MIA > Deutsch > Marxisten > Bauer > Die österreichische Revolution
Literatur:
Redlich, Das österreichische Staats- und Reichsproblem, Leipzig 1920. – Wieser, Österreichs Ende, Berlin 1919. – Kautsky, Habsburgs Glück und Ende, Berlin 1918.
Marx, Herr Vogt, London 1860. – Engels, Gewalt und Ökonomie bei der Herstellung des neuen Deutschen Reiches, Neue Zeit, XIV, 1. – Schulze, Marx oder Radetzky? Der Kampf, 1918.
Wir haben den Verlauf der Ereignisse von den nationalen Kämpfen, die die Habsburgermonarchie in den Krieg hineintrieben, durch die nationalen Bewegungen der Kriegszeit hindurch bis zur Auflösung der Habsburgermonarchie dargestellt. An diesem Wendepunkt wollen wir einen Augenblick innehalten und nochmals einen Blick auf die Ereignisse, denen das habsburgische Imperium nach vierhundertjälirigem Bestand erlegen ist, werfen, um aus der verwirrenden Fülle der Erscheinungen ihren wesentlichen Inhalt herauszuschälen zu versuchen.
Die Gegensätze zwischen den Weltmächten hatten den Krieg, der im Jahre 1914 aus dem Zusammenstoß zwischen der habsburgischen Monarchie und dem Einheits- und Freiheitsdrang des jugoslawischen Volkes entstanden war, zum Weltkrieg erweitert. Der Krieg selbst hatte in seinem Verlauf seinen Charakter verändert. Ursprünglich nichts als ein Kampf zweier imperialistischer Mächtegruppen gegeneinander, war er seit dem Zusammenbruch des russischen Zarismus im März 1917 und seit dem Eingreifen der Vereinigten Staaten in den Krieg zu einem Kampf zweier politischer Systeme geworden.
Drüben standen England, Frankreich, Italien, die Vereinigten Staaten – durchweg parlamentarisch regierte Länder, von der Bourgeoisie in den Formen der Demokratie beherrscht. Hüben stand das Deutsche Reich, von der Dynastie und vom Junkertum in den Formen des militärisch-bürokratischen Obrigkeitsstaates regiert, der nur die Oberschicht der Bourgeoisie, das Finanzkapital und die Schwerindustrie zu tatsächlicher Mitherrschaft zuließ; stand Österreich-Ungarn, von der Dynastie, der Generalität, der Bürokratie, dem Episkopat beherrscht, wobei magyarische Magnaten, böhmische Feudale, polnische Schlachzizen, die deutschösterreichische Bourgeoisie mittelbar mitregierten. Drüben die Herrschaft der Bourgeoisie, hüben die Vorherrschaft der Dynastien, der Generalität, des Adels – das war der tatsächliche soziale Gegensatz. Drüben die Demokratie, hüben der Obrigkeitsstaat – das war der Gegensatz der herrschenden Ideologien.
Die Westmächte mußten die ganze Volkskraft entfesseln, um zu siegen. Ihr Sieg hing vom Willen und von der Kraft der Massen, der Massen im leide und der Massen in der Kriegsindustrie ab. Sie bedienten sich der Kraft der demokratischen Ideologien, der großen Traditionen der bürgerlichen Revolution, um den Siegeswillen ihrer Massen zu entflammen. Sie konnten ihren Krieg als den Krieg der Demokratien gegen Militarismus Absolutismus und Feudalismus darstellen, sobald nicht mehr der Zarismus an ihrer Seite focht. Woodrow Wilsons wirkungsvolles Wort gab seither ihrem Kriege die mächtige demokratische Ideologie.
Der Sieg der Bourgeoisie über die Dynastien, den Adel, die Militärkaste; der Sieg der Demokratie über den autoritären Obrigkeitsstaat ist der Inhalt aller bürgerlichen Revolutionen. Dieser Sieg, erkämpft auf den Barrikaden aller bürgerlichen Revolutionen, wurde abermals erkämpft auf den französischen Schlachtfeldern im Jahre 1918. Der Sieg der Westmächte über die Mittelmächte war der Sieg der Bourgeoisdemokratie über die oligarchischen Militärmonarchien. Es war die größte, die blutigste bürgerliche Revolution der Weltgeschichte.
Im Rahmen dieser allgemeinen bürgerlichen Revolution vollzog sich während des Krieges die österreichische Revolution. Auch sie war eine bürgerliche Revolution. Sie war ihrem Ursprung und Wesen nach die Revolution des jugoslawischen, des tschechischen und des polnischen Bürgertums.
