit, in der die Geldentwertung alle Aktiengesellschaften immer wieder zur Erhöhung ihres Aktienkapitals zwang, konnte diese Bestimmung benützt werden, um einerseits dem Staat oder den vom Staat errichteten gemeinwirtschaltlichen Anstalten Beteiligungen an kapitalistischen Unternehmungen zu erzwingen, um anderseits den „Gründergewinn“, der bei dem Bezug neuer Aktien zu den begünstigten Bedingungen erlangt wird, dem Privatkapital zu entziehen und ihn dem Gemeinwesen zuzuführen. Die Finanznot hat es freilich dem Staat zunächst unmöglich gemacht, das Recht des § 37 wirksam auszunützen. Später aber hat die Gemeinde Wien den § 37 benützt, um Beteiligungen an vielen industriellen Unternehmungen zu erwerben; und auch den gemeinwirtschaftlichen Anstalten konnten mittels des § 37 in einigen Fällen Beteiligungen an Aktiengesellschaften zu begünstigten Bedingungen erworben werden. So haben zum Beispiel die Vereinigten Leder- und Schuhfabriken Beteiligungen an einer großen Lederfabrik und an einer kapitalistischen Schuhfabrik erworben. Wenn erst einerseits die finanzielle Kraft der gemeinwirtschaftlichen Anstalten stärker wird, anderseits die politische Macht der Arbeiterklasse die regelmäßige, planmäßige Anwendung des § 37 durchsetzt, kann der § 37 zu einem Mittel werden, die kapitalistischen Unternehmungen selbst einer sich allmählich verstärkenden Kontrolle durch die gemeinwirtschaftlichen Anstalten zu unterwerfen.

Die Gemeinwirtschaft ist heute schon in viele Industriezweige eingedrungen: in die Metall- und Maschinenindustrie durch die Österreichischen Werke und die Steirischen Fahrzeugwerke, in die chemische Industrie durch die Heilmittelstelle und die Blumauer gemischtwirtschaftlichen Unternehmungen, in die Holzindustrie durch die Wiener Holzwerke, die von den Österreichischen Werken gemeinsam mit der Siedlungs- und Baustoffanstalt begründet wurden und die Tischlerei im Arsenal betreiben, in die Textilindustrie durch die Wäsche- und Bekleidungs-A.-G., die Webereien in den ehemaligen Militärbetrieben in Brunn a.G. und in Fischamend in Gang gebracht hat, in die Bauindustrie durch die Siedlungs- und Baustoffanstalt. So sind innerhalb aller dieser Industrien gemeinwirtschaftliche Keimzellen entstanden, die, wenn sie hinreichende Wachstumsenergie zu entfalten vermögen, allmählich auf Kosten der kapitalistischen Industrie Raum gewinnen und die kapitalistische Industrie durchdringen können. Vor allem aber bieten die gemeinwirtschaftlichen Anstalten die Möglichkeit, allmählich die Methoden der gemeinwirtschaftlichen Verwaltung dieser Industriezweige zu erarbeiten und allmählich Staatsbeamte, Genossenschafter und Gewerkschafter zur gemeinwirtschaftlichen Verwaltung dieser Industriezweige zu erziehen. Und das ist wohl die wichtigste Funktion dieses gemeinwirtschaftlichen Aufbaus im Entwicklungsgang zu einer sozialistischen Gesellschaftsordnung. Die Arbeiterklasse kann nicht, ohne die Produktion zu zerstören, die Kapitalisten expropriieren, solange sie nicht selbst die Fähigkeiten besitzt, .die expropriierten Produktionsmittel zu verwalten; diese Fähigkeiten zu entwickeln, die Methoden zweckmäßiger gemeinwirtschaftlicher Verwaltung der Industrie zu finden, einen zu dieser Aufgabe der Gemeinwirtschaft, die sich im Schoße der kapitalistischen Gesellschaft entwickelt.

