Otto Bauer

Die österreichische Revolution


Zweiter Abschnitt
Der Umsturz

§ 5. Die Bildung der Nationalstaaten


Literatur:

Nowak, Der Sturz der Mittelmächte, München 1921. – Kerchnawe, Der Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen Wehrmacht im Herbst 1918, München 1921.

Redlich, Heinrich Lammasch als Ministerpräsident, Heinrich Lammasch. Seine Aufzeichnungen, sein Wirken und seine Politik, Wien 1922 – Nowak, Chaos, München 1922 – Andrássy, Diplomatie und Weltkrieg, Berlin 1920. – Stenographische Protokolle über die Sitzungen der Provisorischen Nationalversammlung für Deutschösterreich, Wien 1919.

Rašín, Převrat z 28. října, und Scheiner, Vojenský převrat v Praze, Maffie, Praha 1919 – Soukup a Rašín, Národní Výbor a 28. říjen, Národní shromáždění v prvním roce republiky, Praha 1919. – Tschuppik, Die tschechische Revolution, Wien 1920.

Šišić, Dokumenti o postanku kraljevine SHS, Zagreb 1920.



Vierjähriger Krieg hatte die k.u.k. Armee, das einst so gewaltige Herrschaftsinstrument, das die auseinanderstrebenden Nationen Habsburg im Gehorsam erhielt, zerbröckelt. Noch hielt sie an der Piave stand. Noch hielt sie in Polen und in der Ukraine, in Serbien und in Rumänien, in Montenegro und in Albanien weite Gebiete besetzt. Aber Monat für Monat schwand ihre Kraft dahin.

Das „Menschenmaterial“ war versiegt. „Von den fünfzehn Einheiten der Isonzoarmee“, meldete Ende September 1918 der Verbindungsoffizier dem Armeeoberkommando, „verfügen sieben über weniger als ein Drittel, drei über die Hälfte und nur fünf Divisionen über zwei Drittel der vorgeschriebenen Feuergewehrstände.“ Die Artillerie einzelner Brigaden hatte nicht mehr Mannschaft genug, den vollen Geschützstand zu bedienen. Bei vielen Formationen mußten vier, sechs, acht, ja selbst zehn Pferde von einem Manne gewartet werden.

Man war nicht mehr imstande, die Truppen zu ernähren. Die fleischlosen Tage wurden immer häufiger. Und fleischlose Tage waren Hungertage. „Früh und abends leerer schwarzer Kaffee, mittags ein inhaltloses Dörrgemüse ohne Fett, hiezu bestenfalls 60 Gramm Käse oder Kürbis“, das war nach dienstlicher Meldung Ende September die Ernährung der Kampftruppen an der unteren Piave. Der Hunger machte die Truppen aktionsunfähig. „Eine normale mehrstündige militärische Schulung halten die Mannschaften körperlich nicht mehr aus“, meldeten die Kommandanten. „Bei einer Division ist das Durchschnitlskörpcrgcwicht des Mannes 50 Kilogramm“, meldete das Kommando der 6. Armee. „Monatelange Aufbesserung der Verpflegung wäre notwendig, um die Armee erst wieder zum Bewegungskrieg physisch fähig zu machen“, meldete dasselbe Kommando. „Jeder Deserteur im Hinterland, selbst wenn er in den Wäldern versteckt leben muß, kann sich besser ernähren als der Soldat an der Front“, damit erklärten Offiziere und Mannschaften dem Verbindungsoffizier des Oberkommandos die Zunahme der Desertion.

Wie mit der Ernährung stand es mit der Bekleidung. „Jeder Mann besitzt durchschnittlich eine Garnitur Wäsche. Es kommen aber Fälle vor, wo nicht einmal mehr eine volle Garnitur vorhanden ist, da Hemd oder Unterhose fehlen. Man muß diese Wäsche gesehen haben, um erst einen Begriff über das Elend zu bekommen! Der eine hat keine Ärmel mehr am Hemd, dem anderen fehlt der Rückenteil, der dritte besitzt nur halbe Unterhosen oder Fragmente von Fußfetzen ... Bei einem Frontregiment fehlt jedem dritten Mann der Mantel“, so meldete der der Isonzoarmee zugeteilte Generalstabsoffizier des AOK. „Der ärmste Bosniak schämt sich vor der venezianischen Zivilbevölkerung seiner Lumpen; Mannschaften aus den ärmsten Gegenden Dalmatiens sagen: Mi nismo junaci, nego prosjaci (Wir sind nicht Helden, sondern Bettler)“, fügte derselbe Offizier hinzu.

Mit unzulänglicher technischer Rüstung sah sich der Soldat dem Feinde preisgegeben. Die feindliche Artillerie donnerte die Infanteriestellungen nieder. Die eigene Artillerie mußte schweigen, weil ihr Munitionsnachschub längst versiegte. Unmittelbar vor feindlichem Angriff mußten viele Geschütze aus der Stellung gezogen werden, weil es an Pferden fehlte, sie zu bespannen. Im Luftkampf war der Feind weit überlegen; der Infanterist sah sich ohne Schutz dem feindlichen Flieger preisgegeben.

All das lastete auf den Seelen. Die schwachen Stände erlaubten nicht hinreichend häufige Ablösung, hinreichend häufigen Urlaub. Den jungen Burschen, die man aus den Mittelschulen geholt und über alte Familienväter als Kommandanten gesetzt, fehlte jede moralische Autorität. Jeder Brief aus der Heimat erzählte von der Verzweiflung der Frauen, von dem Hunger der Kinder. Und mitten in all der Verzweiflung sah der Mann bei den höheren Stäben aufreizende Gelage, hörte er von den Profiten des Kriegsgewinnertums daheim, wußte er in den Kanzleien des Hinterlandes die Unentbehrlichen zu Hunderttausenden in Sicherheit ...

Die Mannszucht begann sich zu lösen. In Bergen und Bauerngehöften hielten sich Heere von Deserteuren versteckt. Zwischen den Fronten fuhren Heere von Drückebergern, Geschäfte machend, hin und her. In den Wäldern des Südens sammelten sich die „grünen Kaders“.

Mit dieser Armee hatte man im Juni noch eine Offensive gewagt. Sie hatte um den Preis furchtbarer Menschenopfer nichts gebracht als den Beweis der sich vollziehenden Auflösung. Nun wußte es jeder: es ging dem Ende zu.