Noch am Anfang des 19. Jahrhunderts waren Tschechen und Jugoslawen Bauernvölker gewesen, von fremden Herrenklassen beherrscht. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts hatte sich in ihrem Schoße ein nationales Bürgertum entwickelt. Mit der Entwicklung der Volksschule und der Presse, mit der Demokratisierung des öffentlichen Lebens hatte dieses nationale Bürgertum allmählich die Kleinbürger, die Bauern, die Arbeiter mit seiner nationalen Ideologie erfüllt, sie in den Kampf gegen die aus der Zeit des Feudalismus und des Absolutismus überlieferten nationalen Herrschaftsverhältnisse, in den Kampf gegen die Vorherrschaft der deutschen Bourgeoisie und der magyarischen Gentry, in den Kampf um die nationale Staatlichkeit geführt. Seit 1903 und 1908 hatte dieser Kampf bedrohliche Heftigkeit angenommen.
Auch im polnischen Volk hatte sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts ein Bürgertum entwickelt, das allmählich statt des Adels die Führung der Nation übernommen hatte. Seit der Verschärfung der preußischen Polenpolitik geriet es in immer schärferen Gegensatz gegen die deutsche Welt Seit der russischen Revolution 1905 gewann der Einheitsdrang des polnischen Volkes wieder stärkere Macht.
Die Verschärfung der nationalen Gegensätze erschütterte das Reich. Die Monarchie versuchte es, durch den Krieg nach außen die permanente innere Krise zu überwinden. Darum stürzte sie sich in den Krieg. Aber damit machte sie ihre Existenz selbst vom Ausgang des Krieges abhängig.
Die furchtbaren Opfer an Blut und Gut, die der Krieg heischte, trugen die slawischen Völker doppelt schwer; erschienen sie ihnen doch als Opfer für einen ihnen fremden Staat, für eine ihnen feindliche Sache. Je länger der Krieg dauerte, desto mehr erstarkte daher in den slawischen Ländern die nationalrevolutionäre Bewegung gegen Österreich. Zunächst setzte sie sich als ihr Ziel die nationale Staatlichkeit in einer Völkerföderation unter Habsburgs Zepter. Aber zwei weltgeschichtliche Ereignisse, die der Krieg hervorrief, ermöglichten es ihr schließlich, sich den vollständig souveränen Nationalstaat und damit die vollständige Zerstörung der Habsburgermonarchie zum Ziel zu setzen.
Das erste dieser Ereignisse war die russische Revolution. Solange der russische Zarismus ungebrochen war, war die Existenz der österreichisch-ungarischen Monarchie eine europäische Notwendigkeit; wäre sie zerfallen, so wären die slawischen Staaten, die aus ihr entstehen mußten, unvermeidlich zu Vasallenstaaten Rußlands geworden. Ihr Zerfall hätte daher die Herrschaft des Zarismus über Europa begründet. „Der einzige Umstand, der die staatliche Existenz Österreichs seit Mitte des 18. Jahrhunderts rechtfertigt,“ schrieb Marx im Jahre 1860, „ist sein Widerstand gegen die Fortschritte Rußlands im Osten Europas – ein Widerstand, hilflos, inkonsequent, feig, aber zäh.“ Diesen „Widerstand, hilflos, inkonsequent, feig, aber zäh“ hat das kaiserliche Heer zum letztenmal in der großen Winterschlacht 1914/15 in den Karpathen geleistet. An der Duklasenke, bei Mezölaborcz, am Uzsokpaß zerbrach die Angriffskraft des Zarismus. Die russische Kraft war zermürbt; im Frühjahrsfeldzug 1915 wurde sie zerbrochen. Der russischen Revolution war der Weg frei.
Die russische Revolution revolutionierte alle Völker der Habsburgermonarchie. Sie ermutigte die jugoslawische Bewegung. Sie einigte die vorher zwischen österreichischer und russischer Orientierung schwankenden Polen gegen die Mittelmächte. Sie gab den Tschechen die Gelegenheit, durch ihr selbständiges Auftreten an der Wolga und in Sibirien den Westmächten ihre Anerkennung als kriegführende Macht abzuringen. Sie entschied damit den Untergang der Habsburgermonarchie.
Im Jahre 1888 schrieb Friedrich Engels, die Sprengung Österreichs wäre unheilvoll gewesen „vor dem bevorstehenden Sieg der Revolution in Rußland, nach welchem sie überflüssig wird, weil das dann überflüssig gemachte Österreich von selbst zerfallen muß“. Dieses Vonselbstzerfallen – wir haben es im Oktober und November 1918 erlebt in der Bildung der Nationalstaaten im Hinterland, in der Selbstauflösung der kaiserlichen Armee in der venezianischen Ebene.