Der stürmischen Zeit, in der das Gesetz über die gemeinwirtschaftlichen Unternehmungen entstanden ist, konnte freilich eine so langsame Entwicklung der Elemente der sozialistischen Zukunft nicht genügen. In den Winter- und Frühjahrsmonaten 1919, in der Zeit der großen Kämpfe um Rätediktatur und Sozialisierung in Deutschland, in der Zeit der Rätediktatur in Ungarn, drängten die Massen auch in Deutschösterreich nach der Sozialisierung der Privatindustrie und auch wir konnten nicht voraussehen, ob nicht Siege der Sozialisierungsbewegung in den Nachbarstaaten auch in unserem Lande die Sozialisierung einzelner Zweige der Produktion möglich und notwendig machen werden. In der Sozialisierungskommission und in ihrem Büro wurden unter der Leitung des Heidelberger Professors Emil Lederer Projekte für die Sozialisierung einzelner Produktionszweige ausgearbeitet. Wir nahmen zunächst die Sozialisierung der großen Eisenindustrie, des großen Forstbesitzes, des Großhandels mit Kohle und des Kohlenbergbaus in Aussicht und entwarfen ein Projekt, den Ausbau der Wasserkräfte in gemeinwirtschaftlichen Formen durchzuführen. Das Gemeinwesen sollte also zunächst die Verfügung über die beiden wichtigsten Rohstoffe, Eisen und Holz, und über die beiden wichtigsten Energiequellen, Kohle und Wasserkraft, an sich ziehen. Aber schon im Verlauf des Sommers 1919 wurde immer deutlicher erkennbar, daß sich der Verwirklichung dieser Projekte unüberwindliche Hindernisse entgegentürmten.

Der Widerstand der Kapitalisten gegen die Expropriation einiger Produktionszweige fand zunächst im Länderpartikularismus einen mächtigen Bundesgenossen. Die Landesregierungen von Steiermark und von Kärnten verlangten, daß die Eisenindustrie nicht durch den Staat sozialisiert, sondern verländert werde. Alle Landesregierungen erklärten, daß ein jedes Land allein über seine Wasserkräfte verfügen könne. Der Sozialisierung des Forstbesitzes stellten die Länder ganz entgegengesetzte Pläne gegenüber; sie gingen daran, durch Landesgesetze die bäuerlichen Servituten auf den Staatsforsten gegen Abtretung von Boden abzulösen, also die Forste, statt sie zu sozialisieren, auf die Bauern zu verteilen. Dieser Widerstand der Länder hat die Verhandlungen über die Sozialisierung gerade in der für sie günstigsten Zeit in die Länge gezogen. Indessen aber wurden viel schwerere Hindernisse anderen Ursprungs wirksam.

