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Die gewaltige Entfaltung der Produktivkräfte ist die große Ruhmestat des Kapitalismus. Mit einer Riesenrüstung aus Stahl und Eisen hat er die Menschheit gewappnet, die Naturkräfte seiner Herrschaft unterworfen. In seinem Dienste dringt der Bergmann in die gefahrvolle Tiefe; auf sein Geheiß erheben sich Tausende Schlote zum Himmel; ihm zu Ehren lohen die Flammen in den Hochöfen; auf sein Gebot bewegen sich zahllose Maschinen, Wunderwerke der Technik, wie sie in vergangenen Jahrhunderten der Menschen kühnste Phantasie nicht zu träumen gewagt; ihm zu dienen dringen Eisenbahnzüge durch die Bergesmassen, durchqueren Riesenschiffe den Ozean. Die Arbeit bringt der Menschheit vielfachen Ertrag, da hinter jedem arbeitenden Menschen die Arbeitskraft der Maschine steht, ein Arbeiter aus Eisen, den Kohle und Ol ernähren.
Mit furchtbaren Opfern hat die Menschheit den technischen Fortschritt erkauft. Jede neue Maschine hat menschliche Arbeit ersetzt, den Arbeiter aus dem Betrieb hinausgedrängt, ihn mit Weib und Kind dem Elend preisgegeben. Gelernte Arbeit wurde durch angelernte und ungelernte ersetzt. Frauen und Kinder wurden aus der Stille des Hauses hinausgezerrt und in die Arbeitsstätten getrieben. Das städtische Handwerk, die ländliche Hausindustrie wurden unbarmherzig zugrunde gerichtet. Aber auch über die Kapitalisten selbst herrschten mitleidlos die blinden Gesetze der Konkurrenz. Das kleinere, kapitalsärmere, technisch rückständige Unternehmen erliegt dem größeren, reicheren, mit allen Errungenschaften neuzeitlicher Technik ausgestatteten. Triefend vom Schweiß und vom Blut der Millionen, die seinem Walten erlegen, grausam und unerbittlich über die Leichen seiner Opfer schreitend, bahnt sich der Kapitalismus seinen Weg.
Die furchtbarste Waffe, deren sich der Kapitalismus bedient, sind niedere Preise. Die ungeheure Entwicklung der Produktivkräfte senkt die Erzeugungskosten der Waren. Mit den Erzeugungskosten sinken die Preise. Jeder technische Fortschritt hat zur Ermäßigung der Warenpreise geführt. Jeder Preissturz hat alle Betriebe zugrunde gerichtet, die sich der verbesserten Arbeitsmittel nicht zu bedienen, die die Herstellungskosten der Ware nicht zu verringern vermochten. Die Spinnmaschine macht es dem Kapitalisten möglich, das Garn billiger zu erzeugen, billiger zu verkaufen; die alte ländliche Hausspinnerei kann bei den niederen Preisen nicht bestehen, sie verschwindet in wenigen Jahrzehnten. Niedere Erzeugungskosten, niedere Preise – dieser mörderischen Waffe erliegen das Handwerk, die Hausindustrie, der industrielle Kleinbetrieb. Die billigere Arbeit verdrängt die teuere. »Die wohlfeilen Preise ihrer Waren sind die schwere Artillerie, mit der die Bourgeoisie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt.« [1] Ein ganzes Jahrhundert lang war das fortwährende Sinken aller Warenpreise das wirksamste Mittel, durch das der technische Fortschritt, die fortschreitende Verringerung der Erzeugungskosten erzwungen wurde. Die Preisrevolution war die Wirkung und die treibende Kraft der technischen Umwälzung.
Heute aber klagen alle Klassen der Bevölkerung über die Teuerung, über die allzu hohen Preise. Trotz der beispiellosen Entwicklung der Produktivkräfte, obwohl ein Heer kunstvoller Maschinen der arbeitenden Menschheit dient und den Ertrag ihrer Arbeit hundertfach vermehrt, obwohl immer neue Umwälzungen in der Industrie die Erzeugungskosten der Waren senken, steigen unablässig die Warenpreise. Wie ist dies zu erklären?
Wollen wir diese überraschende Erscheinung verstehen, müssen wir uns zunächst erinnern, daß die technische Umwälzung nicht alle Arbeitszweige gleichmäßig ergriffen hat. Von allen Produktionszweigen sind die Landwirtschaft und die Viehzucht die wichtigsten. Sie geben uns, was wir zu unserer Ernährung brauchen: Brot, Gemüse, Fleisch, Milch. Sie liefern unserer Industrie die wichtigsten Rohstoffe; Flachs, Baumwolle, Wolle, Häute. Gerade diese wichtigsten Zweige der gesellschaftlichen Arbeit hat aber die technische Umwälzung weniger als die anderen umgestaltet. Viel langsamer als in der Industrie, im Bergbau, im Verkehrswesen geht in der Landwirtschaft und in der Viehzucht der technische Fortschritt vor sich.
