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Literatur:
Renner, Österreichs Erneuerung, Wien 1916. – Renner, Marxismus, Krieg und Internationale, Stuttgart 1917. – Renner, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, Wien 1918.
Friedrich Adler, Die Erneuerung der Internationale, herausgegeben von Robert Danneberg, Wien 1918. – Friedrich Adler vor dem Ausnahmegericht.,Berlin 1919.
Denkschrift über die Rechts- und Arbeitsverhältnisse in den österreichischen Kriegsleistungsbetrieben, Wien 1916. (Protokoll des Arbeitertages.) – Bericht der Gewerkschaftskommission Deutschösterreichs an den Gewerkschaftskongreß 1919, Wien 1919 – Die Tätigkeit des Klubs der deutschen sozialdemokratischen Abge- ordneten im österreichischen Reichsrat, 5. Heft, Wien 1917. – Protokoll der Verhandlungen des Parteitages der deutschen sozialdemokratischen Arbeiterpartei in Österreich, Wien 1917.
Glaise-Horstenau, Österreich-Ungarns Politik in den Kriegsjahren 1914 bis 1917, Der österreichisch-ungarische Krieg, Leipzig 1922. – Czernin, Im Weltkriege, Berlin 1919. – Nippold, Heinrich Lammasch als Völkerrechtsgelehrter und Friedenspolitiker, Heinrich Lammasch. Seine Aufzeichnungen, sein Wirken und seine Politik, Wien 1922.
Um Friede, Freiheit und Recht! Der Jännerausstand des innerösterreichischen Proletariats, Wien 1918. – Ein Nationalitätenprogramm der Linken, Der Kampf, XI, S.269ff. – Diskussion über das Nationalitätenprogramm im Jahrgang 1918 des Kampf.
Durch die ganze neuere Geschichte Deutschösterreichs zieht sich der Gegensatz zwischen unserem Deutschtum und unserem Österreichertum.
Die deutschösterreichische Bourgeoisie ist in dem Jahrhundert zwischen 1750 und 1850 entstanden. Sie ist entstanden in der Zeit, in der der Gegensatz zwischen der habshurgischen Kaisermacht und der aufstrebenden hohenzollernschen Königsgewalt das alte römisch-deutsche Reich auflöste; entstanden in der Zeit, in der sich die deutschen Bundesländer Österreichs von Deutschland loslösten, um in dem allmählich zum einheitlichen Staat zusammenwachsenden Länderbündel der habsburgischen Hausmacht aufzugehen; entstanden auf der Basis des einheitlichen österreichischen Wirtschafts- und Rechtsgebiets. Mochte sie deutsch sprechen und ein gut Stück eigenartiger deutscher Kultur aus sich entwickeln: ihrem Fühlen nach war sie doch österreichisch, nicht deutsch; nicht das zerfallende Deutschland, sondern das völkerreiche Österreich war ihr ihr Vaterland.
Aber seit der Julirevolution von 1830 wuchs ein anderes Geschlecht. Die junge Intelligenz, die im Haß gegen den Absolutismus Metternichs heranwuchs, die die Ideen des aufstrebenden europäischen Liberalismus in sich aufnahm, geriet in den Bann des deutschen Geisteslebens der Zeit. Sie fühlte nicht mehr österreichisch. Sie fühlte deutsch. Nicht das alte, rückständige, undeutsche Österreich, das große Deutschland, das sie im Kampf und Sturm wieder zu vereinigen gedachte, war ihr ihr Vaterland.
Seither streiten in der Seele des deutschösterreichischen Bürgertums sein Deutschtum und sein Österreichertum gegeneinander. Ihr Gegensatz findet in jeder neuen Generation neue Verkörperung. Er verkörpert sich in den Stürmen von 1848 in dem Kampfe zwischen den Schwarzrotgoldenen und den Schwarzgelben; er ersteht wieder am Beginn der Verfassungsära im Gegensatz zwischen dem deutschen Liberalismus und dem im Gefolge des Feudaladels einhergehenden österreichischen Klerikalismus; er findet in der letzten Generation vor dem Kriege seinen Ausdruck in den Kämpfen zwischen Schönerer und Lueger, zwischen Deutschnationalen und Christlichsozialen. Die altösterreichische Tradition lebt fort im Altwiener Patriziat, in dem Wiener Kleinbürgertum, in der vom katholischen Klerus erzogenen Bauernschaft der Alpenländer. Die deutsche Tradition lebt fort in der Intelligenz, die in den Grenzgebieten, wo der Kampf gegen die slawischen Nachbarn im Norden und im Süden die Gemüter beherrscht, Kleinbürger und Bauern mit ihrem Denken und Fühlen erfüllt.
Die große europäische Krise, die seit 1908 das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn vereint einer Welt von Feinden gegenüberstellte, überwand diesen Gegensatz. Deutscher Nationalismus und österreichischer Patriotismus schlugen nun in eins zusammen. Der österreichische Patriotismus sah sein Reich bedroht; seit 1897 zerreißt der Kampf zwischen Tschechen und Deutschen den Staat, seit 1903 wächst gefahrdrohend die Gärung im slawischen Süden, seit 1905 in Galizien; der österreichische Patriotismus hoffte auf Franz Ferdinand, den Thronfolger, der mit kriegerischer Tat den äußeren Feind niederwerfen, das Reich im Innern erneuern werde. Der deutsche Nationalismus sah Deutschland bedroht: seit 1908, seit der Zusammenkunft von Reval, steht Deutschland dem furchtbaren Bündnis der Westmächte mit Rußland gegenüber; der deutsche Nationalismus hoffte auf den Krieg, der den Feind niederschmettern werde, ehe russisches Bevölkerungswachstum und russische Eisenbahnbauten die Gefahr vergrößern. Schon während der Annexionskrise 1908/09, schon während des Balkankrieges 1912 drängten führende Kreise der Christlichsozialen sowohl wie der Deutschnationalen zum Kriege. Als 1914 der Krieg kam, war es ihr Krieg. Den einen war es der Krieg für Österreichs Behauptung und Erneuerung, den anderen der Krieg für Deutschlands Macht und Größe. Beide aber jubelten dem Kriege zu, beide stützten den Kriegsabsolutismus der ersten Kriegsjahre, beiden galt der Kampf der slawischen Völker um ihre Befreiung als Hochverrat, den eine eiserne Hand niederwerfen müsse. Der Gegensatz zwischen dem Deutschtum und dem Österreichertum des deutschösterreichischen Bürgertums schien überwunden.
In ganz anderer Gestalt wiederholt sich der Gegensatz zwischen dem Deutschtum und dem Österreichertum in der Geschichte der deutsch-österreichischen Sozialdemokratie.
Die Revolution von 1848 hatte die Demokratie zum erstenmal vor das österreichische Problem gestellt. Italiener, Ungarn und Polen kämpften damals um ihre Befreiung aus Habsburgs Fesseln. Das deutsche Volk aber rang nach seiner Einheit und Freiheit. An die Stelle der erbärmlichen Kleinstaaterei im Deutschen Bunde ein einheitliches Deutsches Reich zu setzen war das nationale Ziel der deutschen Revolution von 1848. Aber der Erreichung dieses Zieles stand der österreichische Staat im Wege. In ihm waren deutsche Bundesländer – Westösterreich vom Riesengebirge bis zur Adria – mit Ungarn, mit Galizien, mit der Lombardei und Venetien vereinigt. Der deutsche Norden wollte die deutschen Bundesländer Österreichs, aber nicht seine italienischen, ungarischen und polnischen Provinzen in das Deutsche Reich aufnehmen. Die Einigung Deutschlands setzte also die Auflösung des Habsburgerreiches, die Trennung der deutschen Bundesländer Österreichs von Italien, Ungarn und Polen voraus. Dieses Ziel war nicht durch die Dynastien, es war nur gegen sie zu erreichen. Habsburg wollte sich Hohenzollern. Hohenzollern wollte sich Habsburg nicht unterwerfen; die Revolution konnte das Deutsche Reich nur schaffen, wenn es ihr gelang, in Wien und in Berlin die Dynastien zu stürzen, ganz Deutschland, einschließlich der deutschen Bundesländer Österreichs, zu einer deutschen Republik zu vereinigen, Habsburgs andere Länder aber an ein geeintes Italien, ein selbständiges Ungarn, ein freies Polen fallen zu lassen. Das war das nationale Ziel, das die Republikaner im Jahre 1848 gegen Habsburg und gegen Hohenzollern verfochten.
Diese Gedanken lebten nach dem Kriege von 1859 und der italienischen Revolution von 1860 wieder auf. Das deutsche Bürgertum, durch die Erfahrungen von 1848 geschreckt, war nun nicht mehr revolutionär. In Norddeutschland setzte es alle seine Hoffnungen auf Preußen: ein deutsches Kaisertum mit preußischer „Spitze“ war sein Ziel; aber dieses Ziel, setzte die Ausstoßung der deutschen Bundesländer Österreichs aus dem Reiche voraus. Dagegen protestierten die Arbeiter. Sie waren revolutionär geblieben. Sie hofften, die deutsche Einheit werde nicht durch die Bajonette der deutschen Fürsten, sondern durch die Fäuste der deutschen Arbeiter erobert werden. Sie stellten dem kleindeutschen Ziel des norddeutschen Bürgertums das gesamtdeutsch-republikanische Ideal von 1848 entgegen. In diesem Kampfe vollzog sich in Deutschland die Scheidung zwischen der bürgerlichen und der proletarischen Demokratie. „Großdeutschland moins les dynasties“, so formulierte Lassalle das nationale Programm der entstehenden Sozialdemokratie. Und als sich nach 1866 auch die deutschösterreichische Arbeiterschaft wieder zu regen begann, nahm auch sie den gesamtdeutsch-republikanischen Gedanken auf. Die Hoffnung auf eine Revolution, die die deutschen Dynastien stürzen, Deutschösterreich mit dem übrigen Deutschland zu einer deutschen Republik vereinigen, den anderen Nationen der Habsburgermonarchie ihre staatliche Selbständigkeit wiedergeben werde, war einer der führenden Gedanken der entstehenden Sozialdemokratie.