Freilich, österreichisch-ungarische Niederlagen war man seit dem Beginn des Krieges gewöhnt. In der Stunde der Not hatten deutsche Heere den vom Kriegsbeginn an geschlagenen Verbündeten immer wieder gerettet. Jetzt aber wußte man, daß auch Deutschland nicht mehr reden konnte. Im Westen war Ludendorffs große Offensive gescheitert. Der Marschall Foch war am 18. Juli zum Gegenangriff übergegangen. Und nun kam, was früher oder später kommen mußte. Der Feind hatte die Übermacht an Zahl. Der Feind, der über den Ozean, der über die fruchtbaren Ebenen, über die Rohstofflager, über die Industrien der Welt verfügte, hatte den ungleich besser genährten Soldaten, die ungleich vollkommenere technische Rüstung. In entsetzlichem Ringen räumten Schritt für Schritt die deutschen Heere den blutig eroberten Boden. Seit dem 8. August war Deutschlands Niederlage nicht mehr zu bezweifeln. In banger Spannung harrte nun alles des Unvorstellbaren. Unentrinnbaren, das nun kommen mußte.

Und jeder wußte, daß es gekommen war, als am 15. September die französische Infanterie des Generals Franchet d’Esperey die bulgarische Front auf dem Dobropolje durchbrach. Die bulgarische Armee, längst schon physisch, technisch, moralisch noch tiefer zerrüttet als die österreichischungarische, löste sich völlig auf. Die geschlagenen Truppen stürmten das Hauptquartier in Küstendil und marschierten drohend gegen Sophia. Am 29. September unterzeichnete Bulgarien den Waffenstillstandsvertrag.

An demselben Tage forderte Ludendorff, die Mittelmächte mögen die Entente um sofortigen Waffenstillstand bitten. Das System der preußisch-deutschen Obrigkeitsregierung brach zusammen. In Berlin wurde unter der Leitung des Prinzen Max von Baden, unter der Mitwirkung der Sozialdemokratie eine parlamentarische Regierung gebildet. In der Nacht vom 3. auf den 4. Oktober ging Deutschlands Bitte um Waffenstillstand und Friedensverhandlungen an den Präsidenten Wilson ab; Österreich-Ungarn und die Türkei schlossen sich dieser Bitte an.

Die Mittelmächte hatten die vierzehn Punkte Wilsons als Grundlage der Friedensverhandlungen angenommen. Der zehnte der vierzehn Punkte hatte für die Völker Österreich-Ungarns „Möglichkeit autonomer Entwicklung“ gefordert. Die Entente hatte den Tschechen, den Polen, den Jugoslawen die Befreiung feierlich versprochen. Es war klar, daß ohne die Befreiung der slawischen Völker der Friede nicht zu erlangen war. Aber noch hoffte Habsburg, die Nationen mit der Autonomie innerhalb seines Reiches befriedigen zu können. Am 1. Oktober verkündete der Ministerpräsident Hussarek im Abgeordnetenhaus als Programm der Regierung die Föderalisierung Österreichs, die Umwandlung des österreichischen Staates in einen Bundesstaat autonomer Nationen. Was das Brünner Nationalitätenprogramm der österreichischen Sozialdemokratie im Jahre 1899 gefordert hatte; was in der Reichskrise von 1905 als ein mögliches Ziel aufgetaucht und mit dem Verrat Habsburgs an der ungarischen Demokratie im Annexionsjahr 1908 für immer zur Utopie geworden war – daran suchte sich jetzt, in der Sterbestunde, Habsburg zu klammern. Zu spät! Tschechen, Jugoslawen, Polen antworteten Hussarek: nichts könne sie mehr befriedigen als völlige Unabhängigkeit! Ratlos stand Habsburg den Nationen gegenüber, die nun ihre Stunde gekommen sahen.

Und ebenso ratlos war die deutschösterreichische Bourgeoisie. Sie hatte sich soeben noch über die tschechischen „Hochverrätter“ entrüstet, soeben noch der abermaligen Ankündigung eines „deutschen Kurses“ durch den Ministerpräsidenten Seidler zugejubelt, hatte bis zur letzten Stunde noch die Aufrechlerhaltung, ja die Befestigung der deutschen Vorherrschaft innerhalb Österreichs erhofft. Auch ihr war nun alles zusammengebrochen. Nie waren die Gegensätze zwischen den deutschbürgerlichen Parteien und der deutschösterreichischen Sozialdemokratie so schroff gewesen wie im letzten Kriegsjahr. Jetzt, da ihre ganze Politik gescheitert war, wandten sich die bürgerlichen Parteien an die Sozialdemokratie. „Bei den Tschechen sind bürgerliche Parteien und Sozialdemokraten längst im Cesky svaz, bei den Polen alle Parteien im Polenklub vereinigt; wäre solches Zusammenwirken nicht auch für uns Deutsche möglich?“ Am 3. Oktober versammelte sich der Klub der deutschen sozialdemokratischen Abgeordneten, um die Anfrage der deutschbürgerlichen Parteien zu beantworten. Seine Antwort lautete:

„Die Vertreter der deutschen Arbeiterschaft in Österreich erkennen das Selbstbestimmungsrecht der slawischen und rumänischen Nationen Österreichs an und nehmen dasselbe Recht auch für das deutsche Volk in Österreich in Anspruch. Wir erkennen das Recht der slawischen Nationen an, ihre eigenen Nationalstaaten zu bilden; wir lehnen aber unbedingt und für immer die Unterwerfung deutscher Gebiete unter diese Nationalstaaten ab. Wir verlangen, daß alle deutschen Gebiete Österreichs zu einem deutschösterreichischen Staat vereinigt werden, der seine Beziehungen zu den anderen Nationen Österreichs und zum Deutschen Reiche nach seinen eigenen Bedürfnissen regeln soll.“

Unsere Antwort war klar. Wir forderten als Bedingung des Zusammenwirkens mit den bürgerlichen Parteien den völligen Bruch mit aller bisherigen deutschösterreichischen Politik: Anerkennung des uneingeschränkten Selbstbestimmungsrechtes der nichtdeutschen Nationen. Wir forderten eine revolutionäre Tat: nicht die gesamtösterreichische Gesetzgebung soll unsere Zukunft bestimmen, unsere Beziehungen zu den anderen Nationen regeln; wir wollen unseren eigenen deutschösterreichischen Staat bilden, der, unbekümmert um den bisherigen österreichischen Rechtszustand, selbst entscheiden soll, ob er sich mit den Nationalstaaten, die die anderen österreichischen Nationen bilden werden, zu einem Staatenbund vereinigen oder ob er sich dem Deutschen Reiche anschließen soll.

