MIA > Deutsch > Marxisten > Bauer > Die österreichische Revolution
Literatur:
Feldman, Geschichte der politischen Ideen in Polen, München 1917. – Bernhard, Die Polenfrage, Leipzig 1910. – Rosa Luxemburg, Die industrielle Entwicklung Polens, Leipzig 1898.
Wskrzeszenie Państwa Polskiego, Kraków 1920. – Rosner, W krytycznej chwili, Wiedeń 1916. – Moraczewski, Zarys sprawy polskiej w obecnej wojnie, Lausanne 1915. – Daszyński, Cztery lata wojny, Kraków 1918. – Anonymus, Józef Pilsudski, Warszawa 1918.
Czernin, Im Weltkriege, Berlin 1919. – Glaise-Horstenau, Die Zeit der Friedens schlüsse im Osten, Der österreichisch-ungarische Krieg, Leipzig 1922.
Als der Krieg begann, jubelte ein großer Teil des polnischen Volkes in Galizien den kaiserlichen Armeen zu, die gegen Rußland aufmarschierten, und zu Tausenden meldeten sich polnische Studenten, Intellektuelle, Arbeiter, um als Kriegsfreiwillige in den polnischen Legionen gegen Rußland zu kämpfen. Standen Südslawen und Tschechen gegen Habsburg, so schien hier doch eines der slawischen Völker des Reiches zu Habsburg zu stehen, auf Habsburgs Sieg seine Hoffnung zu setzen. Als der Krieg zu Ende ging, standen die Polen nicht anders als Jugoslawen und Tschechen mit allen ihren Wünschen und Hoffnungen auf der Seite der Entente, erwarteten auch sie von Habsburgs Fall ihre Befreiung. Auch diese große Wandlung, die sich im Verlauf des Krieges innerhalb des galizischen Polentums vollzogen hat, stellt ein wichtiges Kapitel der Geschichte der österreichischen Revolution dar.
In der Sturmzeit der großen Französischen Revolution war die polnische Adelsrepublik unterggeangen. In den Aufständen von 1794, 1830, 1846, 1863 hatte die polnische Schlachta vergebens die verlorene staatliche Selbständigkeit wiederzuerobern versucht. Die furchtbare Niederlage des Aufslandes von 1863 brach die revolutionäre Energie des polnischen Adels. Der Sturz Napoleons III. im Jahre 1870 raubte ihm alle Hoffnung, daß die polnische Frage von außen her wieder aufgerollt werden werde. Nicht mehr die Wiedereroberung der nationalen Staatlichkeit, sondern nur noch die Rettung des nationalen Seins war nun die Aufgabe, „organische Arbeit“ statt revolutionärer Romantik die Parole des Tages. Schon 1846 hatte die österreichische Regierung die galizischen Bauern gegen die rebellierenden Edelleute aufgeboten. 1864 hatte die russische Regierung das Herrenland auf die Bauern verteilt, um sich auf die Bauern gegen die revolutionäre Schlachta zu stützen. Ebenso glaubte Bismarck, den „loyalen“ polnischen Bauern gegen die rebellische Schlachta ausspielen zu können. Der Adel sah seine Klasseninteressen bedroht, wenn die Regierungen die Bauern gegen den Edelmann schützten. So suchte der Adel die Versöhnung mit den Regierungen der drei Kaisermächte. „Dreifache Loyalität“ war nun die Losung, die die Krakauer Stanczyken dem Adel der drei Teile Polens gaben.
In Galizien trug diese Politik reiche Früchte. Nach dem Ausgleich von 1867 schlossen der Kaiser und die deutsche Bourgeoisie ihren Frieden mit dem polnischen Adel. Die Schlachta wurde im Reichsrat und in den Delegationen zur sicheren Stütze jeder österreichischen Regierung. Dafür aber wurde Galizien ihr völlig ausgeliefert. Hier erstand die polnische Adelsrepublik wieder. Polnisch waren Verwaltung und Schule. Und die polnische Schlachta herrschte unbeschränkt über den polnischen und den ruthenischen Bauern. Anders im russischen und im preußischen Anteil. Dort blieben alle Bemühungen der Schlachta, die Gnade der Herrschenden zu erlangen, fruchtlos. Mochte der Adel im Königreich Polen dem Zaren huldigen, mochte das Kolo polskie im deutschen Reichstag mit seinen Stimmen die Bewilligung von Militär- und Flottenvorlagen entscheiden: dem polnischen Volke blieb dennoch die nationale Schule, blieben dennoch alle Elemente nationaler Selbstverwaltung versagt. Die preußische Regierung hatte schon 1832 die deutsche Amtssprache in Posen eingeführt, 1833 die Landratswahlen in Posen suspendiert, im Jahre 1836 die Woyts beseitigt, an die Stelle der gewählten Dorfvorsteher ernannte Distriktskommissäre gesetzt, und diese Zertrümmerung aller Selbstverwaltung hatten die Polen mit ihrem Austritt aus dem Staatsdienst beantwortet. 1873 führte Preußen dann die deutsche Unterrichtssprache in den Volksschulen ein, 1886 begann die Ansiedlungskommission, polnische Güter aufzukaufen und auf ihnen deutsche Bauern anzusiedeln. So standen die Polen in Posen und Westpreußen nach völliger Zerstörung ihrer Selbstverwaltung unter der Herrschaft einer fremden Bürokratie, die ihnen mittels der deutschen Schule die Seelen ihrer Kinder, mittels der Ansiedlungspolitik ihren Boden zu entreißen suchte. Nicht anders erging es nach 1863 den Polen im russischen Anteil. Seit 1863 war alle Selbstverwaltung zerstört, seit 1869 wurde der gesamte Unterricht, seit 1873 das Gerichtswesen russifiziert. In Litauen wurde 1865 den Polen der Bodenkauf, 1868 der öffentliche Gebrauch der polnischen Sprache verboten.