Der Sieg der russischen Revolution hat die nationale Revolution der Tschechen, Polen und Jugoslawen bis zum Kampf um die volle staatliche Selbständigkeit, um die vollständige Auflösung der Habsburgermonarchie vorwärtsgetrieben. Die Niederlage des deutschen Kaisertums hat dieser Revolution den Sieg gesichert. Solange das Deutsche Reich aufrecht stand„ konnte Österreich nicht zerfallen; die deutsche Macht verbürgte Österreichs Bestand, weil sich Deutschland mittels der Deutschösterreicher und der Magyaren die slawischen und romanischen Völker der Monarchie in. seiner Botmäßigkeit erhielt. Solange das Deutsche Reich aufrecht stand, konnten selbst die slawischen Völker den Zerfall der Monarchie nicht wünschen; mußten doch Tschechen und Slowenen fürchten, daß das Deutsche Reich bis zur Adria vordringen, sich die alten deutschen Bundesländer einverleiben werde, wenn Österreich zerfällt. Erst als gewaltige Übermacht die Kraft des deutschen Heeres an der Westfront zerbrach, konnte die Revolution der Tschechen, Südslawen und Polen vollständigen Sieg erkämpfen.
So setzte die nationale Revolution der drei slawischen Völker den Sieg der Westmächte voraus. In den ersten dreieinhalb Jahren des Krieges hatten sich die Westmächte keineswegs die Zerschlagung der Habsburgermonarchie zum Ziel gesetzt. Erst nachdem die Verhandlungen mit Österreich-Ungarn über einen Sonderfrieden im Jahre 1917 ergebnislos geblieben waren; erst nachdem das Friedensdiktat der Mittelmächte in Brest-Litowsk und in Bukarest und Czernins Angriff auf Clemenceau am 2. April 1918 die Wiederaufnahme solcher Verhandlungen unmöglich gemacht hatten; erst nachdem die tschechischen Legionen an einer für die Westmächte lebenswichtigen Stelle die „Ostfront wiederherstellten“, erst dann gelang es der revolutionären Emigration, die Westmächte für die völlige Auflösung der Donaumonarchie zu gewinnen. Jetzt erst wurde das Ziel der bürgerlichen Revolution der Tschechen. Polen und Südslawen zu einem Kampfziel jener ungleich größeren allgemeinen bürgerlichen Revolution, zu der der Krieg der Westmächte gegen die Mittelmächte geworden war.
Die Deutschösterreicher und die Magyaren waren nicht die Träger dieser Revolution, sondern ihre Opfer. Als sich in der Stunde des Sieges der Westmächte die anderen Nationen von der Habsburgermonarchie losrissen, blieben Deutsche und Magyaren zurück. Der Staat, in dem sie bisher die führende Stellung gehabt, löste sich auf. Die Grundlagen ihres wirtschaftlichen Lebens waren zerstört. Großen Teilen beider Völker drohte die Unterwerfung unter Fremdherrschaft. Nun erst griff die Revolution auch auf Deutschösterreich und Ungarn über. Die Revolution der Deutschösterreicher und der Magyaren begann erst, als der vollständige Sieg der Revolution der Tschechen, Polen und Jugoslawen bereits unmittelbar bevorstand, bereits unabwendbar geworden war. Aus der nationalen Revolution rings um sie hervorgegangen, setzte sich auch die Revolution der Deutschösterreicher und der Magyaren zunächst nationale Ziele. Da die bisherigen Formen ihres staatlichen Lebens von der bürgerlichen Revolution rings um sie zerschlagen wurden, griffen die beiden Nationen zunächst auf die Ideen ihrer bürgerlichen Revolution, der Revolution von 1848, zurück. Die Magyaren suchten sich aus dem Zusammenbruch der Habsburgermonarchie zu retten, indem sie ihre Unabhängigkeit proklamierten. Die Deutschösterreicher, an der Möglichkeit verzweifelnd, als ein bloßer Rest des alten großen Österreich ein wirtschaftlich erträgliches, national selbständiges Leben führen zu können, proklamierten den Anschluß an Deutschland.
Aber begann auch die Revolution der Deutschösterreicher und der Magyaren als nationale Revolution, so erlangte sie doch ganz anderen sozialen Inhalt als die nationalen Revolutionen der Tschechen, der Polen, der Jugoslawen.
