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Der Kampf, Jg. 5 2. Heft, 1. November 1911, S. 92–93.
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Früher, als wir zu hoffen gewagt, legt uns August Bebel den zweiten Band seiner Lebenserinnerungen vor. [1] Die Internationale wird diese Gabe mit doppelter Freude begrüssen; so wertvoll die Gabe selbst, so wertvoll ist uns die Kunde, die Bebel selber uns im Vorwort gibt: dass er, seiner Krankheit Herr geworden, nun wieder im vollen Besitz seiner alten Kraft ist.
Der erste Teil des stattlichen Bandes führt uns in die Zeit, in der Liebknecht und Bebel an der Spitze erst der Sächsischen Volkspartei, später der „Eisenacher“ im heftigen Kampf gegen den von Lassalle begründeten, nach Lassalles Tode von Schweitzer geführten „Allgemeinen deutschen Arbeiterverein“ standen. Bebel und Liebknecht haben damals gegen Schweitzer die schwersten Beschuldigungen erhoben. Mit ihnen belastet, ist Schweitzer aus der deutschen Arbeiterbewegung ausgeschieden. Viel später erst hat Franz Mehring diese Beschuldigungen nachgeprüft; in seiner Geschichte der Deutschen Sozialdemokratie hat er Schweitzers Bild trefflich gezeichnet, den Mann, der durch einige Jahre an der Spitze der deutschen Arbeiterbewegung stand, von dem dringenden Verdacht schnöden Verrates gereinigt. Spätere Darstellungen, vor allem Gustav Mayers Buch über Schweitzer, haben Mehrings Darstellung bestätigt. [2] Gegen diese Darstellung wendet sich nun Bebel im ersten Teile seiner Schrift. Er glaubt heute noch wie vor vierzig Jahren an Schweitzers Schuld. Der erste Teil des zweiten Bandes seiner Lebenserinnerungen ist eine auf reiches Material gestützte Anklageschrift gegen Schweitzer.
Wer die Streitfrage verstehen will, muss sich erinnern, vor welchen Problemen die deutsche Demokratie in den Jahren 1859 bis 1871 stand. An die Tradition von 1848 anknüpfend, sah sie ihr Ziel in der deutschen Revolution, die den preussischen Militärstaat zertrümmern und alle deutschen Lande – von der Nord- und Ostsee bis zur Adria – in einer deutschen Republik vereinigen sollte. Auch die von Liebknecht und Bebel geführte proletarische Demokratie hielt an diesem Ziele fest. Um die revolutionären Kräfte zu sammeln, blieb sie in engem Bunde mit der kleinbürgerlichen Demokratie; um der kleindeutschen Politik Preussens entgegenzuwirken, verbündete sie sich mit den Partikularisten des Südens, näherte sie sich zuweilen in ihren Sympathien selbst den grossdeutschen Monarchisten Oesterreichs. Wer nicht Preussenfeind, wer nicht Grossdeutscher war, galt ihr als Verräter an der Demokratie und am Deutschtum. Die Hoffnungen der grossdeutsch-republikanischen Demokratie sind jedoch auf dem Schlachtfeld von Königgrätz gefallen, sie wurden vor den Forts von Paris verscharrt. Das Ausscheiden Oesterreichs aus dem Deutschen Bunde und die Aufrichtung des neuen Deutschen Reiches haben für Jahrzehnte eine deutsche Revolution unmöglich gemacht. Die Arbeiterklasse musste sich den neuen Verhältnissen anpassen, ihren Kampf unter neuen Bedingungen führen lernen. Nun galt es, den Kampf um die Demokratie innerhalb des kleindeutschen Reiches zu führen, den Bund mit der kleinbürgerlichen Demokratie, der nunmehr jede Daseinsberechtigung verloren hatte, vollständig zu lösen, die volle Selbständigkeit der Arbeiterklasse nicht nur gegen das Junkertum und den Militärstaat, sondern auch gegen den Bourgeois-Liberalismus und die kleinbürgerliche Demokratie zu wahren. Die Kämpfe, die innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung um 1866 geführt wurden, sind nur als ein Anpassungsprozess an die veränderte historische Situation zu verstehen.