Die Geschichte hat zunächst gegen die junge Sozialdemokratie entschieden. 1866 wurde Österreich aus dem Deutschen Bunde ausgeschlossen, 1871 das kleindeutsche Kaisertum aufgerichtet. Aber die Sozialdemokratie hat diese Lösung der deutschen Frage zunächst nur als vorläufig angesehen. Engels hielt bis zu seinem Tode daran fest, daß „die vollständige Auflösung Österreichs die erste Voraussetzung der Einigung Deutschlands“ sei. Wohl habe Österreich als Bollwerk gegen die Expansionstendenzen des russischen Zarismus noch eine Funktion zu erfüllen. Aber diese Funktion werde es verlieren, sobald wieder die Revolution durch Europa zieht, deren „äußerste Punkte“ bei ihrem neuen Ausbruch Petersburg und Konstantinopel sein würden. Die nächste Phase der europäischen Revolution werde Österreich auflösen, seine deutschen Gebiete mit Deutschland wiedervereinigen, seinen anderen Nationen ihre Freiheit geben. Der Gedanke, daß die Periode der sozialen Revolution die Auflösung Österreichs in freie Nationalstaaten und damit auch die Vereinigung Deutschösterreichs mit dem übrigen Deutschland bringen müsse, bildete seit der Entstehung der Sozialdeniokralie einen Bestandteil ihrer politischen Tradition.
Vorerst mußte die Sozialdemokratie aber ihren Kampf auf dem Boden des österreichischen Staates führen. Als sie seit 1890 zu einer großen Massenpartei wurde; als seit 1897 der nationale Kampf der Bourgeoisien das ganze öffentliche Leben Österreichs beherrschte, den Parlamentarismus zerstörte, den Absolutismus des § 14 aufrichtete; als die entfesselten Leidenschaften des Nationalismus auch die internationale Einheit der österreichischen Sozialdemokratie selbst zu bedrohen begannen, konnte sie sich nicht mehr damit begnügen, die Völker auf die nahende Revolution zu verweisen, die mit der Auflösung des österreichischen Staates auch das nationale Problem lösen werde, sie mußte nun den nationalen Kampfzielen der streitenden Bourgeoisien ein gemeinsames Kampfziel des gesamten österreichischen Proletariats entgegenstellen. So stellte der Brünner Parteitag von 1899 dem Zentralismus der deutschen Bourgeoisie und dem Kronländer-Föderalismus des Feudaladcls und des in seinem Gefolge einhergehenden slawischen Bürgertums das Programm der Verwandlung Österreichs in einen Bundesstaat autonomer Nationen entgegen.
Die schwere Reichskrise von 1905, der Konflikt Habsburgs mit der magyarischen Herrenklasse gab diesem Programm Aktualität. Gegen den Nationalismus der hadernden Bourgeoisien stand auf der einen Seite die Krone, der die nationalen Kämpfe ihr Reich zu zerstören drohten, stand auf der anderen Seite das Proletariat, dem der nationale Kampf den Aufstieg behinderte. In Österreich zwang der Druck der Krone von oben und des Proletariats von unten dem Privilegienparlament die Wahlreform auf. In Ungarn bot die Krone durch das Wahlreformprogramm der Regierung Fejérváry-Kristoffy das Proletariat und die Nationalitäten gegen den magyarischen Adel auf. Es erschien denkbar, daß die Krone und das Proletariat vereint die dualistische Reichsverfassung zerschlagen, die nationalistischen Bourgeoisien niederzwingen, den Bundesstaat autonomer Nationen aufrichten. Der Verfechter dieses politischen Gedankens war Karl Renner. Für den Gedanken kämpfend, daß die „übernationale“ Macht der Dynastie und die internationale Macht der Arbeiterklasse aller österreichischen Nationen vereint den Nationalismus der kämpfenden Bourgeoisien niederwerfen und Österreich-Ungarn zu einem Bundesstaat freier Völker umgestalten sollen, revidierte er die ganze traditionelle Stellung der Sozialdemokratie zu dem österreichischen Problem. In jener Zeit erschienen Renners Grundlagen und Entwicklungsziele der österreichisch-ungarischen Monarchie und meine Nationalitätenfrage. Während ich aber auch in diesem Buch jede Lösung des österreichischen Nationalitätenproblems innerhalb der Monarchie nur als eine vorläufige betrachtete, feierte Renner die österreichische „Reichsidee“, die Idee einer „Eidgenossenschaft der österreichischen Nationen“, als eine geographische und wirtschaftliche Notwendigkeit. Der Zerfall der Monarchie in nationale Kleinstaaten wäre, so meinte er damals schon, nur die Lösung eines reaktionären Nationalismus. Nicht dem Nationalstaat, sondern dem autonome Nationen föderierenden „übernationalen Staat“ gehöre die Zukunft.
Als der Kaiser mit dem magyarischen Adel wieder Frieden schloß, als die Reichskrise nicht mit der Umbildung der Monarchie in einen Bundesstaat freier Völker endete, sondern mit dem Staatsstreich Tiszas, mit dem Kommissariat Cuvajs, mit dem Absolutismus Bienerths, schienen Renners Illusionen zerstört. Das Nationalitätenprogramm des Brünner Parteitages von 1899 erlangte nun andere Bedeutung. Seit 1908 rüstete die Monarchie zum Kriege gegen Serbien. Seit 1908 glaubte sie sich nur durch kriegerische Gewalt die sich auflehnenden Nationen einordnen zu können. Die Sozialdemokratie stand seit 1908 im Kampfe gegen den serbenfeindlichen, zum Krieg treibenden Imperialismus. In diesem Kampfe war es unsere Parole: Kein Krieg löst das österreichische Staatsproblem; nur innerer Umbau zum Bundesstaat autonomer Nationen versöhnt die Nationen dem Staat und rettet den durch die Kämpfe der Nationen bedrohten Frieden. Am Tage der Kriegserklärung an Serbien noch lehnte die Sozialdemokratie drohend jede Mitverantwortung für diesen Krieg ab; stellte sie dem Krieg: ihre Forderung entgegen: „Ein Österreich, das wirklich ein Bund freier Völker ist.“
Am Anfang des Krieges stand Österreich-Ungarn allein gegen Rußland. Das deutsche Heer brach in Belgien und Frankreich ein; den Ansturm der russischen Heere hatte Österreich-Ungarn abzuwehren. Ein Reich mit 52 Millionen Einwohnern gegen eines mit 160 Millionen. Eine halbe Million Mann gegen anderthalb Millionen. Am Ende der ersten großen Schlacht war Galizien verloren, standen die Russen vor Krakau und vor den Karpatenpässen. Ein Stoß noch – und die Russen brechen durch Mähren gegen Wien vor, das die Heeresleitung schon mit Befestigungswerken umgürten ließ. Ein Stoß noch – und Nikolai Nikolajewitsch kann auf tschechischem Boden ein böhmisches Königreich unter dem Zepter eines Romanow proklamieren. Ein Stoß noch – und die russischen Heeressäulen wälzen sich über Ungarn dem Balkan zu. Die Furcht vor den Riesenheeren des Zaren herrschte in Deutschösterreich. Die Niederlage der habsburgischen Armeen – sie bedeutete nun die Verheerung und Verwüstung Deutschösterreichs durch die russischen Truppen; sie bedeutete die Aufrichtung slawischer Vasallenstaaten des Zaren bis hart vor die Tore von Wien, von Nürnberg, von Dresden; sie bedeutete die Unterwerfung ganz Osteuropas von Petrograd bis Zarigrad unter den russischen Despotismus. Die Furcht vor dem Siege des Zarats packte alle Klassen des deutschösterreichischen Volkes, sie packte auch die deutschösterreichischen Arbeitermassen. Sie dachten nicht an Serbien und nicht an Belgien, nicht an Habsburg und nicht an Hohenzollern. Ihre Wünsche begleiteten in den ersten Kriegsmonaten die kaiserliche Armee, die mit Blutopfern ohnegleichen die Heimat gegen die furchtbare russische Übermacht verteidigte.
In den ersten Kriegsmonaten stand die deutschösterreichische Sozialdemokratie völlig im Banne dieser Massenstimmung. Ohne Vorbehalt stellte sie sich an die Seite der Mittelmächte. Ohne Vorbehalt stellte sie ihren Einfluß auf die Massen in den Dienst der Kriegführung.
Aber gegen die Mittelmächte stritt die Propaganda der Entente, die im Namen der Demokratie, im Namen des Selbstbestimmungsrechtes der Völker, im Namen des revolutionären Nationalitätsprinzips der Habsburgermonarchie das Recht auf das Dasein bestritt. Gegen die Habsburgermonarchie stritt die Auflehnung ihrer slawischen Völker, die es als unerträgliche Leibeigenschaft, als unerträgliche Seelenqual empfanden, daß sie kämpfen mußten für eine ihnen fremde, ihnen feindliche Sache. Gegen die Habsburtrermonarchie stritt die Tatsache, daß sie gegen die Bürger des eigenen Landes Krieg führen mußte, nur mit den furchtbaren Gewaltmitteln des Kriegsabsolutismus die Völker im Kampfe gegen den äußeren Feind zusammenzwingen konnte. So war die deutschösterreichische Sozialdemokratie vom ersten Kriegstag an vor das österreichische Staatsproblem gestellt.