In der Tschechoslowakei, in Jugoslawien, in Polen hatten Bourgeoisie und Proletariat gemeinsam um die nationale Befreiung gekämpft. Der gemeinsam errungene Sieg ordnete das Proletariat vorerst vollständig der nationalen Idee der nationalen Bourgeoisie unter. Im Triumph des errungenen nationalen Sieges fand das Proletariat in. den Revolutionsmonaten volle Befriedigung in der Aufrichtung, im Ausbau, in der Befestigung des nationalen Gemeinwesens. Es drängte über die Schranken einer bürgerlichen, nationalen Revolution nicht hinaus. Ganz anders war es in Deutschösterreich und in Ungarn. Die deutschösterreichische Bourgeoisie und die magyarische Herrenklasse hatten im Kriege nicht für die nationale Befreiung, sondern für die Aufrechterhaltung ihrer Herrschaft über die anderen Nationen gekämpft. Die nationale Revolution, die die Habsburgermonarchie sprengte, war hier nicht der endliche Sieg, sondern die endgültige Niederlage der nationalen Idee der Bourgeoisie. Mit Habsburg und Hohenzollern war hier auch die Bourgeoisie besiegt. Ihre Autorität war zusammengebrochen. Ihre Herrschaftsmittel waren mit der Auflösung der kaiserlichen Armee zerstört. Die Volksmassen erhoben sich gegen sie. Die Waffengewalt fiel in Wien und in Budapest in die Hände des Proletariats. Hier drängte die Revolution über den nationalen Rahmen zur sozialen, zur proletarischen Revolution hinaus.
Das alte große Reich, das alte große Wirtschaftsgebiet ist nicht durch die soziale Revolution des deutschösterreichischen und des magyarischen Proletariats zerschlagen worden, sondern durch die nationale Revolution der tschechischen, der polnischen, der jugoslawischen Bourgeoisie. Solange das Reich lebensfähig war, hat das deutschösterreichische Proletariat nicht gegen den Bestand des Reiches gekämpft, sondern für seine Umbildung zu einem Bundesstaat freier Völker – für die einzige Lösung des österreichisch-ungarischen Reichsproblems, die, wenn überhaupt eine, den Bestand des Reiches hätte retten können. Erst als die slawischen Nationen vom Reiche abfielen, erst als der Zusammenbruch des Reiches schon unabwendbar geworden war und unmittelbar bevorstand, erhob sich in Deutschösterreich und in Ungarn das Proletariat. Nicht durch die proletarische Revolution ist das Reich aufgelöst, sondern durch die Auflösung des Reiches ist die proletarische Revolution geweckt und entfesselt worden. Aber gerade weil die proletarische Revolution in Deutschösterreich und in Ungarn erst durch den Sieg der nationalen Revolution der slawischen Völker, die das Reich sprengte, ausgelöst und entfesselt worden ist, blieben in ihrem weiteren Verlauf das nationale und das soziale Problem der Revolution eng miteinander verknüpft.
Deutschösterreich ist kein organisch gewachsenes Gebilde. Es ist nichts als der Rest, der von dem alten Reich übriggeblieben ist, als die anderen Nationen von ihm abfielen. Es blieb zurück als ein loses Bündel auseinander strebender Länder, deren politisches Zusammengehörigkeitsgefühl und deren ökonomische Existenzgrundlagen durch den Zerfall des alten Reiches und des alten Wirtschaftsgebietes zerstört worden waren. Die Deutschösterreicher waren im alten Reich das politisch herrschende und das wirtschaftlich führende Volk gewesen: Wien war nicht nur der Sitz der Reichsbürokratie, sondern auch das Zentrum des Bankwesens und des Handels im alten Reiche, die Deutschen hatten dem alten Reiche nicht nur seine Offiziere und Beamten, sondern auch seine Industrieorganisatoren und Kaufleute gestellt. Die Auflösung des alten Reiches mußte daher einen großen Teil des deutschösterreichischen Volkes seiner Funktion und damit auch der wirtschaftlichen Grundlagen seines Lebens berauben. Deutschosterreich war das Industriegebiet des großen, überwiegend agrarischen Wirtschaftsgebietes der Habsburgermonarchie gewesen: seine Industrie war auf die Rohstoffquellen und auf die Absatzgebiete, die Ernährung seines Industrievolkes auf die Landwirtschaft und die Viehzucht der anderen Länder der Monarchie gegründet gewesen. Die Auflösung des alten Reiches mußte daher die deutschösterreichische Industrie schwer erschüttern und die