Aber so hart der Druck dieser nationalen Fremdherrsctiaft auch war, die wirtschaftliche und soziale Entwicklung wurde durch ihn nicht behindert. In Posen, dessen Bauern weit früher zu freien Grundeigentümern geworden waren, wo Landwirtschaft und Volksbildung weit höhere Entwicklungsstufe erreicht hatten als in den beiden anderen Anteilen, erwachte im Kampf gegen die germanisierende Schulpolitik und Ansiedlungspolitik der preußischen Regierung der polnische Bauer. Seit den achtziger Jahren entwickelte sich unter der Führung der katholischen Geistlichkeit ein dichtes Netz von Bauernvereinen und bäuerlichen Genossenschaften. „Große Politik“ war nicht die Sache des Posener Bauern; aber im zähen Kleinkrieg verteidigte er die Nationalität und den Grundbesitz der Volksmasse und durchkreuzte er alle Pläne der Ansiedlungspolitik.
In derselben Zeit, in der in Preußisch-Polen die Führung der Nation aus den Händen des Adels in die der Bauernschaft überging, entwickelte sich in Russisch-Polen dank der russischen Schutzzollpolitik seit 1877 eine bedeutende Industrie, mit der die industrielle Bourgeoisie aufstieg. Sie entwickelte sich im heftigen Gegensatz gegen die gewaltsame und korrupte russische Bürokratie. Aber auf den breiten russischen Markt angewiesen, mit dem Handel und der Industrie Petersburgs, Moskaus, Rigas eng verknüpft, stand sie unter starkem Einfluß der russischen Gesellschaft.
Genoß Galizien ungleich mehr nationale und politische Freiheit als die beiden anderen Anteile, so blieb es doch wirtschaftlich und sozial weit hinter ihnen zurück. Es hatte keine starken Bauernorganisationen wie der preußische, keine aufstrebende industrielle Bourgeoisie wie der russische Anteil. Hier blieben bis 1914 die Macht im Lande und die Führung der Nation in den Händen des Adels. Wohl stand auch hier schon seit dem Anfang der neunziger Jahre der Adelsherrschaft eine allmählich erstarkende Opposition gegenüber. Aber Träger dieser Opposition war weder die Bauernschaft noch die industrielle Bourgeoisie, sondern die kleinbürgerliche Intelligenz, der das polnische Schulwesen Galiziens die revolutionär-patriotischen Traditionen der polnischen Emigration von 1831 und 1863, die großen Überlieferungen Mickiewicz’ und Slowackis vermittelte. An diese Überlieferung knüpfte die neuromantische Literatur, knüpften die Wyspiański und Żeromski, an sie knüpfte die neue historische Schule Aszkenazys an; so erwuchs diese Intelligenz im Traum von dem revolutionär-patriotischen Kampfe um die Wiederherstellung eines unabhängigen Polen. In diesem Kampfe gegen die Adelsherrschaft konnte sich die Intelligenz nur auf die Arbeiterbewegung stützen, die, jung, unentwickelt, auf keine breite industrielle Basis gestützt, unter die Führung der revolutionär-patriotischen Intelligenz geriet und sich mit ihren Idealen erfüllte.
So ging die Entwicklung in den drei Anteilen schon grundverschiedene Wege, als der Russisch-Japanische Krieg im Jahre 1905 die erste russische Revolution auslöste. Das Königreich Polen ward von dem mächtigen Strom der russischen Revolution mitgerissen. Die Arbeiter erhoben sich, gewaltige Generalstreiks erschütterten das Land, Straßenkämpfe schüchterten die besitzenden Klassen ein. Die erschreckte polnische Bourgeoisie flüchtete unter den Schutz der Bajonette des russischen Zaren. Die Revolution wurde niedergeworfen. Aber ihre Schrecken wirkten nach. Die polnische Bourgeoisie wußte nun, daß jeder Aufstand gegen den Zarismus das Proletariat auf den Plan rufen, ihre eigene Klassenherrschaft gefährden mußte. Sie brach nun vollends mit der ganzen überlieferten Ideologie des nationalen Aufstandes, der nationalen Unabhängigkeit. Dmowski führte die Nationaldemokraten. die führende Partei der polnischen Bourgeoisie, zur Versöhnung mit Rußland. Die Revolution hatte Rußland die Verfassung gebracht. Auf dem Boden der Duma begegneten die Vertreter der polnischen Bourgeoisie den russischen Liberalen, die im Kampfe gegen die Bürokratie nicht abgeneigt schienen, Polen die Autonomie innerhalb des russischen. Reiches zuzubilligen. Auf den Aufstieg des russischen Liberalismus setzten die Nationaldemokraten fortan ihre Hoffnung, die Autonomie Polens innerhalb des russischen Imperiums war fortan ihr Ziel.