An demselben Tage, an dem der Klub der deutschen sozialdemokratischen Abgeordneten diesen Beschluß gefaßt hat, wurde in Berlin die erste parlamentarische Regierung gebildet, und entsagte in Sofia Ferdinand von Bulgarien dem Thron; wenige Stunden später wurde die Waffenstillstandsbitte der Mittelmächte an Wilson abgeschickt. Nun gab es für Deutschösterreich keinen anderen Weg mehr als den, den die Sozialdemokratie ihm wies. Am 4. Oktober schon beschlossen die deutschnationalen Parteien, „die allgemeinen Grundsätze der Resolution der deutschen sozialdemokratischen Partei als Grundlage der weiteren Verhandlungen anzunehmen“. Die Christlichsozialen zögerten noch; erst am 9. Oktober stimmten auch sie, auch jetzt noch mit dem Vorbehalt zu. Österreich solle in „eine Föderation freier nationaler Gemeinwesen“ umgewandelt werden, der sich der zu schaffende deutschösterreichische Staat einzugliedern habe.

Nun begannen die mündlichen Verhandlungen zwischen den deutschen Parteien. Die bürgerlichen Parteien dachten zunächst immer noch an die Bildung eines gemeinsamen Parteienverbandes innerhalb des österreichischen Abgeordnetenhauses nach dem Beispiel des Cesky svaz und des Folenklubs. Wir antworteten: Nichts da! Es handelt sich nicht um das österreichische Abgeordnetenhaus, dessen Uhr abgelaufen ist, sondern um den deutschösterreichischen Staat, der gegründet werden muß. Alle Abgeordneten deutschösterreichischer Wahlbezirke zusammen sollen die Gründung des deutschösterreichischen Staates proklamieren, sich als Provisorische Nationalversammlung dieses Staates konstituieren und eine Regierung für diesen Staat einsetzen. Es war eine parlamentarische Revolution, die wir vorschlugen. Die bürgerlichen Parteien zögerten. Aber die Ereignisse der folgenden Tage zwangen sie auf unseren Weg.

Im Süden drang die Armee Franchet d’Espereys schnell vor. Die schwachen deutschen und österreichisch-ungarischen Streitkräfte mußten, der Übermacht weichend, Schritt für Schritt zurückgehen. Die serbischen Truppen näherten sich den Grenzen Bosniens und Kroatiens. Die südslawischen Länder rüsteten zu ihrem Empfang. Am 5. Oktober trat in Agram eine Versammlung von Abgeordneten aller Parteien und aller Gebiete des slawischen Südens der Monarchie zusammen. Sie begründete am folgenden Tage das „Narodno Vijeće“. In seiner Proklamation an die Nation erklärte das Vijeće, seine Aufgabe sei die „Vereinigung aller Slowenen, Kroaten und Serben zu einem nationalen freien und unabhängigen Staat“ und schon in den folgenden Tagen begann es, die Organisation des werdenden jugoslawischen Staates vorzubereiten.

Am 7. Oktober proklamierte der polnische Regentschaftsrat in Warschau die Bildung eines unabhängigen polnischen Staates aus allen drei Teilen Polens. Der Regentschaftsrat löste zugleich den Staatsrat auf und kündigte die Einsetzung einer Regierung an. Der Polenklub im österreichischen Abgeordnetenhause huldigte am 9. Oktober dem Regentschaftsrat. Am 15. Oktober erließ die polnische Abgeordnetenversammlung in Krakau eine Proklamation an das polnische Volk: „Das unabhängige freie vereinigte Polen beginnt sein eigenes staatliches Leben zu führen. Wir betrachten uns als Bürger des polnischen Staates, dem allein wir Treue und Gehorsam schulden.“ Die ukrainischen Abgeordneten beantworteten diese Kundgebung damit, daß sie einen ukrainischen Nationalrat nach Lemberg für den 19. Oktober einberiefen.

Für den 14. Oktober ordnete der tschechische Národní Výbor große Massenkundgebungen gegen die Ausfuhr von Lebensmitteln und Kohle aus dem tschechischen Sprachgebiet an. Der Prager „Sozialistische Rat“ beschloß, diese Kundgebungen mit einer Demonstration für die Republik zu verbinden. Es war die erste unzweideutig republikanische Kundgebung: im ganzen tschechischen Gebiet ruhte die Arbeit, die demonstrierenden Arbeitermassen forderten die unabhängige tschechische Republik. Aber diese Kundgebung war mehr als eine mächtige Demonstration. Die Massen hatten gegen die Ausfuhr von Nahrungsmitteln aus den Sudetenländern nach Deutschösterreich und an die Front demonstriert. Und in der Tat begann vom folgenden Tag an diese Ausfuhr zu stocken: die tschechischen Landwirte stellten die Lieferungen an die staatliche Getreideverkehrsanstalt ein, die tschechischen Beamten der Prager Filiale der Kriegsgetreideverkehrsanstalt leiteten keine Transporte mehr nach Wien, die tschechischen Eisenbahner hielten alle Lebensmitteltransporte an der nieder- und der oberösterreichischen Grenze an. Die Tschechen hatten die Blockade über Deutschösterreich und über die Front verhängt; sie wurde binnen wenigen Tagen fühlbar.

An demselben 7. Oktober, an dem der Generalstreik der tschechischen Arbeiter den Umsturz in den tschechischen Ländern ankündigte, teilte Dr. Beneš den Ententeregierungen mit, daß sich in Paris „im Einvernehmen mit den politischen Führern in unseren Ländern“ die erste tschechische Regierung konstituiert habe; Masaryk sei zum Präsidenten, Beneš zum Minister des Äußern, Štefanik zum Kriegsminisler ernannt. Schon am folgenden Tage erkannte Frankreich diese Regierung an. Zwei Tage später, am 17. Oktober proklamierte Masaryk in Washington, die tschechoslowakische Republik trete ins Leben.

Im Hauptquartier in Baden wußte man, daß die italienische Heeresleitung eine gewaltige Offensive gegen die hungernde, zerlumpte, zerrüttete k.u.k. Armee in Venetien vorbereite. Wilson aber ließ Habsburgs Bitte um Waffenstillstand immer noch unbeantwortet. Er wechselte mit dem Deutschen Reiche Noten über die Waffenstillstandsbedingungen; Österreich-Ungarn würdigte er überhaupt keiner Antwort. Eine furchtbare Angst wurde am Hofe wach: Wollte die Entente der Monarchie überhaupt keinen Frieden mehr bewilligen?