Grund und Boden waren ursprünglich überall Gemeineigentum, Volkseigentum. Kein einzelner konnte ihn sein eigen nennen; alle Freien hatten auf seine Nutzung gleichen Anspruch. Noch ragen als Zeugen einer längst vergangenen Zeit die Überreste des alten Gemeinbesitzes in unser Zeitalter herein: die Allmenden, die teils den Gemeinden und Ortschaften, teils Genossenschaften (Nachbarschaften, Interessengemeinschaften) gehören, bedecken in Österreich noch mehr als ein Drittel der Gesamtfläche der Hutweiden, Almen und Wälder. In anderen Landesteilen haben freilich die Landesherren und die Grundherren die Bauern ihres uralten Gemeinbesitzes beraubt; hier blieben den Bauern nur Dienstbarkeiten, Nutzungsrechte an dem herrschaftlichen Boden. Sowohl die Reste des alten Gemeinbesitzes als auch die Nutzungsrechte am herrschaftlichen Boden haben die größte Bedeutung für die bäuerliche Viehzucht. Wo der Gemeinbesitz besteht, weidet das Vieh auf der Allmende. Wo die Weide zum Eigentum des Grundherrn geworden ist, steht den Bauern das Recht zu, ihr Vieh auf das Land des Herrn zur Weide zu treiben. Aber die Grundherren haben in jahrhundertelangem Kampfe die Nutzungsrechte der Bauern beschränkt, ihre Forste und Jagdgebiete auf Kosten des Almenbodens ausgedehnt: Der Hirsch vertreibt die Kuh. Die Viehzucht geht zugrunde, wo den Bauern die alten Nutzungsrechte geraubt werden. Nach der Revolution, als die Windischgrätz und Schwarzenberg Österreich beherrschten, wurde der Kampf um die Nutzungsrechte, der seit Jahrhunderten zwischen Grundherren und Bauern geführt wurde, durch ein Gesetz entschieden. Aber das kaiserliche Patent vom 5. Juli 1853 war nur um die Interessen des adeligen und kirchlichen Großgrundbesitzes besorgt. Wo die Dienstbarkeiten abgelöst wurden, haben die Bauern einen Bettel als Entschädigung bekommen; wo sie bestehen blieben und nur reguliert wurden, wurden sie zum Nachteil der Bauern eingeschränkt. Um die Reste des Gemeinbesitzes aber kümmerte sich die Gesetzgebung nicht; die Nutzungsrechte an ihm blieben nach Umfang und Inhalt bestritten, seine Bewirtschaftung war schlecht, die Zerstörung des Gemeinbesitzes, seine Aufteilung unter die Nutzungsberechtigten wurde nicht verhindert. So wurde der bäuerlichen Viehzucht ihre Grundlage entzogen: Der Bauer kann zu wenig Vieh halten, weil die Grundherren ihm zuerst die Weide selbst, dann auch die Nutzungsrechte an ihr geraubt haben und weil die unzulänglichen Reste des alten Gemeinbesitzes veröden und verfallen. Während die städtische Bevölkerung unter dem Mangel an Fleisch und Milch leidet, haben auf dem Lande die Grundherren die bäuerliche Viehzucht zugrunde gerichtet, die Weide in Forst und Jagdgebiet verwandelt. Jetzt ziehen die Grundherren aus der Ausfuhr von Holz in das Ausland reichen Gewinn – uns aber fehlt es an Fleisch. Die adeligen Herren amüsieren sich auf der Jagd – unseren Kindern fehlt es an Milch.
Aber auch auf das Ackerland greift die Selbstsucht der Grundherren. Noch trägt das Jagdrecht die Kennzeichen seines feudalen Ursprungs. Die Ernte des Bauern wird die Beute des herrschaftlichen Wildes. In der Hureinteilung spiegelt sich noch die Geschichte der ursprünglichen Aufteilung des alten Gemeinbesitzes. In Österreich (ohne Galizien) gibt es mehr als 17.000 Gemeinden, in denen die Gemenglage vorherrscht, die Zersplitterung des Bodens in eine Unzahl winziger Parzellen, die jede planmäßige Bewirtschaftung unmöglich macht. Das Gesetz vom Jahre 1883, das die Zusammenlegung (Kommassierung) dieser Parzellen ermöglichen sollte, so daß jeder Bauernhof für eine Anzahl kleiner, entlegener Parzellen ein einziges, wohl abgerundetes Stück Landes eintauschen sollte, blieb wirkungslos. Bis zum Ende des Jahres 1908 wurden bloß 46 Zusammenlegungen durchgeführt, bloß 152 wurden nur eingeleitet. Und doch ist längst erwiesen, daß die Aufhebung des alten Streubesitzes eine dauernde bedeutende Steigerung des Bodenertrages herbeiführt.