Die preußische Polenpolitik förderte diese Annäherung der polnischen Bourgeoisie an Rußland. Im Jahre 1904 hatte Preußen ein Ausnahmegesetz gegen den polnischen Landerwerb erlassen. Im Jahre 1907 folgte das Enteignungsgesetz, das den polnischen Grundbesitz mit zwangsweiser Enteignung bedrohte. Zugleich hatte das deutsche Vereinsgesetz den Gebrauch der polnischen Sprache in Versammlungen verboten. Während sich Russisch-Polen mit der Revolution von 1905 doch wenigstens die freie Entwicklung des privaten polnischen Volks- und Mittelschulwesens erobert hatte, griff Preußen zu Ausnahmegesetzen, die den Polen gewaltsame Verdrängung von ihrem heimischen Boden ankündigten. Ein Sturm der Entrüstung ging durch die polnischen Lande. Nicht Rußland, sondern Deutschland erschien nun als der gefährlichste Feind der Nation. Der Gedanke der slawischen Interessengemeinschaft gegen die Deutschen gewann nun auch in Polen Kraft; 1908 erschienen polnische Vertreter auf dem Panslawistenkongreß in Prag.
Wandte sich die polnische Bourgeoisie von dem Gedanken der nationalen Unabhängigkeit ab, so stieß sie in den Volksmassen Russisch-Polens auf keinen Widerstand. Die Bauernschaft hatte dort an der Tradition der Schlachzizenaufstände von 1831 und 1863 keinen Anteil; in jedem Bauerndorf erinnerten Kreuze und Steindenkmäler daran, daß der polnische Bauer erst nach der Niederwerfung des Adelsaufstandes von 1863 aus den Händen des russischen Zaren den Boden der polnischen Schlachta empfangen hatte. Die Arbeiterschaft, aus diesem bäuerlichen Milieu aufgestiegen, war in der Revolution von 1905 in den Strudel der russischen Klassenkämpfe hineingeraten. Während der Revolution hatte in der PPS, der Polnischen Sozialistischen Partei, die „Linke“ die Mehrheit erlangt, die – ebenso wie früher schon die von Rosa Luxemburg begründete SDKPiL (Sozialdemokratie des Königreiches Polen und Litauens) – den gemeinsamen revolutionären Klassenkampf des russischen und des polnischen Proletariats proklamierte, jeden besonderen nationalen Kampf des polnischen Proletariats für nationale Ziele ablehnte, die nationale Autonomie Polens durch die Revolution des russischen Proletariats erreichen wollte. So ist erst durch die Revolution von 1905 das Königreich auch geistig von Rußland annektiert worden: sowohl die Bourgeoisie als auch das Proletariat verbündeten sich mit ihren Klassengenossen in Rußland, sie setzten auf die innere Umwälzung in Rußland ihre Hoffnungen, sie setzten der Nation die Autonomie innerhalb Rußlands als Ziel.
Freilich, es gab auch eine Gegenströmung. Mit blutiger Gewalt hat der Zarismus die Revolution niedergeworfen. Der Warschauer Generalgouverneur Skallon allein setzte unter tausend Todesurteile seine Unterschrift. Die Kerker füllten sich. Ein Transport nach dem andern ging nach Sibirien ab. Die Gewerkschaften, die nationalen Schul- und Turnvereine wurden aufgelöst. Die Zeiten der Suworow, der Paskiewitsch, der Murawjew waren wiedergekehrt. Wild loderte der alte Haß gegen den Zarat empor. Der Gedanke des bewaffneten Aufstandes, der Polen von der Russenherrschaft befreien sollte, lebte wieder auf. Er ward verkörpert in dem „rechten“, patriotischen Flügel der PPS, vor allem in ihrer von Pilsudski begründeten Kampforganisation. Aber die Niederwerfung der Revolution löste den Partisanenkrieg der Kampforganisation gegen die zarischen Schergen in zielloses Banditentum auf. Pilsudski und die Seinen zogen sich nach Galizien zurück und ihre Parole des nationalen bewaffneten Aufstandes gegen Rußland fand hier in der revolutionär-patriotischen Intelligenz und der von ihr geführten, in der galizischen PPSD (Polnischen Sozialdemokratie) vereinigten Arbeiterschaft weit stärkeren Widerhall als in Russisch-Polen.
Die internationale Lage war dem Wiederaufleben der Idee des nationalen Aufstandes gegen den Zarat günstig. Seit der Annexion Bosniens spitzte sicli der Gegensatz zwischen Österreich-Ungarn und Rußland zu. Pilsudski hoffte, den drohenden Krieg zwischen Rußland und den Mittelmächten zum Kampf für die Befreiung Polens ausnützen zu können. Der österreichisch-ungarische Generalstab hoffte, im Kriegsfall eine polnische Erhebung gegen Rußland der Kriegführung der Monarchie dienstbar machen zu können. So konnte Pilsudski 1910 seine Schützenverbände gründen und sie vor den Augen der österreichischen Behörden mit Waffen, die die k.u.k. Militärbehörden geliefert hatten, einexerzieren. Als der Balkankrieg 1912 den russisch-österreichischen Gegensatz abermals verschärfte, bildete sich die Vereinigung der Unabhängigkeitsparteien, die den Aufstand gegen Rußland als Ziel, die Organisation der Schützenverbände als Kadres der im Kriegsfalle aufzustellenden polnischen Legionen als nächste Aufgabe bezeichnete. Den Kern der Vereinigung bildeten die rechte PPS, die PPSD und eine kleine Intellektuellenpartei.