Wir hatten als erste Aktion die Sozialisierung der Eisenindustrie ins Auge gefaßt; sie mußte mit der Sozialisierung der Alpinen Montangesellschaft beginnen. Die Bedingungen für sie waren günstig. Die Prager Eisenindustriegesellschaft hatte ihren Besitz an Alpineaktien abgestoßen; die Gesellschaft war nunmehr zur Gänze im Besitz deutschösterreichischer Kapitalisten, Der Kurs der Aktien war sehr niedrig; wir wären bei voller Entschädigung der Aktionäre sehr billig in den Besitz des Unternehmens gekommen. Aber die bereits in Angriff genommene Aktion wurde durch eine Gegenaktion, die von einem Mitglied der Regierung selbst ermöglicht und gefördert wurde, durchkreuzt. Professor Schumpeter, der Staatssekretär für Finanzen der ersten Koalitionsregierung, war ein entschiedener Anhänger der Sozialisierung gewesen. Er hatte in den ersten Revolutionswochen mit dem Bolschewismus kokettiert, hatte dann an den Arbeiten der Berliner Sozialisierungskommission regen Anteil genommen und hatte damals in Berlin, aber auch später noch, in der Zeit der ungarischen Rätediktatur, in Wien die Sozialisierungspolitik der Sozialdemokratie nicht selten als nicht energisch und nicht radikal genug bekämpft. Aber sehr bald vollzog er eine vollständige Wendung. Er hatte Beziehungen zu dem Wiener Bankier Richard Kola angeknüpft; Kola unternahm in Schumpeters Auftrag eine Stützungsaktion für die deutschösterreichische Krone und kaufte für das Staatsamt für Finanzen ausländische Zahlungsmittel auf. In Schumpeters Auftrag fuhr Kola nach Zürich; dort vereinbarte er mit einer italienischen Finanzgruppe eine große Transaktion: Kola begann die Aktien der Alpinen Montangesellschaft für eine italienische Finanzgruppe aufzukaufen. Schumpeter unterstützte diese Aktion seines Bankiers, weil Kola die Lire, die er für die Alpineaktien löste, dem Finanzamt ablieferte, das ausländische Zahlungsmittel zur Bezahlung der Lebensmittel- und Kohlenbezüge dringend brauchte. Schumpeter unterstützte diese Aktion, obwohl er wußte, daß wir die Sozialisierung der Alpinen Montangesellschaft in Aussicht genommen hatten. Er unterstützte sie, ohne die anderen Regierungsmitglieder von ihr zu verständigen. Wir erfuhren von der ganzen Transaktion erst, als ihr Fortgang nicht mehr zu hindern war. Dieses Vorgehen Schumpeters führte zu einem heftigen Konflikt innerhalb der Koalitionsregierung, in dem Schumpeter die Unterstützung der Wiener Christlichsozialen suchte und fand; dieser Konflikt endete damit, daß Schumpeter bei der Wahl der zweiten Koalitionsregierung ausgeschieden wurde. Das Ergebnis dieser Aktion Schumpeters aber war, daß uns in der Alpinen Montangesellschaft nunmehr ausländisches Kapital gegenüberstand. Nun trat der italienische General, der an der Spitze der interalliierten Waffenstillstandskommission in Wien stand, ganz offen als Sachwalter der italienischen Aktionäre der Alpinen Montangesellschaft auf. Als die deutschösterreichische Regierung junge Aktien, die die Alpine Montangesellschaft ausgegeben hatte, auf Grund des § 37 des Gesetzes über die gemeinwirtschaftlichen Unternehmungen beanspruchte, erzwang die italienische Regierung den Verkauf der angeforderten Aktien an eine italienische Bankengruppe. So war an die Sozialisierung der Alpinen Montangesellschaft nicht mehr zu denken, sobald sie in italienische Hände gefallen war. Der dem Ausland gegenüber so schwache Staat konnte es nicht wagen, ausländische Kapitalisten zu enteignen.

Aber auch unsere anderen Sozialisierungsprojekte stießen auf Hindernisse, die im Ausland ihren Ursprung hatten. Die Sozialisierung der Kohlenwirtschaft hätte in Deutschösterreich nicht von unserem Kohlenbergbau, der ja nur einen kleinen Teil des Bedarfes deckt, sondern von dem Großhandel mit Kohle ausgehen müssen. Die in der Kriegszeit geschaffene Kohlenbewirtschaftung hätte von einer gemeinwirtschaftlichen Anstalt übernommen werden müssen. Indessen war die staatliche Kohlenbewirtschaftung damals nicht imstande, den Kohlenbedarf zu decken, während sich private Unternehmer durch Ausnützung individueller geschäftlicher Beziehungen in der Tschechoslowakei und in Oberschlesien auf Schleichwegen Kohle beschaffen konnten, die dem Staat nicht erreichbar war. Insbesondere die Handelsunternehmungen, an denen die oberschlesischen Kohlengroßhändler selbst beteiligt waren, waren für unsere Kohlenversorgung kaum entbehrlich. Unter diesen Verhältnissen hatte die Monopolisierung des Kohlenhandels durch eine gemeinwirtschaftliche Anstalt unsere Kohlenversorgung nur verschlechtern können. Sie mußte daher vertagt werden.

Der Ausbau der Wasserkräfte war ohne Heranziehung ausländischen Kapitals nicht möglich. Wir glaubten zuerst, die gesamte Elektrizitätswirtschaft einer gemeinwirtschaftlichen Anstalt übertragen zu können, die dann zum Ausbau und Betrieb der einzelnen Wasserkräfte gemischtwirtschaftliche Unternehmungen mit Heranziehung ausländischen Kapitals bilden sollte. Aber alle Verhandlungen mit ausländischen Kapitalisten bewiesen, daß das ausländische Kapital selbst einer solchen Sozialisierung argwöhnisch gegenüberstand. Man glaubte daher, die Sozialisierung der Wasserkräfte nicht wagen zu können, ohne den Ausbau der Wasserkräfte zu gefährden.