Unter diesen Mißständen leiden nicht nur die Bauern. Die Rückständigkeit unserer Landwirtschaft ist eine ernste Gefahr für unsere Volksernährung. Insbesondere unsere Versorgung mit Fleisch und Milch wird dadurch erschwert und verteuert, daß der Raub der alten Nutzungsrechte, die Aufforstung der Almen, die Verwandlung des Weidelandes in Jagdgebiet und die ungeordnete, unrationelle Bewirtschaftung der Reste des alten Gemeinbesitzes die Entwich-lung der bäuerlichen Viehzucht hemmen. In der Tat ist die Entwicklung unseres Viehbestandes ganz unzureichend:
Jahr |
Anzahl der |
Zivilbevölkerung |
Auf hundert Einwohner |
1857 |
8.013.368 |
18.224.500 |
44,0 |
1869 |
7.425.212 |
20.217.531 |
35,7 |
1880 |
8.584.077 |
21.981.821 |
39,0 |
1890 |
8.643.936 |
23.707.906 |
36,5 |
1900 |
9.511.170 |
25.921.671 |
36,7 |
Bis zum Jahre 1890 ist unser Reichtum an Vieh viel zu langsam angewachsen. Seit dem Jahre 1890 können wir allerdings ein etwas schnelleres Wachstum beobachten. Aber auch dieses Wachstum war ungenügend; gerade in die letzten Jahrzehnte fällt ja einerseits eine schnellere Verschiebung unserer Bevölkerung vom Lände in die Stadt, von der Landwirtschaft zur Industrie, womit stets schnelles Steigen der Nachfrage nach Fleisch, Milch, Butter Hand in Hand geht, anderseits die Hebung der wirtschaftlichen Lage der Arbeiterklasse durch viele erfolgreiche Lohnkämpfe, wodurch gleichfalls die Nachfrage nach Fleisch und Milch erhöht wurde. Diesen veränderten wirtschaftlichen Verhältnissen hat sich unsere Viehzucht und Milchwirtschaft noch nicht angepaßt.
So steigt auf unseren Märkten das Angebot an Fleisch, Milch, Käse und Butter langsamer als der Bedarf. Die Rückständigkeit unserer Landwirtschaft, insbesondere aber unserer Viehzucht ist eine der wichtigsten Ursachen der Teuerung. Wohl hat die Gesetzgebung in den letzten Jahren durch einige nützliche Gesetze die alten Hindernisse zu beseitigen versucht, die die Entwicklung unserer Landwirtschaft und unserer Viehzucht hemmen. Seit dem Jahre 1902 haben die Landtage eine Reihe nützlicher Gesetze über die Regulierung der landwirtschaftlichen Dienstbarkeiten, sowie über die Bewirtschaftung des Gemeinbesitzes, über den Schutz der Almen und die Förderung der Almwirtschaft, über die Zusammenlegungen, über das Forst- und Jagdrecht beschlossen. [2]
Aber diese Gesetzgebung hält sich innerhalb allzu enger Schranken. Sie kann wohl in der Zukunft mancher Schädigung unserer Landwirtschaft und Viehzucht Vorbeugen; aber die Achtung vor den erworbenen Rechten, vor dem Eigentum der Grundherren, hindert die Landtage, den alten Prozeß zwischen den Grundherren und den Bauern wiederaufzunehmen, das Urteil zu revidieren, dem Volke den Boden und die Nutzungsrechte wiederzugeben, die ihm die Grundherren in jahrhundertelangen Kämpfen geraubt haben. Da sich die Reformtätigkeit der Landtage innerhalb der Grenzen des bestehenden Eigentumsrechtes bewegt, kann sie ihre Aufgabe nur unvollkommen erfüllen. Sie kann bestenfalls künftigen Raub verhüten; aber sie kann der Volkswirtschaft nicht wiedergeben, was ihr bereits geraubt worden ist. Die Entwicklung unserer Landwirtschaft und Viehzucht von den Schranken zu befreien, die ihr die Selbstsucht der großen Grundherren gesetzt hat, und dadurch erst die Bedingungen zureichender Versorgung mit den wichtigsten Lebensmitteln zu schaffen, das vermag nur, wer es wagt, die Eigentumsverhältnisse an Grund und Boden zu revidieren. Wenn irgendwo, so ist sicherlich hier das Sondereigentum eine Schranke unserer Versorgung mit Lebensrnitteln. [3]
Die moderne Wissenschaft gibt uns eine Fülle von Mitteln, den Bodenertrag zu steigern. Sie lehrt uns, welche Nährstoffe die Pflanze dem Boden entzieht; wir wissen daher, welche Nährstoffe wir dem Boden wieder zuführen müssen, damit er auch in späteren Zeiten reiche Frucht trage. Die Kunst des Düngens ist zur Wissenschaft geworden. An die Stelle der alten Dreifelderwirtschaft tritt die auf Lehren der Agrikulturchemie gestützte planmäßige Fruchtfolge. Die Wissenschaft lehrt uns die planmäßige Züchtung des Saatkorns und der Viehrassen, die richtige Fütterung des Viehs je nach dem Zwek-ke, dem es bestimmt ist. Die Wissenschaft stellt auch der Landwirtschaft kunstvolle Maschinen, verbesserte Geräte bereit. Sie stellt die Tierhygiene und die Tiermedizin in den Dienst der Viehzucht.