Nun begannen sich auch in Galizien die Geister zu scheiden. Einerseits nährte die preußische Polenpolitik immer von neuem den Haß gegen Deutschland und trieb viele damit den seit 1905 russophilen Nationaldemokraten zu. Im Jahre 1912 beschloß die preußische Ansiedlungskommission zum erstenmal, von dem Enteignungsgesetz Gebrauch zu machen und vier polnische Güter zu enteignen. Anderseits aber trieb die russische Polenpolitik immer neuen Wind in die Segel der Unabhängigkeitsparteien. Hatte schon der Staatsstreich Stolypins vom 3. Juni 1906 die polnische Vertretung in der Duma empfindlich geschwächt, waren alle Bemühungen der Nationaldemokraten, auf dem Boden der Duma Erfolge für die polnische Sache zu erringen, erfolglos geblieben, so wurde die im Jahre 1912 durchgeführte Losreißung des Gouvernements Cholm aus dem administrativen Verbände des Königreichs Polen vom ganzen Polentum wie ein Schlag ins Gesicht empfunden. So zwischen preußische und russische Feindseligkeit gestellt, stritt die galizische Intelligenz darüber, oh der drohende Krieg Polen an der Seite Rußlands oder an der Seite der Mittelmächte finden solle.
Die Scheidung der Geister vollzog sich im Streit um die Behandlung der galizischen Ruthenen. Der ruthenische Bauer war erwacht. In großen Agrarstreiks hatte er sich gegen die polnischen Gutsherren erhoben. Die russische Revolution hatte auf ihn mächtig eingewirkt. Die ersten Wahlen des allgemeinen Stimmrechts zeigten das Erstarken seines Selbstbewußtseins. Aber die junge Intelligenz, die die Bauern führte, war in zwei Parteien geteilt. Ukrainer und Moskalophile stritten um die Macht. Den Ukrainern galt das kleinrussische Bauernvolk als eine selbständige Nation; von Haß gegen Rußland erfüllt, das den Gebrauch der ukrainischen Schriftsprache verbot und der Ukraine die großrussische Schriftsprache aufzwang, auf die landarme Bauernmasse gestützt, waren sie demokratisch, revolutionär gesinnt, vom Geiste des russischen Narodnischestwo erfüllt. Den Moskalophilen dagegen galten die Kleinrussen als ein Stamm der großen russischen Nation; ihre Liebe galt dem slawischen Rußland des Zaren und der orthodoxen Kirche. Wie unhaltbar die polnische Adelsherrschaft in Ostgalizien geworden war, zeigte die energische Opposition der seit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts (1907) erstarkten ukrainischen Fraktion im Wiener Reichsrat, lehrte das Attentat Siczynskis auf den Statthalter Potocki (1908). Die Habsburgermonarchie suchte nun, da sie sich auf einen Krieg gegen Rußland vorzubereiten begann, die Ukrainer mit Österreich zu versöhnen, während sie zugleich die Moskalophilen gewaltsam niederzuhalten bemüht war. Der Versöhnung der Ukrainer sollte die Demokratisierung des galizischen Adelslandtages dienen, die der Statthalter Bobrzyński unternahm. Der Streit um diese Reform spaltete den galizischen Adel. Die westgalizischen Stanczyken, immer darauf bedacht, ihrer Klasse die Unterstützung des Wiener Hofes zu sichern, wollten sich nicht mit einem Gebot österreichischer Staatsraison in Widerspruch setzen; die ostgalizischen Gutsherren dagegen, die „Podolier“, auf ihren Gütern von der ukrainischen Bauernbewegung unmittelbar bedroht, ergriffen für die konservativen Moskalophilen Partei. Und derselbe Riß teilte nun die ganze polnische Gesellschaft in Galizien: die Unabhängigkeitsparteien betrachteten die Ukrainer als ihre natürlichen Verbündeten im Kampfe gegen Rußland: die Nationaldemokraten, in Lemberg von der ansteigenden ukrainischen Flut bedroht, proklamierten den „nationalen Egoismus“, die „nationale Machtpolitik“ im Kampfe gegen das Ukrainertum. So standen die Stanczyken und die Unabhängigkeitsparteien auf der einen, die Podolier und die Nationaldemokraten auf der anderen Seite – der Gegensatz zwischen der österreichischen und der russischen Orientierung war bereits vorgezeichnet.
Der Krieg brach aus. Am 6. August 1914 überschritt Pilsudski mit ein paar hundert Schützen die russische Grenze und besetzte Kielce. Die militärische Geste wurde von den Unabhängigkeitsparteien mit überschwänglichem Enthusiasmus begrüßt. Sie galt ihnen als der Beginn des nationalen Befreiungskampfes für das unabhängige Polen, Pilsudskis Schützen als die Erben der Legionen Dabrowskis, die unter den Adlern des großen Napoleon gekämpft hatten. Wenige Tage später formierte sich in Krakau das NKN (Naczelny Komitet Narodowy), als Keimzelle der Regierung des selbständigen Polenstaates gedacht. Die Stanczyken und die Unabhängigkeitsparteien bestimmten seine Politik. Ein selbständiger polnischer Staat, aus Russisch-Polen und Galizien gebildet, der sich als drittes Glied der Habsburgischen Doppelmonarchie angliedern sollte, war das nächste Ziel. Aber Russisch-Polen protestierte. In der Duma stellten sich die Polenführer auf die Seite der Entente. In Warschau bildete sich ein nationales Komitee, das dem Krakauer NKN das Recht, in Polens Namen zu sprechen, absprach und bald auch, wenngleich mit unbeträchtlichem Erfolg, gegen die Legionen Pilsudskis eine Legion, die an Rußlands Seite kämpfen sollte, zu werben versuchte. Indessen eroberten die russischen Heere den größten Teil Galiziens und der russische Oberkommandierende, der Großfürst Nikolai Nikolajewitsch, erließ am 14. August ein Manifest, das den Polen aller drei Teile die Vereinigung in einem autonomen Polen innerhalb des Zarenreiches verhieß. Nun wagte sich auch in Galizien die Opposition gegen die „österreichische Orientierung“ hervor. Die Nationaldemokraten und die Podolier traten aus dem NKN aus und sie zerstörten die ostgalizische Legion. Der Gegensatz zwischen der österreichischen und der russischen Orientierung innerhalb des galizischen Polentums wurde nun sichtbar.