Alle diese äußeren Hindernisse der Sozialisierung waren auf eine gemeinsame Hauptursache zurückzuführen. Seit der Aufhebung der Blockade war unsere Wareneinfuhr aus dem Ausland bedeutend gestiegen. Aber die Zerrüttung unserer Produktion machte es unmöglich, so viel auszuführen, daß wir mit dem Erlös unserer Ausfuhr die eingeführten Waren hätten bezahlen können. Konnten wir die Einfuhr nicht mit der Ausfuhr unserer Produkte, so mußten wir sie mit dem Verkauf unserer Produktionsmittel bezahlen. Es war unvermeidlich, daß deutschösterreichische Aktien und Unternehmungen an das Ausland verkauft werden; unvermeidlich, daß ausländisches Kapital in unsere Produktion eindringt. Das Passivum unserer Zahlungsbilanz mußte durch Kapitalsimport gedeckt werden. Jede Expropriation des Privatkapitals aber mußte den für unsere Volkswirtschaft unentbehrlichen Kapitalsimport gefährden. Man konnte nicht erwarten, daß Ausländer unsere Aktien und Unternehmungen kaufen, ihr Kapital in unsere Industrie anlegen, wenn sie befürchten mußten, hier enteignet zu werden. So fand der Widerstand der heimischen Kapitalisten gegen die Sozialisierutig ihrer Produktionsmittel eine starke Unterstützung in dem realen Bedürfnis einer Volkswirtschaft, die den Zustrom des ausländischen Kapitals nicht entbehren konnte. Dieser Widerstand wurde daher desto stärker, je deutlicher seit der Aufhebung der Blockade dieses reale Bedürfnis erkennbar wurde.

Ein unbedingtes Hindernis jeder Sozialisierung der Privatindustrie war die Notwendigkeit des Kapitalsimports gewiß nicht. Hätte die mächtige Bewegung, die aus dem Kriege hervorgegangen war, auch in den anderen Ländern die Sozialisierung einzelner Produktionszweige durchgesetzt, dann hätte auch die Sozialisierung einzelner Produktionszweige in Deutschösterreich den notwendigen Kapitalsimport nicht hemmen müssen, wenn sie nur, wie wir das ja in Aussicht genommen halten, in rechtlichen Formen und gegen angemessene Entschädigung durchgeführt worden wäre und sich auf wenige, im voraus bestimmte Produktionszweige beschränkt, alle anderen aber der freien Bewegung des Marktes überlassen hätte. Sobald aber die Westmächte die soziale Krise der Demobilisierungsmonate überwunden hatten und sobald im Deutschen Reiche die Reichswehr die revolutionären Bewegungen der Arbeiter niedergeworfen, das Proletariat in die Defensive gedrängt und damit die Sozialisierung auch dort von der Tagesordnung abgesetzt hatte, sobald sich also in ganz West- und Mitteleuropa der Kapitalismus wieder befestigt, den Ansturm des Sozialismus abgewehrt hatte, galt nun freilich wieder jede Sozialisierung eines einzelnen Industriezweiges, sei es auch in allen Formen Rechtens und gegen volle Entschädigung der Eigentümer, als „Bolschewismus“. Nun freilich konnte der abhängigste, auf den Kapitalzufluß aus dem Ausland am stärksten angewiesene Staat Europas keine Expropriation mehr wagen, wenn er sich nicht selbst den zur Deckung seiner Lebensmittel-, Kohlen- und Rohstoffbezüge erforderlichen Zufluß ausländischen Kapitals sperren wollte. Daher erstarkte im Sommer 1919 der Widerstand gegen alle Sozialisierungsbestrebungen überaus schnell; sobald dann die ungarische Rätediktatur zusammengebrochen war, war es offenkundig, daß nun keine Aussicht mehr bestand, die Sozialisierung durchzusetzen.