Der Kaiser versuchte es, mit den Nationen selbst zu verhandeln. Am 12. Oktober empfing er in Baden 32 Abgeordnete aller Nationen. Er hatte ein „Völkerministerium“ im Sinne. Aber Tschechen und Südslawen antworteten, sie hätten in einer österreichischen Regierung nichts mehr zu tun. Sie hätten nur eines zu fordern: Übergabe der ganzen Regierungsgewalt in ihrem Gebiet an ihre Nationalräte und Räumung ihres Gebiets durch alle Truppen fremder Nationalität.

Der Hof sah, daß sich der offene Aufruhr in Böhmen, in Kroatien, in Galizien vorbereitete. Aber hatte man noch die Macht, den Aufruhr niederzuschlagen? Sind die schwachen hungernden Landsturmformationen im Hinterland gegen die Volksmassen noch verläßlich? Und wenn sie es selbst wären: alles hing davon ab, ob die Entente doch noch vor dem Beginn der drohenden italienischen Offensive einen Waffenstillstand bewilligt; konnte man die Gnade der Entente hoffen, wenn man die Völker, die die Entente als ihre Bundesgenossen anerkannt hatte, blutig niederwarf? So verzichtete denn Habsburg auf jede Gegenwehr.

Nun sahen auch die deutschbürgerlichen Parteien, daß sich das deutschösterreichische Volk nicht an das untergehende Reich klammern, daß es sein Geschick in seine eigene Hand nehmen mußte. Sie stimmten unserer Forderung, daß sich die deutschösterreichischen Abgeordneten als Provisorische Nationalversammlung des deutschösterreichischen Staates konstituieren und die volle Gesetzgebungs- und Vollziehungsgewalt in dem neu zu errichtenden Staate für sich in Anspruch nehmen sollten, endlich zu. Dem Kaiser blieb nun nichts anderes mehr übrig, als den Schein der Macht noch dadurch aufrechtzuerhalten, daß er ausdrücklich erlaubte, was ohne seine Erlaubnis schon beschlossen, schon in Durchführung war. So entschloß sich der Kaiser zu dem Manifest vom 16. Oktober.„Österreich soll“,. so sagte das kaiserliche Manifest, „zu einem Bundesstaat werden, in dem. jeder Volksstamm auf seinem Siedlungsgebiet sein eigenes staatliches Gemeinwesen bildet. Der Vereinigung der polnischen Gebiete Österreichs mit dem polnischen unabhängigen Staate wird hiedurch in keiner Weise vorgegriffen.“ An dieser Umgestaltung sollen die Völker „durch Nationalräte mitwirken, die, gebildet aus den Reichsratsabgeordneten jeder Nation, die Interessen der Völker zueinander sowie im Verkehr mit Meiner Regierung zur Geltung bringen sollen“. Soweit das Manifest zur Bildung dieser Nationalräte aufforderte, legalisierte es nur einen schon im Gange befindlichen Prozeß. Zugleich aber zeigte das Manifest nur noch einmal, wie unmöglich es war, die sich auflehnenden Nationen mit der Monarchie zu versöhnen. Die ungarische Regierung hatte es durchgesetzt, daß in das Manifest die Bestimmung aufgenommen wurde, durch die Neugestaltung Österreichs dürfe „die Integrität der Länder der ungarischen heiligen Krone in keiner Weise berührt werden“; damit war den Südslawen die nationale Vereinigung auch nur innerhalb des Reichsrahmens, war den Tschechen die Angliederung der Slowakei verwehrt. Und die ganze Umgestaltung wollte das Manifest „auf gesetzlichem Wege vollenden“; als ob die Völker noch bereit gewesen wären, sich das Maß ihrer Selbständigkeit von der Krone und den beiden Häusern des österreichischen Reichsrates zuweisen zu lassen! Mit Hohn lehnten alle slawischen Völker dieses Manifest ab. Nichts anderes mehr als die volle Unabhängigkeit – so antwortete der Národní Výbor, der am 19. Oktober in Prag zusammentrat, und an demselben Tage das Narodno Vijeće in Agram.

So stellte sich nun endlich auch Deutschösterreich auf den Boden der nationalen Revolution. Am 21. Oktober versammelten sich im Sitzungssaal des niederösterreichischen Landtages die Reichsratsabgeordneten aller deutschen Wahlbezirke. Dr. Waldner, der Obmann des Verbandes der deutschnationalen Parteien, eröffnete die Versammlung.

„Die Geschichte“, sagte er, „hat uns Deutsche zu Gründern des alten Staates Österreich gemacht, und wir haben diesem Staat durch die Jahrhunderte in unverbrüchlicher Treue und in selbstloser Aufopferung unser Bestes an Kultur und Wirtschaft hingegeben. Ohne Dank scheiden wir nun aus diesem Staate, um unsere Volkskraft auf uns allein zu stellen und aus ihrem unversiegbaren Born hoffnungsvoll ein neues, nur unserem Volke allein dienendes Gemeinwesen aufzubauen.“

Einstimmig faßte die Versammlung den folgenden Beschluß:

„Das deutsche Volk in Österreich ist entschlossen, seine künftige staatliche Ordnung selbst zu bestimmen, einen selbständigen deutschösterreichischen Staat zu bilden und seine Beziehungen zu den anderen Nationen durch freie Vereinbarungen mit ihnen zu regeln.

Der deutschösterreichische Staat beansprucht die Gebietsgewalt über das ganze deutsche Siedlungsgebiet, insbesondere auch in den Sudetenländern. Jeder Annexion von Gebieten, die von deutschen Bauern, Arbeitern und Bürgern bewohnt werden, durch andere Nationen wird sich der deutschösterreichische Staat widersetzen. Den Zugang des deutschen Volkes zum Adriatischen Meer wird er durch Vereinbarungen mit den anderen Nationen sicherzustellen suchen.

Das deutsche Volk in Österreich wird eine Konstituierende Nationalversammlung wählen. Die Konstituierende Nationalversammlung, auf Grund des allgemeinen und gleichen Wahlrechtes gewählt, wird die Verfassung des deutschösterreichischen Staates festsetzen.

Bis zum Zusammentritt der Konstituierenden Nationalversammlung obliegt den Reichsratsabgeordneten der deutschen Wahlbezirke die Pflicht, das deutsche Volk in Österreich zu vertreten. Die Gesamtheit der deutschen Abgeordneten des österreichischen Reichsrates bildet daher die Provisorische Nationalversammlung für Deutschösterreich.