Die österreichische Orientierung – das war der Kampf um einen polnischen Staat. Freilich, einen Staat ohne den national am schwersten gefährdeten preußischen Anteil. Aber doch jedenfalls einen Staat. Ersteht nur erst überhaupt polnische Staatlichkeit von neuem, dann wird sie für die Vereinigung aller Polen in einem Nationalstaat schon zu kämpfen wissen.
Die russische Orientierung – das war der Kampf um die Vereinigung Polens. Freilich, die Vereinigung unter der Zarenherrschaft. Aber vor allem die Vereinigung, und wäre es in einem Gefängnis! Sind erst zwanzig Millionen Polen innerhalb eines Staates vereinigt, dann werden sie sich nationales Eigenleben schon zu erkämpfen vermögen.
Das Ideal der Freiheit, der staatlichen Selbständigkeit war so in Widerstreit mit dem Ideal der nationalen Einheit geraten. Die polnische Gesellschaft war in zwei Lager zerrissen.
Immerhin, der aktivste, energischeste Teil des galizischen Polentums hatte sich für die Mittelmächte erklärt. Es waren sonderbare Alliierte. Habsburg und Hohenzollern als Verbündete der von revolutionären Verschwörern organisierten, mit der Ideenwelt der demokratischen Revolutionen des 19. Jahrhunderts erfüllten Legionen! Österreich, das den Krieg unternommen hatte, um das revolutionäre Nationalitätsprinzip im Süden zu brechen, als Vorkämpfer des revolutionären Nationalitätsprinzips im Norden! Und hinter Österreich das hakatistische Preußen-Deutschland, das die Entstehung eines selbständigen Polen als Bedrohung seiner Herrschaft über Posen und Westpreußen betrachten mußte!
In der Tat begannen die Reibungen sofort. Sie begannen damit, daß das k.u.k. Armeeoberkommando von den Legionen den Treueid für den Kaiser forderte. Sie setzten sich fort im Kleinkrieg zwischen dem Armeeoberkommando und Pilsudski. Aber Bedeutung erlangten sie erst, als die große Offensive 1915 Russisch-Polen den Mittelmächten unterwarf.
Nun wurde vor allem sichtbar, wie ganz anders die Stimmung in Russisch-Polen war als in Galizien, wie eng das Königreich schon seit 1905 geistig an Rußland geknüpft war. Warschau empfing Pilsudskis Legionen stumm, ohne Gruß.
Nur eine Tat konnte die Stimmung im russischen Anteil zugunsten der Mittelmächte wenden. Aber zu solcher Tat waren die Mittelmächte unfähig. Gegen die austropolnische Lösung erhob zunächst Tisza Einspruch; ein dritter gleichberechtigter Staat innerhalb der Habsburgermonarchie hätte den ungarischen Einfluß geschmälert. So einigte man sich am Wiener Hofe, daß Russisch-Polen, mit Galizien vereinigt, ein autonomer Bestandteil des österreichischen Staates werden solle. So hatte auch Österreich nun nur noch Autonomie, nicht Staatlichkeit zu bieten; so viel bot Nikolaj Nikolajewitsch auch. Er bot mehr: den Anschluß des preußischen Anteils dazu!
Aber nicht Österreich, sondern Deutschland hatte über Polens Zukunft zu entscheiden. Und in Deutschland war man nicht einig. Preußisches Herrschaftsinteresse sprach für eine neue Teilung: einen Teil Russisch-Polens annektieren, den Rest entweder Rußland zurückgeben oder zum kleinen, Deutschland hörigen Pufferstaat machen.
Aber so wenig sich Habsburg und Hohenzollern über Polens Zukunft einigen konnten, in einem waren sie einig: sie wollten polnische Rekruten für ihren Krieg. Im Königreich sollten Rekruten für die polnischen Legionen geworben werden. Nun begann die Spaltung innerhalb der Anhängerschaft der österreichischen Orientierung. Die Stanczyken förderten die Werbungen. Die PPS unter Pilsudskis Führung stellte sich ihnen seit dem Herbst 1915 entgegen: Werbungen für ein polnisches Heer erst dann, wenn eine polnische Regierung existiert, die über das Heer verfügt. Im Kampf gegen die Werbungen war nun alles vereinigt: die antirussischen Unabhängigkeitsparteien mit den russophilen Nationaldemokraten. Beselers Bemühungen um die Aufstellung einer „polnischen Wehrmacht“ unter deutschem Kommando blieben erfolglos.