War Schweitzer ein Verräter an der Demokratie? Er war es vielleicht, wenn man unter Demokratie nur die grossdeutsch-republikanische, die antipreussische 1848er Demokratie verstehen will. Er war es nicht, wenn man die Demokratie meint, die nach 1866 und 1870 für Jahrzehnte allein noch lebensfähig war! Freilich, in dem berechtigten Bestreben, die antipreussische Einseitigkeit der älteren Demokratie zu überwinden, hat er sich zweifellos allzu sehr der preussischen Regierung genähert; in dem berechtigten Verlangen, die Arbeiterklasse vom Liberalismus und von der kleinbürgerlichen Demokratie völlig zu trennen, ist er zuweilen in allzu nahe Berührung mit dem Feinde des Feindes, mit dem preussischen Junkertum gekommen. Von dem einen Pol wegstrebend, näherte er sich allzu sehr dem andern. Die Deutsche Sozialdemokratie hat später den rechten Weg zwischen den beiden Polen gefunden. Ihre Politik ist gewiss nicht die Schweitzers, aber auch nicht die Liebknechts vor 1870. Aber dass der schwere Anpassungsprozess an die neue historische Situation die Wortführer der Arbeiterklasse hier dem einen, dort dem andern Extrem zu nahe gebracht hat, die beide vermieden werden mussten, berechtigt uns heute nicht mehr, die einen oder die anderen des Verrates zu beschuldigen.
Freilich, Bebel meint, Schweitzer habe sich nicht oder nicht bloss aus politischer Ueber-zeugung, sondern um klingenden Sold Bismarck genähert. Aber dass Schweitzer stets in Geldnöten, dass er ein Bohemien war, genügt doch nicht, diese Beschuldigung zu erweisen. Dass Wagoner und Bismarck begriffen haben mögen, dass Schweitzers Politik für sie vorteilhaft war, und Schweitzer darum etwas anders behandelt, ihm zum Beispiel in der Gefängnishaft manche Begünstigung zugewendet haben mögen, ist ja nicht unwahrscheinlich; aber damit ist noch nicht bewiesen, dass Schweitzer seine Politik aus anderem Grunde als aus eigener Ueberzeugung getrieben habe. Schweitzer hat in den letzten Jahren seiner politischen Tätigkeit die Arbeiterklasse geschädigt, indem er sich an die Diktatur im Arbeiterverein klammerte; aber was man darüber hinaus gegen ihn sagt, ist unbewiesen. Auch Bebels Buch wird das Bild Schweitzers, das wir Mehring verdanken, kaum verdunkeln.
Ganz anderen Charakter trägt der zweite Teil des Buches. So sehr der erste Teil zum Widerspruch herausfordert, mit so dankbarer Freude wird man den zweiten Teil lesen. Er gibt uns eine schlicht und schmucklos, aber lebendig geschriebene Geschichte der deutschen Sozialdemokratie. Freilich, ein ganz sonderbares Gebrechen haben diese Lebenserinnerungen: Bebel erzählt uns viel zu wenig von sich selbst! Wir haben natürlich nicht erwartet, dass August Bebel uns – etwa gar nach dem Muster gewisser Memoiren gewisser Auch-Sozialisten – von den kleinen Schmerzen und Freuden des Lebens erzählen werde, die nur den angehen, der sie erlebt. Aber Bebel erzählt uns zu wenig auch von den persönlichen Erlebnissen, die weit hinausgewirkt haben in die Geschichte unseres Volkes! Wir wollen nur ein Beispiel nennen. Jeder Kulturhistoriker kommender Zeiten wird Bebels Buche von der Frau, seiner Wirkung auf die Arbeiterklasse und weit über sie hinaus ein stattliches Kapitel widmen müssen. Aber wie wenig erzählt uns Bebel davon, wie dieses Buch in ihm gereift ist! Und doch wird kein Leser, der die Grösse dieses Lebens fühlt, Bebel ob dieser Schweigsamkeit wirklich zürnen können. Denn wenn Oncken (in seiner verständnislosen Anzeige des ersten Bandes in Meineckes Historischer Zeitschrift) dieses Schweigen vom Persönlichen für ein Zeugnis einer armen Persönlichkeit nimmt, so erscheint es uns gerade als das schönste Zeugnis des Reichtums dieser Persönlichkeit, dass ihr Werden und Leben so völlig mit dem der Masse verwebt und verknüpft ist, dass Bebel, wenn er die Geschichte seines Lebens erzählen will, ganz unversehens die Geschichte der deutschen Arbeiterklasse schreibt.
1. August Bebel, Aus meinem Leben. Zweiter Band. Stuttgart, Dietz 1911.
2. Vergleiche auch Mehrings jüngste, sehr lesenswerte Darstellung der Anfänge der deutschen Arbeiterbewegung in Grünbergs Archiv für die Geschichte des Sozialismus.
Leztztes Update: 6. April 2024