Die Provisorische Nationalversammlung beansprucht das Recht, bis zum Zusannnentritt der Konstituierenden Nationalversammlung das deutsche Volk in Österreich bei den Friedensverhandlungen zu vertreten, Verhandlungen mit den anderen Nationen über die Übertragung der Verwaltung an die neuen Nationalstaaten und über die Neugestaltung der Beziehungen zwischen den Nationen zu führen und eine Gesetzgebungs- und Vollzugsgewalt einzurichten. Die Provisorische Nationalversammlung wird die Wahlordnung festsetzen, auf Grund deren die Konstituierende Nationalversammlung gewählt werden soll, und sie wird die Organisation der neuen Verwaltung des deutschösterreichischen Staates vorbereiten. Die Provisorische Nationalversammlung wird ihre besondere Aufmerksamkeit der schweren wirtschaftlichen Not des deutschen Volkes in Österreich zuwenden, sie wird sich vor allem bemühen, die Gefahren zu bekämpfen, die infolge des Stockens der Lebensmittelzufuhr drohen, und wird die zu diesem Zwecke erforderlichen Verhandlungen führen.“

Demgemäß beschloß die Abgeordnetenversammlung, sich als Provisorische Nationalversammlung zu konstituieren und einen Vollzugsausschuß als Keimzelle der zu schaffenden deutschösterreichischen Regierung zu wählen.

Im Namen der Sozialdemokraten sprach Viktor Adler. Er begann mit einem Gruß an die Nachbarvölker.

„Wir entbieten“, so sagte er, „in dieser Stunde unseren brüderlichen Gruß unseren slawischen und romanischen Genossen. Wir beglückwünschen sie dazu, daß ihre Völker der Verwirklichung ihres so leidenschaftlich, so zäh, so opferbereit erstrebten Selbstbestimmungsrechtes endlich nahe sind. Wir erkennen dieses Selbstbestimmungsrecht ohne Vorbehalt und ohne Einschränkung an. Wir fordern es ebenso ohne Vorbehalt und ohne Einschränkung auch für unser deutsches Volk.“

Deutschösterreich solle sich „mit den Nachbarvölkern zu einem freien Völkerbund vereinen, wenn die Völker dies wollen. Lehnen aber die anderen Völker eine solche Gemeinschaft ab oder wollen sie ihr nur unter Bedingungen zustimmen, die den wirtschaftlichen und den nationalen Bedürfnissen des deutschen Volkes nicht entsprechen, dann wird der deutschösterreichische Staat, der, auf sich selbst gestellt, kein wirtschaftlich entwicklungsfähiges Gebilde wäre, gezwungen sein, sich als besonderer Bundesstaat dem Deutschen Reiche anzugliedern“. In jedem Falle aber solle sich Deutschöstereich als demokratische Republik konstituieren und solle es zunächst ohne Säumen, „ohne sich durch die Schranken der bisherigen, nun völlig zusammengebrochenen Verfassung hindern zu lassen“, eine deutschösterreichische Regierung bilden, die die Verwaltung Deutschösterreichs schleunigst übernehmen müsse. Damit waren die nächsten Aufgaben klar bezeichnet: Bildung einer Regierung, tatsächliche Übernahme der Regierungsgewalt, Republik, Anschluß an Deutschland!

Aber so weit waren die bürgerlichen Parteien noch nicht. Schraffl erklärte im Namen der Christlichsozialen, Steinwender im Namen der Deutschnationalen, daß sie an der konstitutionellen Monarchie festhalten. Erst die Ereignisse der folgenden Woche rissen auch diese Schranken nieder.

Am 18. Oktober hatte Wilson endlich auch Österreich-Ungarns Bitte um Waffenstillstand beantwortet; an demselben Tage, an dem Masaryk dem Staatsdepartement in Washington die tschechische Unabhängigkeitserklärung übergeben hatte. Wilsons Antwort, die in Wien erst am 21. Oktober, am Tage der Konstituierung der Provisorischen Nationalversammlung, bekannt wurde, raubte Habsburg die letzte Hoffnung. Sie lautete:

„Der Präsident hält es für seine Pflicht, der österreichisch-ungarischen Regierung zu erklären, daß er sich dem gegenwärtigen Vorschlag dieser Regierung wegen gewisser Ereignisse von großer Bedeutung, die sich seit Abgabe seiner Adresse vom 8. Jänner zugetragen haben, nicht anschließen kann.

Unter den 14 Bedingungen, die der Präsident damals formuliert hatte, kam die folgende vor: ‚Den Völkern Österreich-Ungarns, deren Platz unter den Nationen wir geschützt und gesichert zu sehen wünschen, soll die Möglichkeit autonomer Entwicklung gewährt werden.‘

Seitdem dieser Satz geschrieben und vor dem Kongreß der Vereinigten Staaten ausgesprochen wurde, hat die Regierung der Vereinigten Staaten anerkannt, daß der Kriegszustand zwischen den Tschechoslowaken einerseits, dem Deutschen und dem österreichisch-ungarischen Staat anderseits, besteht und daß der tschechoslowakische Nationalrat eine de facto kriegführende Regierung ist, berufen, die militärischen und politischen Angelegenheiten der Tschechoslowaken zu vertreten.

Sie hat auch in weitestgehender Weise die Gerechtigkeit der nationalen Ansprüche der Jugoslawen nach Freiheit anerkannt.

Der Präsident verfügt daher nicht mehr über die Freiheit, die bloße Autonomie dieser Völker als Grundlage des Friedens anzuerkennen. Er ist vielmehr gezwungen, darauf zu bestehen, daß diese Völker selbst, nicht er Richter darüber sein sollen, welche Maßnahmen der österreichisch-ungarischen Regierung genügen werden, um die Ansprüche dieser Völker und ihre Auffassung von ihren Rechten und von ihrer Bestimmung als Mitglieder der Familie der Nationen zu befriedigen.“

Der Präsident erklärte: Keinen Frieden ohne volle Befriedigung der Tschechen und der Jugoslawen. Die Tschechen und die Jugoslawen aber hatten längst erklärt, daß nichts sie voll befriedigen könne als die vollständige Unabhängigkeit. Die vollkommene Unabhängigkeit der Tschechen und der Jugoslawen war zur Bedingung des Waffenstillstands geworden!