Im Sommer 1916 brach Österreich bei Luck zusammen. Die deutsche Oberste Heeresleitung kommandierte nun die ganze Ostfront. Im Sommer 1916 lehnte Deutschland die austropolnische Lösung ab. Und in Deutschland kommandierte Ludendorff. Er brauchte polnisches „Menschenmaterial“. Er verlangte das Recht, in Polen Rekruten auszuheben. Beseler glaubte, fünfzehn Divisionen aus Polen herausschöpfen zu können, wenn die Mittelmächte Polen die Wiederherstellung seiner Staatlichkeit versprechen. Am 5. November 1916 erklärten die Mittelmächte den russischen Anteil zu einem „selbständigen Staat als Erbmonarchie mit konstitutioneller Regierungsform“, während Franz Josef Galizien Erweiterung seiner Autonomie innerhalb Österreichs versprach.
Das Manifest behielt die Festsetzung der Grenzen des neuen polnischen Staates vor; Preußen wollte sich die Möglichkeit, einen Teil Russisch-Polens zu annektieren, wahren. Das Verhältnis des neuen Staates zu den Mittelmächten blieb späterer Regelung vorbehalten; in Berlin dachte man an wirtschaftliche und militärische „Angliederung“ Polens an das Reich. In Warschau wurde ein Staatsrat eingesetzt; aber er war nur ein beratender Körper, die ganze Regierungsgewalt blieb in den Händen des deutschen Generalgouverneurs.
Pilsudski legte das Kommando seiner Legionen nieder. Er trat in den Staatsrat in Warschau ein. Als seine Legionen 1915 an der Seite der Deutschen in Warschau eingezogen, waren sie stumm empfangen worden. Als er selber, nun schon im Konflikt mit den Mittelmächten, 1916 nach Warschau kam, wurde er wie ein Triumphator empfangen. Er arbeitete im Staatsrat Pläne für den Aufbau eines polnischen Heeres aus; aber er blieb bei der Parole: Aufstellung des Heeres erst dann, wenn eine selbständige polnische Regierung da sein wird, die über das Heer verfügt.
Am 15. März 1917 siegte in Rußland die Revolution. Am 30. März erließ die russische Revolutionsregierung eine Proklamation an Polen, in der sie das Selbstbestimmungsrecht Polens anerkannte und Polen die Unterstützung des revolutionären Rußland bei der Aufrichtung eines polnischen Staates verhieß. Die Westmächte, bisher durch die Rücksicht auf das verbündete Rußland gebunden, erklärten jetzt die Aufrichtung eines unabhängigen polnischen Staates, der alle drei Teile Polens umfassen müsse, für eines der Ziele ihres Krieges. Als im Mai die letzte Offensive Brussilows gescheitert war, war aller Zweifel geschwunden; nun war es klar, daß der polnischen Unabhängigkeit von Rußland keine Gefahr mehr drohte; nur die deutschen Teilungs- und Angliederungspläne konnten Polen noch gefährden. Und nur die Entente konnte Polen noch gegen Deutschland schützen. Hatten deutsche Waffen die Herrschaft Rußlands über Polen gebrochen, so konnten nur die Waffen der Entente die Herrschaft der beiden anderen Teilungsmächte über Polen brechen. Pilsudski, der 1914 die Legionen zum Kampfe für die Mittelmächte gegen Rußland aufgeboten hatte, ging nun daran, die Legionen aufzulösen und die konspirative Organisation der POW (Polnische Militäroganisation) gegen Deutschland zu verwenden. Als im Sommer 1917 die Legionen einen Treueid für den Kaiser Wilhelm ablegen sollten, während Wilhelm eine neue Teilung Polens vorbereitete, verweigerten Pilsudskis Anhänger den Eid; sie wurden in Gefangenenlagern interniert, Pilsudski selbst von dem deutschen Kommando verhaftet und in Magdeburg gefangen gehalten. In derselben Zeit aber vereinigte auf russischem Boden der General Dowbor-Musnicki die polnischen Formationen der russischen Armee zu einem polnischen Korps, das gegen die Mittelmächte für die Befreiung Polens kämpfen sollte, und bildete sich in Frankreich eine polnische Legion im Verband der französischen Armee.
Die österreichische Orientierung war tot. Schon im Mai 1917, als das österreichische Abgeordnetenhaus zum erstenmal nach dreijähriger Unterbrechung zusammentrat, zeigte sich in den Beschlüssen des Polenklubs die neue Stimmung. Der Polenklub forderte nun „das unabhängige vereinigte Polen mit dem Zugang zum Meer“ und sprach dem polnischen Problem „internationalen Charakter“ zu. An die Stelle der österreichischen Orientierung war die Ententeorientierung getreten.
Polen erschien für Österreich verloren. Nur als Tauschobjekt glaubte die Habsburgermonarchie Polen noch verwenden zu können. Kriegsmüde, seit der russischen Revolution mehr denn je die Revolution fürchtend, bot Habsburg im Frühjahr 1917 dem Deutschen Reich ganz Polen einschließlich Galiziens unter der Bedingung an, daß sich Deutschland bereit erkläre, Elsaß-Lothringen an Frankreich abzutreten und dadurch die Beendigung des Krieges zu ermöglichen; Österreich-Ungarn hoffte, sich durch Angliederung eines Teiles Rumäniens entschädigen zu können. Deutschland lehnte ab. Michaelis antwortete im August 1917, für Deutschland sei nicht nur die Abtretung Elsaß-Lothringens unmöglich, sondern es müsse darauf bestehen, daß der Friede ihm die wirtschaftliche Angliederung Belgiens und des Erzgebiets von Longwy und Briey, die militärische Angliederung Polens, Kurlands und Litauens bringe.