Die Zersetzung Österreichs durch die nationalen Kämpfe seit 1897 hatte das Selbstvertrauen der österreichischen Patrioten schwer erschüttert. Daß trotz alledem die Mobilmachung im Sommer 1914 gelang; daß trotz der schweren Niederlagen im September und Oktober 1914 immer noch ein gewaltiges Heer, aus den Söhnen von zehn Nationen zusammengesetzt, in den Karpathen dem russischen Ansturm standhielt; daß, sei es auch nur unter dem harten Zwange des Kriegsabsolutismus, die Nationen im Hinterland stumm, ohne Auflehnung die Opfer des Krieges trugen, erschien den Patrioten als freudige Überraschung. „Der Staatsgedanke hat über das Nationalitätsprinzip gesiegt“, triumphierte damals Renner; die staatsbildende Kraft des Nationalitätsprinzips sei erschöpft, die Neubildung von Nationalstaaten auf den Trümmern der Monarchie sei zur „reaktionären Utopie“ geworden, die Überlegenheit des großen „übernationalen Staates“ über nationale Kleinstaaten, die Notwendigkeit des „großen Wirtschaftsreiches der kleinen Völker“, das Interesse aller Nationen des Habsburgerreiches an ihrer „Wehr- und Wirtschaftsgemeinschaft“ sei durch das Urteil der Geschichte selbst entschieden. Forderten nicht polnische Parteien die „austropolnische“, südslawische Parteien die „großkroatische Lösung“? Habsburg selbst werde, meinte Renner, den Umbau des Reiches zum Bundesstaat autonomer Nationen durchführen müssen, um Polen, um Serbien seinem Reich eingliedern zu können. So werde Österreich im Sturm der Kriegsereignisse seine Verfassung seinem Wesen anpassen, sich selbst zu einer „demokratischen Internationale“ entwickeln. Nicht die Wiederherstellung der alten, durch den Kriegsabsolutismus zerstörten Verfassung sei die Aufgabe; Renner hoffte auf ein Oktroi des Kriegsabsolutismus als das Instrument der inneren Umgestaltung, der „Erneuerung Österreichs“. Da er den „übernationalen Staat“ als eine höhere, entwickeltere Staatsform betrachtete als den Nationalstaat, trat er, ganz im Sinne des habsburgischen Imperialismus, für die „austropolnische Lösung“ der polnischen, für die „großkroatische Lösung“ der jugoslawischen Frage ein; die deutsche Einheit suchte er, ganz den Plänen des hohenzollernschen Imperialismus entsprechend, in der „mitteleuropäischen Zoll- und Schützengrabengemeinschaft“ in Naumanns Sinne. Das mitteleuropäische Imperium, unter deutscher Führung die kleinen Nationen föderierend, werde ein weit höheres soziales Gebilde darstellen als die demokratischen Staaten des Westens. „Altliberale“, die noch an den veralteten „Ideen von 1789“ hängen, mögen für die Demokratie des Westens schwärmen; Sozialisten müßten sehen, wie die Kriegsnot die Mittelmächte zur „Durchstaatlichung“ ihrer Wirtschaft und damit zu einer dem Sozialismus ungleich näheren, ihn vorbereitenden Wirtschaftsverfassung zwinge. In den Monaten, in denen die Furcht vor den Heeren des Zaren die Massenstimmung beherrschte, in denen sich die Sozialdemokratie unter dem Eindruck dieser Massenstimmung ohne Vorbehalt an die Seite der Mittelmächte stellte, für Krieg und Sieg der Mittelmächte ihren Einfluß auf die Massen einsetzte, lieferte Renner so der Stimmung der Massen, der Haltung der Partei die Ideologie.
Aber im weiteren Verlauf des Krieges mußte diese österreichisch-patriotische Ideologie in immer schrofferen Gegensatz gegen die Massenstimmung geraten. Die Blockade der Entente hat Österreich noch viel schwerer getroffen als Deutschland. Galizien wurde durch die russischen Armeen verwüstet, Ungarn sperrte sich gegen Österreich ab; so verfiel Österreich in furchtbare Lebensmittelnot, die die Rationierungsmaßregeln des bürokratischen „Kriegssozialismus“ nur wenig zu lindern vermochten. Die entsetzlichen Verluste der Armee in den ersten Kriegsmonaten zwangen zu immer neuen „Musterungen“; der Militarismus holte Kinder von den Schulbänken und alte Männer zogen mit ihren Söhnen ins Feld. Brutale Gewalt suchte die hungernden Arbeitermassen der Kriegsindustrie zur Arbeit zu peitschen; die Fabriken wurden militarisiert, die Arbeiter unter Kriegsrecht gestellt, militärische Betriebsleiter kommandierten in den Betrieben. Die Verfassung war sistiert, das Parlament geschlossen, die Presse geknebelt, die Zivilbevölkerimg der Blutjustiz der Militärgerichte unterworfen. Die Massen hatten diesen furchtbaren Druck ruhig ertragen, solange sie noch die Furcht vor der russischen Invasion beherrschte. Nach dem Durchbruch von Gorlice, nachdem die russischen Heere weit zurückgeworfen waren, hielt nicht mehr die Furcht vor der fremden Invasion den Groll gegen die Fortsetzung des Krieges nieder. Nun wuchs die Erbitterung der Massen.
Der Mann, der dieser Stimmung der Massen Ausdruck gab, war Friedrich Adler. „Wir haben,“ das war sein leitender Gedanke, „in diesem Kriege die Pflicht, als Sozialdemokraten zu handeln, unsere sozialdemokratische Überzeugung durchzuhalten.“ Der einzelne Genosse mag, sei er nun Deutscher oder Franzose, Österreicher oder Russe, auf dem Schlachtfelde seine Soldatenpflicht erfüllen; die Partei aber darf sich nicht „geistig assentieren lassen“, sie darf nicht zum Werkzeug der Kriegführung der herrschenden Klassen werden, sie darf ihre Sache weder mit der der Mittelmächte noch mit der der Entente identifizieren.
Renner glaubte, in der Zeit des imperialistischen Krieges müsse sich das Proletariat auf die Seite des Imperialismus des eigenen Landes stellen, um nicht vom fremden Imperialismus geknechtet zu werden. Adler forderte, das Proletariat müsse in unversöhnlicher Opposition gegen den Imperialismus überhaupt bleiben, vor allem aber überall gegen den Imperialismus des eigenen Staates für die Beendigung des Krieges, für den Frieden ohne Annexionen und Kontributionen kämpfen.
Renner betrachtete als Aufgabe des proletarischen Internationalismus die Verteidigung und Vergrößerung des „übernationalen“ Staatsgebildes. Adler betrachtete als Aufgabe des proletarischen Internationalismus die Wiederherstellung der internationalen Kampfgemeinschaft des Proletariats gegen alle nationalen und „übernationalen“ Imperialismen.
Renner forderte vom Kriegsabsolutismus die Verwaltungsreform und Verfassungsrevision, die den Grund legen sollen zur Umgestaltung Österreichs in einen Bundesstaat der Völker. Renner feierte die Militarisierung, die „Durchstaatlichung“ der Wirtschaft durch den Kriegsabsolutismus als den Anfang ihrer Sozialisierung. Adler dagegen rief zum Kampf gegen den Kriegsabsolutismus auf. „In Österreich und Rußland handelt es sich noch gar nicht um die soziale Revolution. Hier ist die bürgerliche Revolution noch nicht zum Siege gelangt, hier steht die Abrechnung mit dem Absolutismus, die Verwirklichung der Demokratie noch aus. Gegenüber dem Absolutismus ist zunächst noch nicht die Herstellung des Sozialismus nötig, sondern es ist die alte bürgerliche Revolution, deren Aufgaben für Österreich zu erfüllen bisher versäumt wurde, durchzuführen.“
Dem österreichischen Staatsproblem gegenüber stellte sich Adler „auf den Standpunkt der striktesten Neutralität“. Er identifizierte die Sache des Proletariats nicht mit der Sache der national-revolutionären Bewegungen der slawischen Nationen. Aber er lehnte es auch ab, gegen diese Bewegungen die Existenz Österreichs zu verteidigen, „die Sache des Sozialismus zu kompromittieren durch die zu enge Verflechtung mit dem Schicksal eines Staats“, über den Wirren der Kämpfe zwischen Staaten und Nationen habe die internationale Sozialdemokratie ihre besondere Aufgabe zu erfüllen, den Kampf an ihrer Front zu führen: den Krampf gegen den Kriegsdespotismus in den Betrieben für die Freiheit der Arbeiter, gegen den Kriegsabsolutismus im Staate für die Demokratie, gegen den Krieg für den Frieden ohne Annexionen und Kontributionen, gegen Kriegsleidenschaft und Kriegshaß für die internationale Solidarität des Proletariats. Sie habe ihren Einfluß auf die Massen nicht in den Dienst der Kriegführung zu stellen, sondern Kriegsnot und Kriegszerrüttung zur Revolutionierung der Massen auszunützen.
Friedrich Adler scharte um sich eine kleine Gruppe von Genossen, die sich in dem Verein „Karl Marx“ organisierte und in den Spalten des Kampf, auf den Reichskonferenzen der Partei ihre Auffassungen gegen die überwiegende Mehrheit der Partei verfocht.
Aber der Aktion der von Friedrich Adler geführten „Linken“ standen zunächst unüberwindliche Hindernisse im Weg. Ihr fehlte vor allem der Boden des Parlamentarismus, auf dem sich im Deutschen Reich die Auseinandersetzungen in der Partei entwickeln konnten. Und ihrem Kampf in der Presse setzte die Zensur sehr enge Schranken. So konnte sie an breitere Massen nicht heran. Friedrich Adler erkannte immer deutlicher, daß, da der Absolutismus der Opposition alle Möglichkeiten legaler Massenpropaganda geraubt hatte, nur noch eine außerordentliche individuelle Tat die Massen aufrütteln, die latente Energie ihres dumpfen Grolls in bewußte politische Aktion transformieren konnte. Im Herbst 1916 war jede Hoffnung auf nahen Frieden geschwunden. Die Hungersnot war so unerträglich geworden, daß im September trotz dem harten Kriegsrecht eine Bewegung in der militarisierten Kriegsindustrie ausbrach, die die Heeresverwaltung zwang, eine besondere Organisation für die Lebensmittelversorgung der Kriegsleistungsbetriebe zu schaffen. Die Erbitterung gegen den Absolutismus der Regierung Stürgkh erfaßte alle Klassen. Hochfeudale Gruppen des Herrenhauses forderten die Einberufung des Parlaments; Stürgkh lehnte sie ab. Der deutschnationale Präsident des Abgeordnetenhauses berief die Obmänner der Parteien ein; Stürgkh lehnte die Teilnahme an der Obmännerkonferenz ab. Universitätsprofessoren beriefen eine Versammlung ein, in der die Präsidenten des Abgeordnetenhauses sprechen sollten; Stürgkh verbot die Versammlung. Es. gab keine Möglichkeit einer legalen Opposition mehr. Da entschloß sich Fritz Adler zur Tat. Am 24. Oktober 1916 erschoß er den Ministerpräsidenten.