Auf den Waffenstillstand aber konnte Habsburg nicht länger warten. Der Beginn der großen italienischen Offensive an der italienischen Front stand unmittelbar bevor. Am 24. Oktober setzte sie tatsächlich ein. Es war klar, daß die hungernde, zerlumpte, technisch mangelhaft ausgerüstete Armee dem Angriff nicht werde standhalten können. Es war um so klarer, als sich die Anzeichen der Auflösung in der Armee selbst mehrten. Seit dem 20. Oktober liefen täglich Meldungen über Meutereien magyarischer und slawischer Truppenkörper auf dem Balkankriegsschauplatz ein. Seit dem 24. Oktober forderten magyarische Truppen in Tirol und in Venetien ihren Abtransport nach Ungarn, wo sie die bedrohte Heimat verteidigen wollten. Am 23. Oktober hatten kroatische Truppen in Fiume die nationale Fahne gehißt, die ungarischen Honveds und die Stadtpolizei entwaffnet, sich der Stadt bemächtigt. Habsburg mußte es versuchen, den Kampf an der italienischen Front, der zu vollständiger Zerschmetterung der Armee führen mußte, um jeden Preis zu beenden, sofortigen Waffenstillstand um jeden Preis zu erlangen, um sich wenigstens einen Teil der Armee zu retten. Denn nur wenn das gelang, konnte Habsburg hoffen, seine Herrschaft wenigstens in Deutschösterreich und in Ungarn noch zu behaupten.

Indessen ging der Notenwechsel zwischen Wilson und der deutschen Regierung weiter. Am 24. Oktober, dem Tage des Beginns der italienischen Offensive, wurde eine neue Note Wilsons an die deutsche Regierung bekannt. Wilson erklärte da:

„Wenn die Vereinigten Staaten jetzt mit militärischen Beherrschern und monarchischen Autokraten verhandeln sollen, oder wenn es wahrscheinlich ist, daß sie später mit ihnen über die völkerrechtlichen Verpflichtungen des Deutschen Reiches zu verhandeln haben werden, müssen sie nicht Friedensverhandlungen, sondern Übergabe verlangen.“

Damit war die Frage der monarchischen Staatsform für Deutschland aufgeworfen. Damit war zugleich klar geworden, daß Österreich-Ungarn sofortigen Waffenstillstand an Deutschlands Seite nicht erlangen konnte. Nun entschloß sich Habsburg, seine Sache, von der Sache Deutschlands zu trennen. Durch Angebot eines Sonderfriedens hoffte Habsburg den sofortigen Waffenstillstand zu erlangen, Habsburgs Schicksal von dem der Hohenzollern, deren Sturz Wilson forderte, zu trennen und die monarchische Staatsform in dem Rest, der von der Habsburgermonarchie noch übrig bleiben konnte, zu retten. Am 26. Oktober, an demselben Tage, an dem Ludendorff seines Amtes enthoben wurde, telegraphierte der Kaiser Karl an den Kaiser Wilhelm:

„Die Ordnung im Innern und das monarchische Prinzip sind in der ernstesten Gefahr, wenn wir dem Kampf nicht sofort ein Ende bereiten. Selbst die innigsten bundesbrüderlichen Gefühle müssen vor der Erwägung zurückstehen, daß ich den Bestand jener Staaten rette, deren Geschick mir die göttliche Vorsehung anvertraut hat. Deshalb kündige ich Dir an, daß ich den unabänderlichen Beschluß gefaßt habe, innerhalb vierundzwanzig Stunden um einen Separatfrieden und um einen sofortigen Waffenstillstand anzusuchen.“

Die magyarische Oligarchie hatte zum Sonderfrieden gedrängt; nur durch ihn glaubte sie Ungarn noch retten zu können. Als ihr Vertrauensmann war schon am 24. Oktober Graf Julius Andrassy zum Minister des Äußern ernannt worden. Zugleich hatte der Kaiser den Professor Lammasch mit der Neubildung der österreichischen Regierung betraut, da sich der Hof zum Sonderfrieden, zur Kapitulation vor Tschechen und Jugoslaven entschloß, suchte er Zuflucht bei dem patriotischen Pazifismus, der längst schon nur durch den Bruch mit Deutschland, durch die Verständigung mit der Entente, durch die Versöhnung mit den Nationen das Reich retten zu können glaubte. Am 26. Oktober, dem Tage des Telegramms an den Kaiser Wilhelm, wurde die Regierung Lammasch, deren bedeutendste Mitglieder die Professoren Josef Redlich und Ignaz Seipel waren, gebildet. Da nach der Antwortnote Wilsons die Übergabe der tatsächlichen Regierungsgewalt an die Tschechen und Jugoslawen als Bedingung des Waffenstillstandes anerkannt werden mußte, erhielt die Regierung Lammasch den Auftrag, „im fortlaufenden Einvernehmen mit den Nationalregierungen die Überleitung der zentralen Verwaltung in die Verwaltung der Nationalstaaten durchführen“. In der Nacht vom 27. auf den 28. Oktober ging die Antwortnote Andrassys an Wilson ab und gleichzeitig bekam der General der Infanterie v. Weber den Befehl, in das italienische Hauptquartier mit der Bitte um sofortigen Waffenstillstand abzugehen.

Andrassys Antwort an Wilson war die Todesurkunde der Monarchie. Die österreichisch-ungarische Regierung erklärte, daß sie „der in der letzter Note des Herrn Präsidenten enthaltenen Auffassung über die Rechte der Völker Österreich-Ungarns, speziell jene der Tschechoslowaken und Jugoslawen, zustimmt“. Damit war die Unabhängigkeit der Tschechoslowakei und der Jugoslawen tatsächlich anerkannt, hatte Habsburg jedem Widerstand gegen ihre Trennung von der Monarchie bereits entsagt. Zugleich erklärte sich Österreich-Ungarn aber auch bereit, „ohne das Ergebnis anderer Verhandlungen abzuwarten, in Verhandlungen über einen Frieden zwischen Österreich-Ungarn und den gegnerischen Staaten und über einen sofortigen Waffenstillstand einzutreten“; damit hatte Habsburg dem Separatfrieden zugestimmt, es hatte mit dem Deutschen Reich gebrochen und dadurch wurde nun auch das Verhältnis des deutschösterreichischen Bürgertums zu Habsburg vollständig umgewälzt, wurde auch in Deutschösterreich die Revolution vorwärtsgetrieben.