Wenige Wochen später brach in Rußland die Oktoberrevolution aus. Die völlige Auflösung der russischen Heeresmacht schien die austropolnische Lösung noch einmal beleben zu sollen. Die deutschen Ostheere waren frei geworden. Deutschland hoffte nun, den Durchbruch im Westen erzwingen zu können. Der deutsche Imperialismus glaubte nun, ein großes kontinentales Imperium von der Nordsee bis zum Persischen Golf begründen zu können, innerhalb dessen Kurland, Livland, Estland, Litauen und Polen, Österreich und Ungarn, Bulgarien und die Türkei an Deutschland militärisch, wirtschaftlich und politisch angegliedert werden sollten. „Mitteleuropa“, die enge wirtschaftlich-militärische Verknüpfung der Donaumonarchie mit dem Deutschen Reiche war ein Bestandteil dieses Planes, die Angliederung Polens an die Donaumonarchie der Preis für ihre Eingliederung in das deutsche Imperium.
Aber diesem Plan standen unüberwindliche innere Schwierigkeiten entgegen. Der Kaiser Karl, innerlich längst Deutschland feind, verbot Czernin geradezu, über die militärische Angliederung Österreich-Ungarns an Deutschland zu verhandeln. Und die Verhandlungen über eine Zollunion wurden zu Verhandlungen über einen Handelsvertrag abgeschwächt. Österreich-Ungarn war nicht bereit, den Preis für die austropolnische Lösung zu bezahlen. Es war es um so weniger, da der deutsche Imperialismus die Angliederung an unannehmbare Bedingungen knüpfte:
„Die Deutschen“, erzählt Czernin, „forderten, abgesehen von ganz enormen territorialen Beschneidungen Kongreß-Polens, die Niederhaltung der polnischen Industrie, das Miteigentumsrecht bei den polnischen Eisenbahnen und Staatsdomänen sowie die Überwälzung eines Teiles der Kriegsschuld auf die Polen. Ein so geschwächtes, kaum lebensfähiges Polen, welches naturgemäß äußerst unzufrieden sein mußte, konnten wir nicht an uns anschließen.“
Der ungarische Imperialismus nützte die vom deutschen Imperialismus geschaffene Lage aus. Man solle Polen samt Galizien dem Deutschen Reich überlassen, dafür Rumänien gewinnen, es Ungarn unterwerfen und Österreich für den Verlust Galiziens dadurch entschädigen, daß Ungarn auf seinen Anteil an Bosnien verzichtet und es Österreich übergibt!
In die Zeit dieser Länderschacherphantasien fielen die Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk. Da vertrat Trotzki gegen die Mittelmächte das Selbstbestimmungsrecht Polens. Neben Trotzki aber erschienen die Vertreter der Kiewer ukrainischen Rada. Die Mittelmächte wollten die Rada benützen, um sie gegen Sowjetrußland auszuspielen, um die Ukraine von dem bolschewikischen Rußland zu trennen, um sich der Getreidevorräte der Ukraine als eines riesigen Reservoirs, das die Fortführung des Krieges ermöglichen sollte, zu bemächtigen.
Aber der Macchiavellismus fing sich hier in seinen eigenen Schlingen. Die Teilnahme der Rada an den Verhandlungen wurde zur Köpenickiade. In der Ukraine drangen die Bolschewiki sieghaft vor. Die Truppen der Rada wurden bis zur galizischen Grenze zurückgeworfen. Hinter den jungen Leuten, die in Brest-Litowsk im Namen der Ukraine verhandelten, stand keine Regierung, keine Militärmacht, kein Staat mehr. Aber in Österreich hatte die Ernährungskrise ihren Höhepunkt erreicht; Czernin brauchte um jeden Preis den „Brotfrieden“, der dem hungernden Wien die ukrainischen Getreidemagazine erschließen sollte. In Deutschöstereich hatten sich die Arbeiter, Frieden fordernd, erhoben; Czernin brauchte um jeden Preis ein Friedensdokument. Die Kiewer Delegierten nützten die Bedrängnis der Donaumonarchie aus. „Die Ukrainer verhandeln nicht mehr, sie diktieren!“ schrieb Czernin in sein Tagebuch. Und das in einem Augenblick, in dem die Ukraine der Rada nicht mehr existierte!
Czernin ließ sich bluffen. Und Preußen, immer und überall nur auf die Schwächung Polens bedacht, half den Ukrainern. „Von der Forderung nach dem Cholmer Lande,“ erzählt das Protokoll der österreichisch-ungarischen Friedensdelegation, „die wir auf den Weg der Verhandlungen mit Polen gewiesen wissen wollten, waren die ukrainischen Bevollmächtigten nicht abzubringen, wobei sie offensichtlich die Unterstützung des Generals Hoffmann besaßen. Überhaupt war man von deutscher militärischer Seite den ukrainischen Forderungen sehr geneigt, polnischen Ansprüchen gegenüber jedoch durchaus ablehnend.“ So kam am 8. Februar jener tragikomische Friedensschluß zustande, in dem Österreich-Ungarn den Herren Sewrjuk und Lewicky nicht nur das Gouvernement Cholm abtrat, sondern sich auch ihnen gegenüber zu einer Umgestaltung seiner inneren Ordnung, zur Trennung Ostgaliziens von Kleinpolen und Vereinigung Ostgaliziens mit der Bukowina zu einem Kronland verpflichtete.