Adlers Tat war ein Wendepunkt in der Geschichte der Arbeiterbewegung. Den Massen, die in hoffnungs- und tatenloser Verzweiflung dahinlebten, war er ein Held, der sein Leben geopfert, um ihre Leiden zu rächen. Der Eindruck der Tat verstärkte sich, als ihr unmittelbarer Erfolg erkennbar wurde: das System Koerbers, der Stürgkh folgte, lockerte den Kriegsabsolutismus, es stellte der Diktatur Tiszas im Reiche stärkeren Widerstand entgegen, es gab Hoffnung auf die Einberufung des Parlaments. Der Arbeitertag am 5. November 1916, von der Partei und den Gewerkschaften einberufen, konnte endlich die Greuel des militärischen Despotismus in den Kriegsindustriebetrieben enthüllen und damit den erschütternden Motivenbericht zu Adlers Tat liefern. Wenige Wochen später folgte die russische Märzrevolution. Sie revolutionierte auch in Deutschösterreich das Denken der Massen. Die Furcht vor dem russischen Zarismus ward nun von der Begeisterung für die russische Revolution abgelöst. Gegen den Zaren hatte man sich gewehrt; gegen die Revolution wollte man nicht Krieg führen.. Und mit dem Kampf um den Frieden verknüpfte sich der Kampf um die Demokratie; nun standen die Mittelmächte auch im Osten wie früher schon im Westen demokratischen Gemeinwesen gegenüber; ihr Krieg war nur noch der Krieg halbfeudaler Militärmonarchien gegen die Demokratie. Die Bewegung in den Massen fand ihren Ausdruck in immer häufigeren Streiks in den Kriegsindustriebetrieben, die der Militarismus mit allen seinen Gewaltmitteln nicht mehr zu verhindern vermochte; die Verordnung vom 18. März 1917, die die Arbeitsverhältnisse in der Kriegsindustrie neu regelte, den industriellen Kriegsabsolutismus lockerte, war die erste Kapitulation des Absolutismus vor der Massenbewegung. Am 18. und 19. Mai 1917 fand vor dem Ausnahmegericht die Verhandlung gegen Friedrich Adler statt. Die offene revolutionäre Sprache, die Adler zum ersten Male vor den Schranken des Gerichtes sprechen konnte, fand in den Massen leidenschaftlichen Widerhall; und weit über die Reihen der Arbeiterklasse hinaus wirkte und warb das in der Gerichtsverhandlung enthüllte Bild seiner Persönlichkeit, in der sich kritisches, undogmatisches, vom Geiste modernen Relativismus genährtes Denken mit unbedingter, zur höchsten Selbstaufopferung gesteigerter Treue zum eigenen Prinzip, zum eigenen politisch-moralischen Charakter, zur sittlichen Pflicht, intellektueller Relativismus und ethischer Absolutismus so seltsam verknüpft zeigten. Wenige Tage später, am 30. Mai 1917, trat endlich nach dreijähriger Unterbrechung das Parlament wieder zusammen. Es nahm sofort den Kampf gegen den Terror der Militärgewalten auf. Die Mehrheit, aus den Sozialdemokraten und den Vertretern der slawischen Nationen zusammengesetzt, verweigerte den § 14-Verordnungen über die Aufhebung der Geschwornengerichte und über die Unterstellung von Zivilpersonen unter die Militärgerichtsbarkeit die Genehmigung und entriß dadurch der Schreckensherrschaft des Militarismus seine furchtbarste Waffe; Austerlitz hatte diesen Sieg über die Militärjustiz durch die Enthüllung ihrer Justizmorde in der Arbeiter-Zeitung wirksam vorbereitet. Mit der Wiederherstellung der Verfassung war die Möglichkeit der Massenpropaganda und Massenaktion wiedergewonnen, das zwei Jahre lang durch den militärischen Terror niedergehaltene Selbstbewußtsein der Massen mächtig gestärkt.
Im Verlaufe aller dieser Ereignisse, unter dem Drucke der sich wandelnden Massenstimmung hatte sich die Haltung der Partei zwar nur allmählich, nur schrittweise, aber vollständig verändert. Der Parteitag, der vom 19. bis zum 21. Oktober 1917 in Wien tagte, gab dieser Entwicklung den Abschluß. Die Erklärung der Linken faßte noch einmal die Anklagen gegen die Haltung der Partei in den ersten Kriegsjahren zusammen. Die Abwehr der Mehrheit war nur noch ein Rückzugsgefecht. Dem Parteitag folgten große Massenkundgebungen gegen den Krieg und für die russische Revolution. Das Bild der Arbeiter-Zeitung veränderte sich vollständig. Austerlitz führte nun in der Arbeiter-Zeitung den Kampf für einen demokratischen Verständigungsfrieden gegen den österreichisch-ungarischen und vor allem gegen den deutschen Imperialismus; seit den Tagen von Brest-Litowsk rückte die Arbeiter-Zeitung von den reichsdeutschen Mehrheitssozialisten ab. Hatte schon die Stockholmer Konferenz im Sommer 1917 in den Massen die Hoffnung geweckt, daß der Sozialismus den Frieden bringen werde, so wurde die Partei nun, dank der entschlossenen Wendung, die sie gemacht, zur Wortführerin der Friedenssehnsucht der kriegsmüden Massen an der Front und im Hinterlande, ihr Einfluß wuchs daher weit über ihre alten Kaders hinaus, sie erwarb so das Vertrauen, die Autorität, die Kraft, die sie befähigten, in der nahenden Revolution die Führung zu übernehmen.
Aber nicht nur in der Sozialdemokratie, auch in den Reihen der herrschenden Klassen hatte sich 1917 schon eine tiefe Wandlung vollzogen. Alter Gegensatz, in den ersten Kriegsjahren überbrückt, klaffte wieder auf: der Gegensatz zwischen dem Deutschtum und dem Österreichertum wurde wieder lebendig.
An der Front hatte es begonnen. Der preußische Offizier ließ es den österreichischen Kameraden fühlen, daß deutsche Divisionen nach jeder österreichischen Niederlage den schwachen Bundesgenossen retten mußten; preußischer Hochmut reizte das österreichische Selbstgefühl. Eifersüchteleien zwischen der deutschen Obersten Heeresleitung und dem k.u.k. Armeeoberkommando, Streit zwischen den beiden Diplomatien um das Trentino, um Polen, um „Mitteleuropa“ verschärften den Gegensatz. Der Kampf um den Frieden ließ ihn offenbar werden.
Die Tat Friedrich Adlers, der Ausbruch der russischen Revolution, die Maideklarationen der Tschechen und der Südslawen im Parlament hatten den Wiener Hof eingeschüchtert. Er sah, wie nach der russischen Revolution unter Tschechen, Polen, Südslawen die Bewegung für den Abfall vom Reiche erstarkte. Er sah die revolutionäre Gärung in den deutschösterreichischen Arbeitermassen. Der Wiener Hof erkannte, daß nur schneller Friedensschluß das Reich noch retten konnte. Durch das Jahr 1917 ziehen sich die Versuche des Wiener Hofes, durch geheime Verhandlungen zu schnellem Frieden mit der Entente zu gelangen und den deutschen Bundesgenossen zu schnellem Friedensschluß mit der Entente zu bewegen.
Noch war Habsburg nicht bereit, dem Frieden schwere Opfer zu bringen. Wohl bot Czernin im April 1917 dem Deutschen Reich die Angliederung Polens samt Galizien an, um es zur Abtretung Elsaß-Lothringens an Frankreich zu bewegen; aber er entwertete das Angebot sofort, indem er für den Erzherzog Karl Stephan die polnische Königskrone verlangte. Wohl erklärte sich im Mai 1917 Kaiser Karl bereit, das Trentino an Italien abzutreten; aber er verlangte als Preis dafür die Abtretung italienischer Kolonien. Wohl wiederholte im Mai 1917 Czernin das Angebot an Deutschland, ihm Polen und Galizien zu überlassen; aber diesmal verlangte er als Preis dafür die Angliederung Rumäniens an die Monarchie. Je schwerer aber die Wirtschaftsnot in der Monarchie wurde, je drohender die revolutionäre Bewegung ihrer Völker, desto mehr wuchs Habsburgs Friedenssehnsucht; desto eher war der Kaiser bereit, selbst mit schweren Opfern den Frieden zu erkaufen, um seinen Thron zu retten. Aber in Berlin stieß er auf ein starres Nein. Die deutschen Generale, die die Politik des Reiches bestimmten, hofften noch auf den Sieg. Sie wollten nicht nur von der Abtretung Elsaß-Lothringens an Frankreich nichts hören; sie sprachen noch von der Annexion Lüttichs, von der Kontrolle der flandrischen Küste, von der Angliederung der russischen Randvölker. In Wien wuchs die Erbitterung gegen die deutschen Generale, die den rechtzeitigen Friedensschluß, der allein die Monarchie retten konnte, verhinderten. Der Wiener Hof begann die Trennung von Deutschland und einen Sonderfrieden mit der Entente zu erwägen.