Am 28. Oktober wurde Andrassys Note in Prag bekannt. Die Massen strömten jubelnd auf die Straße. Die Häuser wurden mit den nationalen Fahnen geschmückt. Auf der Straße wurde geredet, gesungen, getanzt. Die österreichischen Hoheitszeichen wurden von den Häusern gerissen. Die Soldaten schmückten ihre Kappen mit der Nationalkokarde. Indessen fuhren Vertreter des Národní Výbor zuerst in die Kriegsgetreideverkehrsanstalt, dann in die Statthalterei und in das Gebäude der Landesverwaltungskommission, um die Behörden im Namen des Národní Výbor zu übernehmen. Sie stießen auf keinen Widerstand. Überall leisteten die Beamten dem Národní Výbor sofort das Gelöbnis der Treue. Um 3 Uhr nachmittag ließ das Militärkommando ein ungarisches Bataillon auf den Altstädter-Platz ausrücken, um den Platz zu räumen; auf energisches Verlangen des Národní Vábor wurde das Bataillon wieder zurückgezogen. Zugleich wurden die wichtigsten Plätze der Stadt von bewaffneten Kompagnien tschechischer Sokoln (Turner) besetzt; die Mannschaft einiger militärischer Magazine und Formationen hatte ihnen die Waffen ausgeliefert. In den Abendstunden stellten sich tausend tschechische Offiziere und die in Prag anwesende tschechische Mannschaft in den Dienst des Národní Výbor; aus ihnen wurden militärische Abteilungen formiert, die die Sokoln verstärkten. Um 8 Uhr abend verhandelten die Vertreter des Národní Výbor mit dem kommandierenden General Kestranek, während bewaffnete Sokoln in das Gebäude des Militärkommandos eindrangen. Der General erkannte an, daß die in den Dienst des Národní Výbor übergetretenen tschechischen Offiziere und Soldaten den Kommanden der Sokoln unterstehen, verpflichtete sich, nichts gegen die neuen Gewalthaber zu unternehmen, behielt sich aber das Kommando über die in Prag stehenden deutschen und ungarischen Truppenkörper bis zu ihrem Abtransport vor. Am folgenden Tage proklamierte der Národní Výbor, daß der tschechoslowakische Staat ins Leben getreten, die Regierungsgewalt im ganzen tschechischen Sprachgebiet in seiner Hand sei. Der böhmische Statthalter, der an diesem Tage von Wien nach Prag zurückkehrte, wurde bei seiner Ankunft verhaftet. An demselben Tage unterstellte sich die k. k. Staatspolizei dem Národní Výbor. aber noch war die militärische Gewalt nicht ganz in seiner Hand. An diesem Tage ergaben sich Konflikte zwischen dem neuen tschechischen und dem noch bestehenden k.u.k. Militärkommando. Am 30. Oktober drangen tschechische Truppen in das Militärkommando ein, die ungarischen Truppen lieferten ihnen ohne Widerstand Waffen und Munition aus, der General Kestranek legte die Kommandogewalt nieder und übergab sie dem Národní Výbor. Damit erst war die ganze Macht in die Hände der neuen nationalen Regierung übergegangen.

Dramatischer, pathetischer vollzogen sich die Ereignisse in Kroatien. Die Meuterei der kroatischen Truppen in Fiume am. 23. Oktober hatte die Bewegung eingeleitet. Große Demonstrationen im. Gebiet von Ogulin waren gefolgt, zu deren Unterdrückung die Militärbehörden keine Assistenzen mehr aufzutreiben vermochten. Am 28. hatte die kroatische Mannschaft der Kriegsflotte, von der Mannschaft der anderen Nationen passiv unterstützt, zu meutern begonnen; auf jedem Schiff wurden Mannschaftskomitees gebildet, die am folgenden Tage schon die Kommandogewalt übernahmen. Am 29. Oktober trat in Agram der Sabor zusammen. Er beschloß:

„Alle bisherigen staatsrechtlichen Beziehungen zwischen dem Königreich Kroatien, Slawonien und Dalmatien einerseits, dem Königreich Ungarn und dem Kaisertum Österreich anderseits sind aufgehoben. Der kroatisch-ungarische Ausgleich wird für nichtig erklärt. Das Königeich erklärt sich für einen unabhängigen Staat, der beitritt dem nationalen souveränen Staat der Slowenen, Kroaten und Serben. Der Sabor erkennt das Narodno Vijeće als die oberste Regierung an.“

Auf Grund dieses Beschlusses des verfassungsmäßigen Landtages übernahm das Narodno Vijeće die Regierungsgewalt. Der Banus Mihalović und der kommandierende General Šnjarić unterstellten sich der nationalen Regierung. Am folgenden Tage erzwangen die meuternden Matrosen in Pola die förmliche Übergabe der gesamten k.u.k. Kriegsflotte an den südslawischen Staat.

Zugleich gewann aber auch in Deutschösterreich die republikanische Bewegung Kraft. Sie ging von der Arbeiterschaft aus. Sie war geweckt worden durch die republikanische Demonstration der tschechischen Arbeiter am 14. Oktober. Sie hatte ihr Stichwort empfangen aus der Erklärung, die Viktor Adler bei der Konstituierung der Provisorischen Nationalversammlung am 21. Oktober abgegeben, in der er die Republik gefordert. hatte. Sie drängte nach der Vollendung, als die Prager Ereignisse vom 28. Oktober in Wien bekannt wurden. Am 29. Oktober schickten die Arbeiter vieler Wiener Betriebe Deputationen in das Parlament, die von der Partei forderten, sie solle unverzüglich eine Massendemonstration für die Republik organisieren.