Ein Sturm der Entrüstung brauste durch Polen. Nun war es klar, was aus der austropolnischen Lösung geworden war: im Westen Annexionen zugunsten Preußens; im Norden Annexionen zugunsten des Deutschland „anzugliedernden“ Litauen, wo sich ein deutscher Prinz als Mindowe II. etablieren sollte; im Osten Annexionen zugunsten der Ukraine; der Rest ein armseliger Vasallenstaat Deutschlands. Der Polenklub im Wiener Parlament ging in die Opposition über; für die Wiener Regierung gab es keine Möglichkeit mehr, noch eine Parlamentsmehrheit zu bilden. An der Front meuterte das Polnische Hilfskorps, der klägliche Rest der Legionen Pilsudskis. Einem Teil der Meuterer unter dem Kommando des Generals Haller gelang es, über die Grenze zu marschieren, sich in abenteuerlichen Märschen und Kämpfen bis zur Küste durchzuschlagen und nach Frankreich einzuschiffen; dort trat Haller an die Spitze der polnischen Legion, die an der Westfront gegen die Deutschen kämpfte. Ein anderer Teil der Meuterer wurde von österreichisch-ungarischen Truppen gefangengenommen und vor das Kriegsgericht von Marmaros-Szigeth gestellt. Pilsudski in Magdeburg gefangen, seine treuesten Anhänger unter seinen Legionären teils in den deutschen Lagern Benjaminów und Szczypiora interniert, teils in Marmaros-Szigeth vor das österreichisch-ungarische Kriegsgericht gestellt, Haller aber und die Seinen auf französischem Boden gegen die Mittelmächte kämpfend – das war das Ende des Versuchs eines Teiles des polnischen Volkes, im Bunde mit Österreich, durch Österreich die Freiheit Polens zu erobern.
Habsburg hatte die Polen verloren. Es mochte hoffen, die Ukrainer zu gewinnen. Aber auch das war eine Selbsttäuschung.
Als am Anfang des Krieges die russischen Heere in Ostgalizien eindrangen, hat es der ruthenische Bauer nicht verstanden, daß er in dem kleinrussischen Kosaken, der dieselbe Sprache spricht und sich zu derselben Religion bekennt wie er, den Feind, in dem magyarischen Honvedhusaren, die sein Dorf plünderten, seine Beschützer und Befreier sehen sollte. Die Standgerichte der k.u.k. Armee hatten dieses politische Unverständnis der ruthenischen Bauern blutig gestraft. Seitdem grollte es in den Bauernmassen.
Die kleinbürgerliche ukrainische Intelligenz hoffte trotzdem auf Österreich und Deutschland. Ihr Sieg sollte die Ukraine von der Herrschaft Moskaus befreien. Ihre österreichische Orientierung hatte ihren Sinn verloren, als sich nach der russischen Märzrevolution in Kiew die Rada, die Regierung einer autonomen Ukraine, bilden konnte. Sie hatte ihren Sinn wiedergewonnen, als nach der russischen Oktoberrevolution Moskau es unternahm, die autonome Ukraine niederzuwerfen. Der Friede von Brest-Litowsk, der der Ukraine die Anerkennung der Mittelmächte als einem souveränen Staate gab, war dieser österreichischen Orientierung höchster Triumph.
Aber das Bild änderte sich sehr schnell. Deutsche und österreichisch-ungarische Truppen setzten sich in Bewegung, die Ukraine den Bolschewiken zu entreißen. Sie besetzten das Land. Aber sie besetzten es, um den ukrainischen Bauern ihre Getreidevorräte zu rauben, um den Boden, dessen sich die ukrainischen Bauern bemächtigt hatten, den russischen und polnischen Gutsherren zurückzugeben, um gegen die rebellierenden Bauern blutige Henkerarbeit zu verrichten. Sie nahmen Kiew. Aber nicht die kleinbürgerliche Rada, sondern den Hetman Skoropadsky setzten sie hier in die Macht; nicht die patriotisch-revolutionäre ukrainische Intelligenz, sondern die alten zarischen Generale und Gouverneure übernahmen unter dem Schutze deutscher und österreichischer Bajonette die Herrschaft. Was die kleinbürgerliche Intelligenz als ein Werk nationaler Befreiung erhofft hatte, war zu einem Werk der Plünderung, der Konterrevolution, der Fremdherrschaft geworden. Wut bemächtigte sich der Enttäuschten. Habsburg hatte die Polen verloren und dafür nicht einmal die Ukrainer gewonnen.
So war der Ring geschlossen. Habsburg hatte den Krieg gegen die Jugoslawen begonnen, es war durch den Krieg in den heftigsten Gegensatz gegen die Tschechen geraten, es hatte im Verlauf des Krieges die Polen verloren und die Ukrainer nicht gewonnen. Alle slawischen Völker standen nun gegen Habsburg. Alle hofften auf den Sieg der Entente. Österreich-Ungarn führte den Krieg nicht nur gegen äußere Feinde ringsum, sondern auch gegen zwei Drittel seiner eigenen Bürger. Das Schicksal der Habsburgermonarchie war besiegelt.
Zuletzt aktualisiert am 4.8.2008