Zum Sonderfrieden drängten die Kaiserin, die in französischen Traditionen erzogene, Deutschland hassende Familie Parma-Bourbon. Zum Sonderfrieden rieten magyarische Diplomaten und kroatische Generale. Bismarcks Satz, keine große Nation werde „je zu bewegen sein, ihr Bestehen auf dem Altar der Vertragstreue zu opfern“, wurde am Hof das beliebteste Zitat. Der Kaiser schwankte. Aber schließlich wagte er doch den Sonderfrieden nicht. Er fürchtete die Auflehnung der Deutschösterreicher. Er fürchtete vor allem die deutschen Generale. Er fürchtete, daß Deutschland den Sonderfrieden mit dem Einfall seiner Heere in das Gebiet der Monarchie beantworten werde. Schon im März 1917 hatte der Prinz Sixtus von Parma dem Kaiser für diesen Fall die Waffenhilfe der Entente gegen Deutschland zugesichert. Im November 1917 urteilte Czernin über die Wirkungen eines Sonderfriedens: „Die deutschen Generale werden nicht so dumm sein, zu warten, bis die Entente über Österreich nach Deutschland einfällt, sondern dafür sorgen, daß Österreich zum Kriegsschauplatz wird. Wir beenden also damit den Krieg nicht, wir wechseln bloß den Gegner und liefern einzelne bisher noch hievon verschonte Provinzen, so Tirol und Böhmen, der Kriegsfurie aus, um schließlich doch zertrümmert zu werden.“ Nach der russischen Oktoberrevolution, nachdem die Auflösung des russischen Heeres die große deutsche Ostarmee freigesetzt hatte, war diese Gefahr unzweifelhaft sehr ernst.
So scheiterten alle Friedensbemühungen. Aber sie hatten ein folgenschweres Nachspiel. Im April 1918 deckte Clemenceau das Geheimnis der durch den Prinzen Sixtus geführten Friedensverhandlungen auf. In dem Augenblick, in dem die deutsche Armee an der Westfront zu dem zweiten gewaltigen Offensivstoß eingesetzt hatte, von dem die Deutschnationalen den Durchbruch nach Paris und Calais, den endgültigen Sieg erhofften, in diesem Augenblick erfuhr Deutschösterreich, daß der Kaiser mitten im Krieg durch seinen im feindlichen Heere dienenden Schwager „das tapfere französische Heer“ seiner Sympathien versichert und hinter Deutschlands Rücken seinen Schwager ermächtigt hatte, „Herrn Poincaré, dem Präsidenten der französischen Republik, mitzuteilen, daß ich mit allen Mitteln und mit Anwendung meines ganzen persönlichen Einflusses bei meinen Verbündeten die gerechten Rückforderungsansprüche Frankreichs auf Elsaß-Lothringen unterstützen werde“. Alle deutsch Gesinnten im österreichischen Bürgertum lehnten sich wild auf. Sie waren mit dem Kaiser unzufrieden, als er nach der russischen Revolution die „Belange“ nicht zu oktroyieren wagte. Sie waren erbittert, als er, in der Zeit der Bemühungen um den Frieden, den tschechischen „Hochverrätern“ Amnestie gewährte. Jetzt, da des Kaisers Brief an den Bourbonen bekannt wurde, erschien ihnen der Kaiser nur noch als Verräter, an dem deutschen Bundesgenossen, der seit vier Jahren aberund abermals mit deutschen Blutopfern das geschlagene österreichische Heer gerettet hatte. Mißtrauen, Verachtung, Haß gegen den Kaiser beherrschten jetzt das deutschnationale Bürgertum. Ganz anders urteilten die altösterreichisch Gesinnten. Auch sie mochten des Kaisers Methoden für falsch halten. Sein Ziel aber hielten sie für richtig. Daß nur schneller Friede, und sei es selbst ein Sonderfriede, das Reich retten könne, daß sich Österreich von Deutschland trennen, sich der Entente in die Arme werfen, sich in einen Bundesstaat autonomer Nationen umbilden müsse, um nicht gänzlich zu zerfallen, war auch ihre Überzeugung. So entstand ein ganz eigenartiger österreichischer Pazifismus, in dem sich menschlicher Abscheu vor dem Kriege und pazifistischer Glaube an Wilsons Friedensbotschaft mit altösterreichischem Patriotismus und altösterreichischem Preußenhaß. mit der Sorge um die Existenz der Monarchie und der Furcht vor der nationalen und der sozialen Revolution vermengten. Lammasch’ Persönlichkeit gab dieser pazifistischen Strömung Bedeutung.
Drüben die Deutschnationalen, die immer noch auf den Sieg der deutschen Waffen hofften, immer noch bis zu dem Deutschlands Macht mehrenden Siegfrieden durchhalten wollten. Hüben einerseits der patriotische Pazifismus, anderseits die Sozialdemokratie, die beide den Frieden, beide die innere Umbildung Österreichs zu einem Bundesstaat freier Völker forderten. Einen Augenblick lang traten dem Alldeutschtum das pazifistische Altösterreichertum und die Sozialdemokratie vereint entgegen. Als Lammasch im Herrenhause den Schönburg und Pattai tapfer entgegentrat, jubelten ihm die Arbeitermassen zu. Aber die Allianz zwischen dem patriotischen Pazifismus und der Sozialdemokratie währte nicht lang. Sie wurde gelöst durch die weitere innere Entwicklung der Sozialdemokratie.
Die „Linke“ hatte in den Jahren 1914 bis 1917 ihre Aufgabe innerhalb der deutschösterreichischen Sozialdemokratie erst zur Hälfte erfüllt. Vorerst war es nur ein demokratischer Pazifismus, der in der Partei obsiegt hatte. Nun galt es, die Partei vom bloßen Pazifismus zur Erkenntnis ihrer revolutionären Aufgaben weiterzuführen.
Im Herbst 1917 war es uns klar: Kommt der Friede nicht bald, dann endet der Krieg mit der Revolution. Und auch den Inhalt dieser Revolution konnte jeder, der die innere Entwicklung der nationalen Bewegungen der Tschechen, der Polen, der Südslawen im Jahre 1917 beobachtet hatte, voraussagen: zerbricht die Revolution den Herrschaftsapparat, der die 'zehn Nationen im Gehorsam hält, dann werden Tschechen, Polen, Südslawen von Österreich-Ungarn abfallen, wird Österreich-Ungarn zerfallen. Nicht das war die Frage, ob die deutschösterreichische Arbeiterschaft wünsche, daß das Reich zerfällt; die Frage, die wir zu beantworten hatten, war vielmehr, wie sich die deutschösterreichische Arbeiterschaft verhalten solle, wenn Tschechen, Polen, Südslawen das Reich zerfallen.
Wir forderten seit 1899 die Umbildung Österreichs zu einem Bundesstaat freier Nationen. Im Verlaufe des Krieges war es klar geworden, daß sich Tschechen, Polen, Südslawen mit dieser Lösung ihres nationalen Problems nicht mehr begnügen werden, wenn die Revolution ausbricht; daß sie in der Revolution um ihre volle nationale Unabhängigkeit kämpfen werden. Unser Problem war: Kann sich die deutschösterreichische Sozialdemokratie der nationalen Revolution der slawischen Völker entgegenstellen? Soll sie, wenn erst die Revolution kommt, die Nationen, die ihre volle Freiheit fordern, zu zwingen versuchen, daß sie sich mit der Autonomie innerhalb Österreichs bescheiden?
Das Brünner Nationalitätenprogramm war eine revolutionäre Parole, als wir es 1899 dem Zentralismus der deutschösterreichischen Bourgeoisie und dem Kronländerföderalismus des Feudaladels entgegenstellten. Es war eine revolutionäre Parole, als wir es 1908 bis 1914 dem kriegerischen Imperialismus entgegenschleuderten. Es mochte allenfalls noch für eine revolutionäre Parole gelten, als die Partei es 1915 und 1916 der Oktroipolitik, den „Belangen“ der deutschösterreichischen Bourgeoisie entgegenwarf. 1917 aber war es schon klar: Kommt die Revolution, dann wird die Umbildung der Monarchie zu einem Bundesstaat autonomer Nationen zur Parole der Konterrevolution werden; zu dem Programm, das die Dynastie, die deutschösterreichische Bourgeoisie, die magyarische Gentry den Nationen, die um ihre vollständige Befreiung kämpfen, entgegenstellen werden. Unsere Frage war: Soll sich die deutschösterreichische Arbeiterklasse in der nahenden Revolution an die Seite der Dynastie, der deutschösterreichischen Bourgeoisie, der magyarischen Gentry gegen die ihr uneingeschränktes Selbstbestimmungsrecht fordernden Nationen stellen?
Wir erwogen: Schlägt die Stunde der Revolution, dann kann nur noch konterrevolutionäre Gewalt die Nationen dem Verband des österreichisch-ungarischen Staatswesens wieder einfügen. Aber konterrevolutionäre Gewalt kann nicht einen demokratischen Bundesstaat freier Völker aufrichten, sie kann nur mit den Mitteln der Gewalt die niedergeworfenen Völker zusammenhalten. Siegt die Revolution, so wird Österreich nicht zu einem Bundesstaat freier Völker werden, sondern zerfallen. Siegt die Konterrevolution, so wird sie nicht einen Bundesstaat freier Völker aufrichten können, sondern nur eine despotische Gewaltherrschaft, die mit den niedergeworfenen Nationen auch die deutschösterreichischen Arbeitermassen despotisch niederhalten wird.
Unsere Erwägungen führten zu dem Schluß: Kommt die Revolution, so dürfen wir nicht Arm in Arm mit den konterrevolutionären Mächten, mit der Dynastie, mit der deutschösterreichischen Bourgeoisie, mit der magyarischen Gentry die Existenz Österreichs gegen die revolutionären Nationen verteidigen. Wir müssen das uneingeschränkte Selbstbestimmungsrecht der slawischen Nationen anerkennen. Und müssen aus dieser Anerkennung unseren Schluß ziehen: Erkennen wir das Selbstbestimmungsrecht der slawischen Nationen an, so müssen wir dasselbe Selbstbestimmungsrecht für das deutschösterreichische Volk fordern. Verwirklichen die slawischen Nationen ihre Einheit und Freiheit in neuen Nationalstaaten, so müssen wir die Einheit und Freiheit des deutschen Volkes zu verwirklichen versuchen durch den Anschluß Deutschösterreichs an Deutschland. Sprengt die nationale Revolution der slawischen Nationen das Reich, so müssen wir die revolutionäre Krise ausnützen für die Sache der sozialen Revolution; müssen wir auch auf unserem Boden die Dynastie stürzen, die demokratische Republik aufrichten, auf dem Boden der demokratischen Republik den Kampf um den Sozialismus beginnen.