In seinen Klassenkämpfen in Frankreich kritisiert Marx die Illusionen der Pariser Arbeiter von 1848, die meinten, „innerhalb der nationalen Wände Frankreichs eine proletarische Revolution vollziehen zu können. Aber die französischen Produktionsverhältnisse sind bedingt durch den auswärtigen Handel Frankreichs, durch seine Stellung auf dem Weltmarkt, und die Gesetze desselben.“ Aber wenn es wahr ist, daß selbst den Produktionsverhältnissen des Frankreich von 1848 der Weltmarkt seine Gesetze aufzwang, wie erst den Produktionsverhältnissen des auf ausländische Lebensmittel und ausländische Kohle, auf ausländische Kredite und auf den Zufluß ausländischen Kapitals angewiesenen Deutschösterreich von 1919! Innerhalb der allzu engen und allzu brüchigen „nationalen Wände“ Deutschösterreichs war die soziale Revolution gewiß nicht zu vollziehen. Wir hatten auch hier um die Sozialisierung kämpfen müssen, solange auch nur die geringste Hoffnung bestand, daß die aus dem Kriege geborene mitteleuropäische Revolution über den Rahmen der bürgerlichen Eigentumsordnung hinwegschreiten, zur „Expropriation der Expropriateurs“ fortschreiten werde. Sobald es gewiß war, daß sich der Kapitalismus nicht nur in den Siegerländern, sondern auch in den revolutionierten mitteleuropäischen Staaten behauptet und befestigt hatte, mußten wir den Kampf um die Expropriation der Privatindustrie einstellen und unsere Sozialisierungsaktion auf den Aufbau der Gemeinwirtschaft auf der engen Basis der Überbleibsel der staatlichen Kriegsindustrie beschränken.

Unser Kampf um die Sozialisierung war darum nicht erfolglos geblieben. Es ist ein Gesetz, jeder Revolution, daß sie sich Ziele über das im Augenblick Erreichbare hinaus setzen muß, um auch nur das Erreichbare durchzusetzen. Nur der Generalangriff, den die Arbeiterklasse gegen das kapitalistische System überhaupt führte, indem sie nach der Expropriation des Kapitals drängte, konnte den Kapitalismus so schwer erschüttern, daß er die weitestgehenden Zugeständnisse machen mußte, die innerhalb des kapitalistischen Systems überhaupt noch möglich sind. Die gewaltig gestärkte Machtstellung der Arbeiterschaft in den Betrieben, die Umwälzung des Arbeiterrechtes und der Arbeiterschutzgesetzgebung, die neue demokratische Arbeitsverfassung, die sich in den Betriebsräten und Personalvertretungen verkörpert, die Ersetzung der bürokratischen Betriebsverwaltung durch gemeinwirtschaftliche Anstalten, so tiefgreifende Eingriffe in die Souveränität des Kapitals, wie es die zwangsweise Einstellung von. Arbeitslosen in die Betriebe oder wie es die §§ 8 und 37 des Gesetzes über die gemeinwirtschaftlichen Unternehmungen waren – das sind die realen Ergebnisse unseres Kampfes um die Sozialisierung. Das kapitalistische System selbst konnten wir freilich nicht sprengen. In derselben Zeit, in der unsere nationale Revolution, auf den sieghaften Imperialismus Frankreichs gestoßen, mit der „westlichen Orientierung“ dem Ziel des Anschlusses an Deutschland entsagen mußte, mußte unsere soziale Revolution, dem wieder befestigten Kapitalismus in ganz West- und ganz Mitteleuropa gegenüber, dem Ziel der sofortigen Expropriation der Expropriateurs entsagen. Es war eine bürgerliche Revolution, was sich rings um Deutschösterreich vollzogen hatte; im Rahmen der bürgerlichen Revolution rings um uns konnte sich nicht die sozialistische Revolution in unserem kleinen und schwachen Lande vollziehen. Aber konnte auch unsere Revolution die Kapitalsherrschaft über die Produktion nicht brechen, so hat sie doch in die kapitalistische Produktionsverfassung Keimzellen der sozialistischen Produktionsverfassung der Zukunft eingefügt, Elemente einer die Selbstbestimmung der Arbeiterklasse in ihrem Produktionsprozeß verwirklichenden Produktionsverfassung, die, wie vor allem die Betriebsräte und die gemeinwirtschaftlichen Anstalten, die in ihnen liegenden Keime nur zur Entwicklung bringen müssen, um die Herrschaft des Kapitals allmählich einzudämmen und schließlich zu sprengen.


Zuletzt aktualisiert am 4.8.2008