Aber seit Andrassys Bitte um den Separatfrieden hatte die republikanische Bewegung mit einemmal auch das deutschnationale Bürgertum erfaßt. Schon seit Clemenceaus Enthüllung der Friedensintrigen des Kaisers mit Sixtus von Parma standen die Deutschnationalen dem , Kaiser voll Mißtrauens, voll Verachtung gegenüber. Jetzt, da Habsburg in der Stunde der höchsten Not Deutschlands mit Deutschland brach, brachen sie mit Habsburg. Sie hatten Habsburgs blutige Gewaltherrschaft gestützt, so lange sie deutschem Kommando die Verfügung über die Volkskraft der slawischen und romanischen Völker sicherte. Jetzt, da sich Habsburg in der Hoffnung von Deutschland trennte, durch die Gnade der Entente den Rest seines Reiches zu retten, konnte Habsburgs Herrschaft nur noch das Gegenteil bedeuten: die Eingliederung Deutschösterreichs in ein von Ungarn beherrschtes, der Entente gegen Deutschland dienstbares Reich. So verschieden die Beweggründe auch waren: Deutschnationale und Sozialdemokraten waren nunmehr darüber einig, daß sich Deutschösterreich nunmehr, ohne sich um die kaiserlichen Rechte und die kaiserliche Regierung zu kümmern, eine provisorische Verfassung geben, eine nationale Regierung einsetzen, die tatsächliche Regierungsgewalt im deutschösterreichischen Gebiet an sich reißen müsse. Zu diesem Zwecke wurde für den 30. Oktober die Provisorische Nationalversammlung einberufen; die Sozialdemokratie aber forderte die Arbeiterschaft auf, an diesem Tage um 3 Uhr nachmittag die Arbeit einzustellen und zum Landhaus, wo die Nationalversammlung zusammentreten sollte, zu ziehen.

Der Kaiser sah, daß sich das Schicksal der Dynastie zu vollenden drohte. Er geriet auf den verzweifelten Einfall, an die Treue der Soldaten zur Dynastie zu appellieren. Am 29. Oktober telegraphierte das Armeeoberkommando an die Truppen:

„Bestrebungen der Nationalräte gehen dahin, die republikanische Staatsform in den zu schaffenden Gebieten zu propagieren. Hierüber wird aber die Armee im Felde nicht befragt, die alle männer vom 18. bis 50. Lebensjahr umfaßt und eigentlich die Völker repräsentiert.

Telegraphische Kundgebungen von Truppen und Formationen aller Nationalitäten erwünscht, die ohne Zwang durch Offiziere für Monarchie und Dynastie sich aussprechen. Solche sofort an das Armeeoberkommando leiten, das sofort für Weiterbeförderung sorgen wird.

Sehr dringend sind solche deutscher Nationalität, da am 30. mittags entscheidende Sitzung des deutschen Nationalrates in, Wien stattfindet.“

Die Fronttruppen erreichte diese Frage des Kaisers nicht mehr. In der Etappe ließen einzelne Kommandanten Mannschaft und Offiziere über Monarchie oder Republik abstimmen. Sie beschleunigten damit nur den Auflösungsprozeß in der Truppe.

Gewaltige Massen folgten am 30. Oktober unserem Ruf. In eine Unzahl von Riesenversammlungen löste sich die Kundgebung vor dem alten Hause der niederösterreichischen Landstände auf. Die Republik und die Befreiung Friedrich Adlers aus dem Kerker waren die Forderungen des Tages. Soldaten in großer Zahl waren unter den Demonstranten. In den Abendstunden zogen ungeordnete Massen von Soldaten und jungen Leuten durch die Stadt. Sie rissen die kaiserlichen Adler von den Häusern. Die Soldaten rissen die Rosetten mit dem kaiserlichen Namenszug von ihren Kappen; sie zwangen ihnen begegnende Offiziere, dasselbe zu tun.

Indessen tagte im Landhause die Provisorische Nationalversammlung. Sie beschloß, was die Masse auf der Straße stürmisch forderte. Zwar vermied man es noch, die Republik förmlich zu proklamieren; noch hielten die bürgerlichen Parteien daran fest, daß erst die Konstituierende Nationalversammlung über die Staatsform entscheiden könne. Tatsächlich aber beschloß die Provisorische Nationalversammlung bereits an diesem Tage eine republikanische Verfassung. Der Beschluß über „die grundlegenden Einrichtungen der Staatsgewalt“ besagte: Das Recht der Gesetzgebung übt die Provisorische Nationalversammlung aus. Die Regierungs- und Vollzugsgewalt überträgt die Nationalversammlung einem von ihr gewählten Staatsrat; der Staatsrat ernennt die Staatssekretäre, die die einzelnen Staatsämter zu leiten haben. Der Staatsrat wurde sofort gewählt und beauftragt, die tatsächliche Regierung des deutschösterreichischen Gebiets sofort zu übernehmen. So war in dieser provisorischen Verfassung für die kaiserliche Gewalt kein Raum mehr; am 30. Oktober, genau 70 Jahre nach dem Tage, an dem Windischgrätz Wien genommen, die revolutionäre Hauptstadt dem Kaiser zu Füßen gelegt hatte, ward Deutschösterreich Republik.

Am folgenden Tage zog die Revolution durch ganz Österreich. In Laibach übernahm am 31. Oktober der Narodni Svet die Rcgierungsgewalt und setzte eine Regierung ein. In Triest übernahm ein Wohlfahrtsausschuß die Macht. In Krakau bemächtigte sich die von den polnischen Abgeordneten eingesetzte Liquidationskommission im Namen der Reczpospolita der gesamten Zivil- und Militärgewalt. Der ukrainische Nationalrat setzte sich, auf einige ruthenische Truppenkörper gestützt, in den Besitz Lembergs. Am 1. November übergab der General Sarkotić die Regierungsgewalt in Bosnien dem Narodno Vijeće.

Nirgends hatte Habsburg der Bewegung Widerstand entgegengesetzt. Und dennoch glaubte Habsburg, glaubten seine Generale und Diplomaten ihre Sache noch keineswegs verloren. Denn im Süden, in entsetzlichem Ringen vor dem Feinde zurückweichend, lebte trotz allem ja immer noch die kaiserliche Armee. Gelang es, nur einen Teil des geschlagenen Heeres aus der allgemeinen Auflösung zu retten und ihn in der Hand seiner Kommandanten zu erhalten, dann konnte man immer noch hoffen, wenigstens in Deutschösterreich und in Ungarn die Revolution niederzuwerfen. Das war die Hoffnung der kaiserlichen Generale. „Was sich im Hinterland abspielt, ist ein Rausch, der morgen vorbei ist“, tröstete noch am 30. Oktober der Feldmarschall Boroević das Armeeoberkommando. Unter einer Bedingung freilich: „Wenn nur die Armee, das Instrument, vor dem allein das Hinterland noch Respekt hat, nicht verschwindet.“ In der Tat: nicht in den wohlfeilen Siegen der Revolution im Hinterland, dort im Süden, wo noch am 30. Oktober italienische Anstürme am Monte Asolone und Pertica zusammenbrachen und tapfer kämpfende Nachhuten noch den Rückzug der sechsten und der Isonzo-Armee deckten, dort mußte sich das Schicksal des Reiches entscheiden.


Zuletzt aktualisiert am 4.8.2008