Wollten wir also die Partei zur Erfüllung ihrer Aufgaben in der nahenden Revolution geistig vorbereiten, so mußten wir den Einfluß der Lehre Renners von der Notwendigkeit und Überlegenheit des „übernationalen Staates“ brechen, die Massen zur bedingungslosen Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes der Völker erziehen, das Brünner Nationalitätenprogramm von 1899 überwinden, auf die alte Tradition der republikanischen Demokratie, ihre Tradition von 1848 her, zurückgreifen, daß die Aufgabe der österreichischen Revolution die Auflösung des österreichischen Staates selbst, die Aufrichtung freier Nationalstaaten auf seinen Trümmern sein werde.
Ich hatte schon vor dem Kriege, schon seit der Annexionskrise, im Kampf die Auffassung vertreten, daß der nahende Krieg das revolutionäre Nationalitätsprinzip wieder auf die Tagesordnung der Geschichte setzen werde. Als ich im September 1917 aus der russichen Kriegsgefangenschaft heimkehrte, begann ich die Propaganda dieses Gedankens. Freilich, wollten wir öffentlich zu den Massen sprechen, so mußten wir innerhalb der Schranken bleiben, die die Preßzensur uns setzte. Wir konnten also nicht offen von der Revolution sprechen, sondern mußten sie als „vollen Sieg der Demokratie“, als „Einberufung konstituierender Nationalversammlungen“ umschreiben; wir konnten nicht offen die Auflösung Österreichs proklamieren, sondern sie nur umschreiben durch die Forderung, daß den Nationen nur diejenigen Angelegenheiten gemeinsam bleiben sollen, die sie durch freie Vereinbarung als gemeinsam feststellen. So fügte ich schon in die Erklärung, die die „Linke“ auf dem Oktoberparteitag 1917 verfocht, den folgenden, gegen Renner polemisierenden Satz ein:
„Wie das soziale Problem nicht in bloßer Verwaltungsarbeit gelöst werden kann, sondern nur durch die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat, so kann auch das nationale Problem nicht durch ein paar Verwaltungsgesetze gelöst werden, sondern nur durch den vollen Sieg der Demokratie. Nicht die Kreisverwaltung kann unsere Losung sein im Kampfe für die nationale Autonomie, sondern nur die Einberufung Konstituierender Nationalversammlungen der einzelnen Nationen, von denen jede die Verfassung und die Verwaltungsorganisation ihrer Nation souverän festsetzt und die Besorgung der gemeinsamen Angelegenheiten mit den anderen Nationen vereinbart.“
Aber diese Gedankengänge waren der Partei noch im Oktober 1917 so wenig vertraut, daß sie von dem Parteitag überhaupt nicht verstanden wurden. Derselbe Parteitag, der vor den Auffassungen der „Linken“ über die Stellung der Partei zum Kriege zurückwich, nahm eine Resolution Renners an, die eine demokratische Verwaltungsreform als Grundlage der Umgestaltung Österreichs in einen Nationalitätenbundesstaat forderte, ohne daß auch nur die auf dem Parteitag anwesenden Vertreter der „Linken“ dagegen Einspruch erhoben hätten. Erst die Ereignisse des Jänner 1918 machten die deutschösterreichische Arbeiterschaft mit dem Gedanken des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen vertraut.
In Brest-Litöwsk verhandelten die Vertreter der Mittelmächte mit der Delegation der Sowjetrepublik über den Frieden. Gegen alle die „Angliederungs“-Pläne des deutschen und des österreichischen Imperialismus verfocht Trotzki das Selbstbestimmungsrecht Polens, Litauens und Kurlands. Am 12. Jänner schlug der General Hoffmann mit der Faust drohend auf den Verhandlungstisch; die Protestversammlungen, die die Partei am folgenden Tage in Wien veranstaltete, zeigten die leidenschaftliche Erregung der Massen über den imperialistischen Vorstoß der deutschen Obersten Heeresleitung gegen die Sowjetrepublik. Die Erbitterung über die Verschleppung der Friedensverhandlungen wurde durch eine schwere Krise des Ernährungsdienstes verschärft. Als am 14. Jänner 1918 die Mehlration auf die Hälfte herabgesetzt wurde, traten die Arbeiter in Wiener-Neustadt in den Streik. Am folgenden Tage griff der Streik auf Ternitz, Wimpassing, Neunkirchen, das Triestingtal und St. Polten über. Die Bewegung breitete sich ungeregelt von Betrieb zu Betrieb, von Ort zu Ort aus. Der Parteivorstand beschloß, sie zu vereinheitlichen und ihr ein politisches Ziel zu geben. Am 16. Jänner veröffentlichte die Arbeiter-Zeitung ein Manifest der Parteivertretung, das erklärte, das Volk wolle nicht „den Krieg gegen Rußland zu dem Zweck weiterführen, damit der Kaiser von Österreich zum König von Polen gewählt werde und damit der König von Preußen wirtschaftlich und militärisch über Kurland und Litauen verfüge“. Das Manifest schloß mit den Worten:
„Darum fordern wir euch. Arbeiter und Arbeiterinnen, auf, überall und immer wieder laut und nachdrücklich eure Stimme zu erheben und mit uns zu kämpfen:
Es zeugte von der tiefen Wandlung, die sich bereits vollzogen hatte, daß die Parteivertretung dieses Manifest erließ und daß die Zensur es, einer von Viktor Adler und Seitz dem Ministerpräsidenten Seidler aufgezwungenen Weisung gemäß, nicht mehr zu unterdrücken wagte. Der niederösterreichische Streik hätte wohl auch ohne dieses Manifest Wiener Betriebe mitgerissen; das Manifest aber vereinheitlichte die ganze Bewegung. Am 16. Jänner trat die ganze Wiener Arbeiterschaft in den Streik. Am 17. und 18. Jänner wurden auch die oberösterreichischen und die steirischen Industriegebiete von der Bewegung erfaßt. Am 18. Jänner trat auch die ungarische Arbeiterschaft in den Ausstand. Die Riesenmasse der Streikenden, die wilde revolutionäre Leidenschaft ihrer Massenversammlungen, die Wahl der ersten Arbeiterräte in den Streikversammlungen – all das gab der Bewegung grandiosen revolutionären Charakter und weckte in den Massen die Hoffnung, den Streik unmittelbar zur Revolution steigern, die Macht an sich reißen, den Frieden erzwingen zu können.
Das war nun freilich eine Illusion. Den mililärischen Kommanden gelang es, sehr schnell bedeutende Streitkräfte in die Streikgebiete zu werfen: durchwegs rumänische, ruthenische, bosnische Truppen, mit denen sich die streikenden Arbeiter nicht verständigen konnten, eingeschüchterte junge Rekruten, die fest in der Hand ihrer Führer waren. Es unterlag keinem Zweifel, daß diese Truppen stark und verläßlich genug waren, jeden Versuch der Massen, den Streik zu revolutionärem Gewaltakt weiterzutreiben, blutig niederzuwerfen.
Aber selbst wenn der österreichische Militarismus über die Abwehrkräfte gegen eine revolutionäre Erhebung nicht mehr verfügt hätte, wäre im Jänner 1918 nicht möglich gewesen, was im Oktober 1918 möglich geworden ist. Denn eben damals, in den Tagen von Brest-Litowsk, war der deutsche Imperialismus auf dem Höhepunkt seiner Macht. Die russische Armee hatte sich seit der Oktoberrevolution vollständig aufgelöst. Das Riesenheer der deutschen Ostfront war verfügbar geworden. Eine Million Mann konnte der deutsche Militarismus in den folgenden Wochen vom Osten nach dem Westen werfen. In dem Augenblick, in dem der deutsche Imperialismus über eine größere Reservearmee verfügte als jemals vorher oder nachher während des ganzen Krieges, hätte die österreichische Revolution nichts anderes bewirken können als die Invasion Österreichs durch die deutschen Heere. Deutsche Armeen hätten Österreich besetzt, wie sie kurze Zeit später unvergleichlich größere Gebiete in Rußland und der Ukraine besetzt haben, und hätten die österreichische Revolution niedergeworfen, wie sie kurze Zeit später die Revolution in Finnland niedergeworfen haben. Und da die Revolution zugleich die Südfront aufgelöst hätte, wären auf österreichischem Gebiet die vom Süden vordringenden Ententeheere mit den von Norden einbrechenden deutschen Heeren zusammengestoßen; Österreich wäre zum Kriegsschauplatz geworden.
Wir wußten, wie ernst die Gefahr einer deutschen Invasion war. Es war uns bekannt, daß nur die Furcht vor der deutschen Invasion den Wiener Hof von dem Sonderfrieden abschreckte. Es war uns bekannt, daß auch die tschechischen Revolutionäre die deutsche Invasion fürchteten. Nichts war uns während des Jännerstreiks ein wichtigeres Symptom als die Haltung der tschechischen Arbeiterschaft. Nur Brunn, wo die den Wiener Gewerkschaften angeschlossenen Zentralisten die Führung hatten, wurde von dem Streik erfaßt. Das ganze große tschechische Gebiet, in dem die tschechoslawische Sozialdemokratie führte, blieb ruhig. Die tschechoslawische Sozialdemokratie stand längst schon unter dem starken Einfluß der tschechischen revolutionären Führer, die die nationale Revolution der Tschechen vorbereiteten und von dem Nationalrat der tschechischen Emigration ihre Weisungen empfingen. Offenbar wünschten die Führer der tschechischen nationalen Revolution die Teilnahme der tschechischen Arbeiter an dem Streik nicht. Den Streik als Demonstration für den Frieden mit Sowjetrußland konnten sie als Verbündete der Entente nicht wünschen; denn die Entente hatte soeben mit Sowjetrußland gebrochen, weil es über den Frieden mit den Mittelmächten zu verhandeln beschloß. Die Steigerung des Streiks zur Revolution konnten sie noch weniger wünschen; denn ihre Taktik während des ganzen Krieges war durch die Überzeugung bestimmt, daß jede tschechische Revolution, solange der deutsche Imperialismus noch nicht geschlagen war, nur zur Besetzung Böhmens und Mährens durch reichsdeutsche Truppen führen konnte.