Ernährung des deutschösterreichischen Industrievolkes empfindlich erschweren. Daß dieser Rest der alten Monarchie, durch eine gewaltsame Operation aus ihrem Wirtschaftskörper herausgerissen, selbständig ein erträgliches Leben zu führen imstande sein werde, hat in der Zeit der Revolution niemand geglaubt. Das Altösterreichertum hatte es in letzter Stunde noch versucht, die Verknüpfung der Nationen der Donaumonarchie in neuer Form zu retten; das war der Versuch der Regierung Lammasch. Er mußte scheitern, nachdem die Revolution in Rußland und die Niederlage Deutschlands den Befreiungskampf der slawischen Nationen zum Kampf um die volle, uneingeschränkte Souveränität gesteigert hatten. So suchte denn Deutschösterreich die neue Form seines staatlichen Lebens in der Heimkehr zur Mutternation, im Anschluß an Deutschland. Aber damit mußte es in Widerstreit gegen den gerade in dieser Stunde triumphierenden französischen Imperialismus geraten. Selbständigkeit, Donauföderation oder Anschluß – das war das Problem. In welcher völkerrechtlichen oder staatsrechtlichen Verbindung kann Deutschösterreich, nachdem die alten Formen seiner Existenz durch die nationale Revolution der slawischen Völker zerstört waren, neue Grundlagen staatlichen und wirtschaftlichen Lebens finden? Das war das nationale Problem der deutschösterreichischen Revolution.
Mit diesem nationalen Problem war aber das soziale Problem der Revolution eng verknüpft. Nach dem vollständigen Zusammenbruch des politischen und ökonomischen Herrschaftssystems der deutschösterreichischen Bourgeoisie mußte die Führung des deutschösterreichischen Volkes in die Hände des Proletariats fallen. Die nationale Revolution mußte hier zur proletarischen Revolution werden. Aber die proletarische Revolution setzte hier ein in einem Augenblick, in dem rings um uns eine bürgerliche Revolution die Dynastien und Aristokratien nur stürzte, um dir Bourgeoisie in die Macht zu setzen. Der Sieg der Entente war eine bürgerliche Revolution: sie brach die Vormachtstellung der Hohenzollern und der preußischen Junker in Europa; sie setzte an ihre Stelle die unbeschränkte Herrschaft der westeuropäischen Bourgeoisie über ganz West- und Mitteleuropa. Der Sieg der Tschechen, der Polen, der Jugoslawen war eine bürgerliche Revolution; sie brach die Macht der Habsburger, der deutschösterreichischen Bürokratie, der magyarischen Gentry; sie setzte an ihre Stelle die Herrschaft der in den neuen Nationalstaaten organisierten tschechischen, polnischen und jugoslawischen Bourgeoisie, denen die triumphierende nationale Idee das Proletariat in Gefolgschaft erhielt. Aber in demselben Augenblick in dem sich die westeuropäische Bourgeoisie ganz Mitteleuropa unterwarf und unter ihrem Schutze die slawischen Bourgeoisien ihre Herrschaft auf dem Boden der alten Habsburgermonarchie aufrichteten, brach die Autorität der Bourgeoisie in Deutschösterreich und in Ungarn zusammen, in der Stunde des größten internationalen Sieges der Bourgeoisie erhob sich in Deutschösterreich und in Ungarn das Proletariat. Die proletarische Revolution in Deutschösterreich und in Ungarn mußte in Gegensatz gegen die bürgerliche Revolution rings um uns geraten. Eine proletarische Revolution in Deutschösterreich und in Ungarn im Schoße der sich rings um uns vollziehenden bürgerlichen Revolution – das war das Problem. Kann das deutschösterreichische Proletariat die Macht in Deutschösterreich erobern und behaupten, obwohl Deutschösterreich selbst völlig der militärischen und ökonomischen Macht der triumphierenden Bourgeoisien der Westmächte preisgegeben ist, obwohl es von den von der Bourgeoisie der Westmächte begründeten und ihr darum dienstbaren, sich eben konstituierenden slawischen Nationalstaaten, in denen die Revolution nirgends über den Rahmen einer bürgerlichen Revolution hinausgreift, umgeben ist? Das war das soziale Problem der deutschösterreichischen Revolution.
Die Entwicklung dieses nationalen und dieses sozialen Problems, der Kampf um ihre Lösung – das ist die Geschichte der deutschösterreichischen Revolution, deren Darstellung wir uns nun zuwenden.
Zuletzt aktualisiert am 4.8.2008