Diese Erkenntnisse mußten unsere Entschlüsse bestimmen. Wir hatten den Streik als eine große revolutionäre Demonstration gewollt. Die Steigerung des Streiks zur Revolution selbst konnten wir nicht wollen. Darum mußten wir dafür sorgen, daß der Streik beendet werde, ehe Hungersnot die Streikenden zur Kapitulation zwingt, so beendet werde, daß die Macht und das Selbstvertrauen der Massen gestärkt wird. Der Parteivorstand formulierte schon am ersten Tage des Wiener Streiks, am 16. Jänner, Forderungen an die Regierung. Der in den Streikversamralungen gewählte Arbeiterrat genehmigte diese Forderungen in seiner ersten Sitzung am 18. Jänner. Die Regierung gab nach. Am 19. Jänner überreichte der Ministerpräsident einer Abordnung des Arbeiterrates eine Erklärung des Ministers des Äußern Czernin, in der sich dieser feierlich verpflichtete, die Friedensverhandlungen an keinerlei territorialen Fragen scheitern zu lassen, keinerlei Gebietserwerbungen auf Rußlands Kosten anzustreben, Polens Selbstbestimmungsrecht vorbehaltlos anzuerkennen; außerdem versprach er Reformen des Kriegsleistungsgesetzes und des Ernährungsdienstes und die Demokratisierung des Gemeindewahlrechtes. In der Nacht vom 19. auf den 20. Jänner nahm der Arbeiterrat nach leidenschaftlichen Debatten den Antrag des Parteivorstandes an, die Arbeiterschaft aufzufordern, sie solle die Arbeit am Montag, den 21. Jänner, wieder aufnehmen. Dieser Beschluß stieß in den von revolutionärer Leidenschaft erfaßten Massen auf heftigen Widerstand. In stürmischen Riesenversammlungen wurde um ihn gekämpft. In den meisten Betrieben wurde die Arbeit erst am Dienstag, in vielen erst am Mittwoch oder am Donnerstag wieder aufgenommen.
In den stürmischen Versammlungen vor der Beendigung des Streiks trieben die „Linksradikalen“ eine heftige Agitation. Diese kleine, von Franz Koritschoner geführte Gruppe hatte im Sommer 1917 auf einer Konferenz in St. Ägyd im Föhrenwalde bei Wiener-Neustadt Verbindungen mit der Arbeiterschaft des Wiener-Neustädter Industriegebietes angeknüpft. Im Jänner hatte ihre Agitation an der Ausbreitung des Wiener-Neustädter Streiks auf das niederösterreichische Industriegebiet einigen Anteil. Jetzt warf sie sich dem Beschluß, den Streik abzubrechen, entgegen. Das militärische Aufgebot in den Streikgebieten, die ablehnende Haltung der tschechischen Arbeiter, die millionenköpfige Armeereserve des deutschen Imperialismus – all das kümmerte sie nicht; ihr war die Beendigung des Streiks nackter „Verrat“. Sie richtete ihren Angriff nicht nur gegen den Parteivorstand, sondern auch gegen die „Linke“, weil wir für die Durchführung der Beschlüsse des Arbeiterrates eintraten. Die Wege der „Linken“ und der „Linksradikalen“ schieden sich nun. Während die „Linke“ allmählich die Partei für ihre Auffassungen gewann, stellten sich die „Linksradikalen“ gegen die Partei. Im November 1918 konstituierten sie sich, mit einer Gruppe aus Rußland heimkehrender Kriegsgefangener vereinigt, als Kommunistische Partei.
Der Jännerstreik konnte nicht unmittelbar in die Revolution münden. Aber er war eine revolutionäre Demonstration von großer geschichtlicher Wirkung, die überaus viel dazu beigetragen hat, die Vorbedingungen der Oktoberund Novemberrevolution zu schaffen Zunächst hat der Streik die Regierung eingeschüchtert. Anfangs dachte man am Hofe daran, eine Militärdiktatur aufzurichten, die die rebellischen Arbeiter niederwerfen sollte; der General der Kavallerie Fürst Schonburg war zum Ministerpräsidenten ausersehen. Aber der Kaiser wagte diese Herausforderung der Arbeiter nicht mehr. Vor dem Wiederausbruch des Streiks zitternd, wagte es der Militarismus nicht mehr, seine Gewaltmittel gegen die Arbeiterschaft voll zu gebrauchen. Der Einfluß der Sozialdemokratie war gestärkt, unsere Bewegungsfreiheit erweitert, das Kriegsrecht in den Fabriken wesentlich gelockert.
Noch folgenschwerer war die Wirkung des Streiks auf die Armee. Der Kampf der Arbeiterschaft um den Frieden fand unter den kriegsmüden hungernden Soldaten lautes Echo. Die Gärung in den Truppen äußerte sich in einer Kette von Meutereien, die dem Jännerstreik folgten. In Judenburg meuterten slowenische, in Fünfkirchen serbische, in Rumburg tschechische, in Budapest magyarische Truppen. In Gattaro schlug in den ersten Februartagen ein Streik der Arsenalarbeiter auf die Kriegsmarine über. Die Mannschaft der Kriegsschiffe hißte rote Flaggen, sie setzte die Offiziere gefangen und forderte Friedensschluß auf Grund der 14 Punkte Wilsons. Erst die vom Hafenkommando zu Hilfe gerufene Flottendivision von Pola, von deutschen U-Booten unterstützt, zwang die Meuterer zur Kapitulation. Die Meutereien wurden niedergeworfen. Aber wie sehr der Jännerstreik unsere Macht gestärkt, die Herrschenden eingeschüchtert hatte, zeigte sich darin, daß es dem Eingreifen der sozialdemokratischen Abgeordneten in den meisten Fällen gelang, die Hinrichtung der zum Tode verurteilten Meuterer zu verhindern. Unter den Truppen aber breiteten sich revolutionäre Ideen immer weiter aus. Sie gewannen noch an Kraft, als nach dem Friedensschluß mit der Sowjetrepublik Zehntausende Kriegsgefangene, die in Rußland die Revolution erlebt hatten, heimkehrten und in die Truppen eingereiht wurden. Zugleich gewann aber die revolutionäre Idee selbst auch größere Bestimmtheit. Der Jännerstreik hatte die Forderung nach dem Frieden mit der Forderung nach der Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes der Völker verknüpft. Daß nur die vorbehaltlose Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen dem Krieg ein Ende setzen könne, wurde im Jännerstreik und durch den Jännerstreik zur Überzeugung der deutschösterreichischen Arbeiterschaft. Damit erst begann die deutschösterreichische Arbeiterschaft die Aufgabe zu begreifen, die ihr die nahende nationale Revolution der Tschechen, Jugoslawen und Polen stellen mußte. Diese Aufgabe mußte nun näher bestimmt werden.
An demselben 20. Jänner, an dem in stürmischen Massenversammlungen für und wider die Beendigung des Streiks gekämpft wurde, kamen im Eisenbahnerheim in Wien einige Vertreter der „Linken“ und der tschechischen Zentralisten zusammen; auch ein polnischer und ein slowenischer Sozialdemokrat waren gekommen. Wir waren überzeugt, daß der Augenblick der Revolution noch nicht gekommen war; darum waren wir mit der Einstellung des Streiks einverstanden. Wir waren überzeugt, daß der Augenblick der Revolution nahte; darum waren wir zusammengekommen, um uns über die konkreten Aufgaben des Proletariats in der nationalen Revolution zu verständigen. Das Ergebnis dieser Beratungen war das Nationalitätenprogramm der Linken.
Die Darlegungen des Nationalitätenprogramms gingen von der Feststellung aus, daß die slawischen Nationen der Monarchie einen Entwicklungszustand erreicht haben, in dem sie die Fremdherrschaft und die Zerstückelung nicht mehr ertragen. „Sie fordern ihr volles Selbstbestimmungsrecht. Sie werden es erringen, sobald der volle Sieg der Demokratie die Gewalten, die die Völker knechten, überwindet.“ Was wird nun – das ist die Frage, die das Programm zu beantworten sucht – die internationale; Sozialdemokratie in dieser nahenden Stunde zu tun haben? Das Programm sagt darüber:
„Die deutsche Sozialdemokratie kann als demokratische, als internationale, als revolutionäre Partei diese Entwicklung nicht bekämpfen. Sie muß das Selbstbestimmungsrecht der tschechischen Nation, sie muß das Recht der Slowenen, Kroaten und Serben auf ihre Vereinigung in einem südslawischen Gemeinwesen anerkennen. Sie muß die Forderung nach der Vereinigung des ganzen polnischen Volkes, also auch des polnischen Volkes in Galizien und Schlesien, mit dem unabhängigen Polen unterstützen.
Die Deutschen bilden nur eine Minderheit der Bevölkerung Österreichs. Die Vorherrschaft der deutschen Bourgeoisie in Österreich beruht nur auf politischen und sozialen Vorrechten. Sie wird daher durch den wirtschaftlichen und kuturellen Aufstieg der anderen Nationen erschüttert. Sie wird vollständig zusammenbrechen durch den Sieg der Demolcratie. Durch ihn gelangen die slawischen und romanischen Völker Österreich-Ungarns zu ihrer eigenen Staatlichkeit; eben dadurch löst sich aber aus dem österreichischen Völkergemenge Deutsch Österreich als ein besonderes Gemeinwesen heraus. Ist dieses konstituiert, so wird es seine Beziehungen zum Deutschen Reiche nach seinen Bedürfnissen und seinem Willen selbständig ordnen können.
Für das Proletariat ist die Demokratie Lebensbedürfnis. Die deutsche Sozialdemokratie kann daher die politischen und sozialen Vorrechte nicht aufrechterhalten, auf denen die nationale Vorherrschaft der deutschen Bourgeoisie in Österreich beruht. Aber gerade indem die deutsche Arbeiterklasse diese Vorrechte niederreißt und dadurch die Befreiungsbestrebungen der nichtdeutschen Nationen unterstützt, bereitet sie die Einheit und Freiheit der deutschen Nation, die Vereinigung aller Deutschen in einem demokratischen deutschen Gemeinwesen vor.
Anderseits muß die tschechische, die polnische und die südslawische Sozialdemokratie jeden Versuch der Bourgeoisien ihrer Nationen bekämpfen, im Namen der Freiheit der eigenen Nation andere Nationen zu knechten. Die tschechische Sozialdemokratie muß die Forderung der tschechischen Bourgeoisie, daß dem tschechischen Staate auch die deutschen Gebiete Böhmens und Mährens, die deutschen und die polnischen Gebiete Schlesiens einverleibt werden sollen, unbedingt bekämpfen. Die polnische Sozialdemokratie muß die nationalistische Forderung, daß dem polnischen Staate die ukrainischen Gebiete Ostgaliziens, daß ihm auch litauische und weißrussische Gebiete einzuverleiben seien, unbedingt ablehnen. Die südslawische Sozialdemokratie muß jeden Plan der Bereicherung ihres Volkes auf Kosten der Italiener, der Albaner oder der Bulgaren unbedingt zurückweisen.“
Von diesen Grundsätzen ausgehend, forderte das Programm: eine vollkommen souveräne Konstituierende Nationalversammlung für jedes geschlossene Sprachgebiet; Entscheidung der Grenzstreitigkeiten durch Volksabstimmung, keine staatsrechtliche Gemeinsamkeit zwischen den Nationoii als diejenige, die sie etwa freiwillig miteinander vereinbaren.
Das Programm zog aus der Anerkennung des Selbslbestimmungsrechtes der Nationen die letzte Konsequenz, indem es zum erstenmal die „Vereinigung aller Deutschen in einem demokratischen deutschen Gemeinwesen“ – so mußten wir der Zensur wegen die Republik umschreiben – also den Anschluß Deutschösterreichs an Deutschland, forderte. Es griff damit auf die Traditionen von 1848, die Traditionen der sechziger Jahre zurück. Freilich, mit einer wesentlichen Abweichung. Im Jahre 1848 waren die Tschechen und die Südslawen noch unentwickelte Bauernvölker gewesen; alle bürgerliche Kultur in Böhmen, Mähren, Krain war noch deutsch. Ihr Gegensatz gegen die nationale Revolution der Deutschen, der Magyaren, der Italiener halte damals Tschechen und Slowenen zu Stützen der habsburgischen Konterrevolution gemacht. Ein tschechischer, ein jugoslawischer Nationalstaat wäre damals nur als Vasallenstaat des zarischen Rußland denkbar gewesen. Darum hat die Demokratie von 1848 den Tschechen und den Slowenen keineswegs das Recht auf selbständige Staatlichkeit zugesprochen. Ihr Ziel war das Aufgehen der historischen deutschen Bundesländer Österreichs einschließlich der tschechischen und der slowenischen Gebiete in einer deutschen Republik, neben der nur die revolutionären historischen Nationen – Italiener, Magyaren und Polen – ihre selbständigen Nationalstaaten begründen sollten. In den siebzig Jahren seither hatte sich die Lage völlig verändert. Tschechen und Südslawen hatten ihre eigene bürgerliche Kultur entwickelt, sie waren jetzt die Träger der nationalen Revolution gegen Habsburg, sie konnten nach der russischen Revolution nicht mehr zu Werkzeugen des Zarismus werden. Das Nationalitätenprogramm der Linken konnte daher nicht mehr den Anschluß der historischen deutschen Bundesländer, sondern nur den Anschluß der deutschen Sprachgebiete Österreichs an Deutschland fordern. Es mußte nicht nur den historischen Nationen – Italienern, Polen und Magyaren – sondern auch den ehemals geschichtslosen Nationen – Tschechen, Jugoslawen und Ukrainern – das Selbstbestimmungsrecht zuerkennen.
Das Nationalitätenprogramm der Linken ist in den Tagen von Brest-Litowsk, den Tagen des Kampfes der russischen Revolution mit dem deutschen Imperialismus formuliert worden. Als eine Proklamation gegen den deutschen Imperialismus war das Programm zunächst gedacht. Damals, nach der Auflösung der russischen Armee, war der deutsche Imperialismus siegessicherer denn je. Es war die Zeit seiner verwegensten Pläne. In Brest-Litowsk wollte er Kurland und Litauen an Deutschland angliedern, Polen zwischen Deutschland und Österreich teilen. Wenige Tage später erstreckten sich die deutschen Angliederungspläne auch schon auf Livland und Estland. In Finnland sollten deutsche Truppen einen deutschen Fürsten einsetzen, in der Ukraine setzten sie den Hetman als Deutschlands Vasallen ein. Der Friede von Bukarest sollte Rumänien der deutschen Volkswirtschaft hörig machen. Zugleich bereitete Ludendorff die große Offensive im Westen vor, die Frankreich niederwerfen, Deutschland die wirtschaftliche und militärische Verfügung über die flandrische Küste sichern sollte. So gestaltete sich damals als Ziel des deutschen Krieges ein ungeheures Imperium, das in dem zur Wehr- und Wirtschaftsgemeinschaft vereinten „Mitteleuropa“ die zehn Nationen Österreich-Ungarns unter deutsches Kommando stellen, im Westen Belgien und die französischen Erzgebiete von Longwy und Briey, im Osten die russischen „Randvölker“ vom Finnischen Meerbusen bis zum Schwarzen Meer, im Südosten Rumänien, den Balkan und die Türkei bis zum Persischen Golf unter deutsche Oberhoheit stellen sollte. Diesen Herrschaftsplänen des deutschen Imperialismus stellten wir das Prinzip des Selbstbestimmungsrechtes der Völker, dem alldeutschen Gedanken eines „Mitteleuropa“, durch das die deutsche Bourgeoisie über fünfundzwanzig kleinere Nationen herrschen sollte, den alten Gedanken der großdeutschen Republikaner von 1848 entgegen, daß das deutsche Volk seine Einheit und Freiheit nur erlangt, wenn es die Freiheit und Einheit der anderen Nationen anerkennt. Im Kampfe gegen die alldeutschen Eroberungspläne ist der großdeutsche Einheitsgedanke wiedererstanden. Friedrich Adler hat später den Gegensatz so formuliert: „Nicht alldeutsch, das heißt: so weit der deutsche Säbel reicht, sondern großdeutsch, das heißt: so weit die deutsche Zunge klingt.“ Während der deutsche Imperialismus den phantastischen Projekten der Ausdehnung seiner Herrschaft über fremde Völker Gut und Blut der Nation opferte, dachten wir bereits die Politik der deutschen Zukunft vor: den Weg, den allein das deutsche Volk gehen konnte, sobald erst das Unentrinnbare geschehen, der deutsche Imperialismus an der Übermacht der von ihm herausgeforderten Völker der Welt gescheitert, alle deutsche Herrschaft über fremde Völker zusammengebrochen war.
Die geschichtliche Bedeutung des Nationalitätenprogramms der Linken bestand eben darin, die Partei auf die Aufgaben der Zukunft vorzubereiten, in der ihr die Führung der Nation zufallen mußte. Zunächst rief das Programm innerhalb der Partei heftigen Widerstand hervor; besonders von Renner wurde es leidenschaftlich bekämpft. So führte das Programm zu einer heftigen Debatte in den Spalten des Kampfes, die in viele Parteisitzungen und Parteikonferenzen übertragen wurde. In diesen Debatten, durch diese Debatten rang sich die Partei allmählich zu bestimmten Vorstellungen von der nahenden Revolution und von den Aufgaben der Partei in der nahenden Revolution durch. In dem Maße, als die Niederlage der Mittelmächte und die innere Auflösung Österreichs den Parteigenossen erkennbar wurden, setzten sich im Verlauf des Sommers 1918 die Auffassungen, die die Linke in dem Nationalitätenprogramm formuliert hatte, innerhalb der Partei durch. Am 3. Oktober beschloß der Klub der deutschen sozialdemokratischen Abgeordneten eine Resolution, durch die er sich die Grundsätze des Nationalitätenprogramms der Linken aneignete. Wir werden diese Resolution noch kennen lernen; denn mit ihr begann eigentlich die Oktoberrevolution. Noch in der Vorberatung dieser Resolution hatte Renner, nur mehr von wenigen Abgeordneten unterstützt, sie bekämpft; wenige Tage später beugte auch er sich der Entscheidung, die die Geschichte bereits gefällt hatte, erkannte auch er, daß es nunmehr keinen anderen Weg mehr gab als den, den die Erklärung der Linken schon auf dem Oktoberparteitag 1917 angedeutet, den das Nationalitätenprogramm der Linken schon während des Jännerstreiks 1918 deutlich beschrieben, zu dem sich die Partei in den Diskussionen über das Nationalitätenprogramm der Linken im Verlauf des Sommers 1918 allmählich durchgerungen hatte. Damit erst waren die Gegensätze innerhalb der Partei vollständig überwunden. Die Partei hatte eine einheitliche Auffassung ihrer nächsten Aufgaben wiedergewonnen. Einig und geschlossen ging sie im Oktober und November 1918 den Weg des Nationalitätenprogramms der Linken.
Die „Linke“ war die treibende Kraft der großen inneren Entwicklung gewesen, die die Partei im Verlauf des Krieges durchgemacht, durch die sie sich auf die Erfüllung ihrer Aufgaben in der Revolution vorbereitet hat. Beide Richtungen innerhalb der Partei aber, die Rechte und die Linke^ haben gleiches Verdienst daran, daß die Gegensätze innerhalb der Partei nicht durch die Spaltung der Partei versteinert, sondern durch die innere Entwicklung des Parteiganzen überwunden wurden. Unter der weisen Führung Viktor Adlers, Seitz’ und Austerlitz’ hat die Mehrheit der Partei ihre Auffassungen, die sich verändernde historische Situation erkennend, allmählich berichtigt, ihre Haltung der sich wandelnden Stimmung der Massen allmählich angepaßt, den Gegensatz, der Linke und Rechte schied, allmählich aufgelöst. Der ganze Verlauf der Revolution ist wesentlich dadurch bestimmt worden, daß die Partei als einheitliche Kraft in die Revolution eintrat.
Zuletzt aktualisiert am 4.8.2008