Aber der bäuerliche Kleinbetrieb ist nicht imstande, diese Errungenschaften der modernen Wissenschaft zu nutzen. Das Sondereigentum an Grund und Boden und die Unwissenheit und Armut der Bodenbebauer hemmen den technischen Fortschritt. Die Bauern sind zu unwissend, als daß sie ihre Wirtschaft den Lehren der Wissenschaft anpassen könnten. Es fehlt ihnen das Kapital zur Verbesserung ihres Betriebes; der kleine Umfang ihres Betriebes macht es ihnen unmöglich, Arbeit ersparende Maschinen zu verwenden. Wir haben eine Bodenverteilung, die dem technischen Fortschritt die größten Hindernisse entgegenstellt: Ungeheurem Latifundienbesitz steht eine furchtbare Zersplitterung in leistungsunfähige Zwergbetriebe gegenüber. So bleiben die großen Errungenschaften der modernen Wissenschaft ungenützt.
Gewiß kann auch innerhalb der heutigen Gesellschaftsordnung sehr viel zur Verbesserung der landwirtschaftlichen Betriebsweise geschehen. Das wichtigste Mittel dazu ist die Verbesserung des Schulwesens und die Ausgestaltung des landwirtschaftlichen Fortbildungswesens – die Unwissenheit der Bauern ist das größte Hindernis des technischen Fortschritts in der Landwirtschaft. Auch die Entwicklung der landwirtschaftlichen Genossenschaften, die den Landwirten durch billigen Kredit die Verbesserung ihrer Betriebsweise ermöglichen, ihnen Maschinen (zum Beispiel Dreschmaschinen) zur Verfügung stellen und ihre Waren rationell verarbeiten (Molkereien), fördert die landwirtschaftliche Technik. Auch der Staat und die Länder können hier fördernd eingreifen. Die Durchführung großer Meliorationen (Bewässerungsanlagen, Schutz gegen Wassergefahr, Versandungsgefahr und so weiter, Förderung der Rinderrassenzucht, Bekämpfung der Tierseuchen, die Förderung des Versicherungswesens sind wirksame Mittel dazu. Die sozialdemokratischen Abgeordneten haben für das Meliorationsgesetz und die Erhöhung des Meliorationsfonds (Juli 1908), für das Tierseuchengesetz (März 1909), für das Gesetz über die Förderung der Viehzucht und Viehverwertung (Dezember 1909) gestimmt, weil sie erkannten, daß die Steigerung der Fruchtbarkeit unseres Ackerbodens und der Vermehrung unseres Viehstandes wichtige Mittel sind, unsere Versorgung mit billigeren Lebensrnitteln zu fördern.
Manche wichtige Aufgaben haben auf diesem Gebiet die Gemeinden zu erfüllen; leider haben sie bisher diese Pflicht offenbar nicht erkannt.
Die Gemeinde Wien hat zwar schon im Jahre 1897 die Errichtung einer kommunalen Großschlächterei im Prinzip beschlossen, der Beschluß wurde aber nicht durchgeführt. Die Aktiengroßschlächterei aber, an der die Gemeinde beteiligt ist, hat sich nicht bewährt. Sie müßte selbst Vieh mästen, um das Angebot zu vermehren. Statt dessen wendet sie sich bei dem Ankauf von Vieh an dieselben Vieh-mäster, die schon seit Jahren den Wiener Heischhauern Vieh verkaufen, und ermutigt sie dadurch nur, höhere Preise zu fordern. Ebenso unzulänglich ist die Tätigkeit der städtischen Übernahmsstelle für Vieh und Fleisch in Wien. Sie gewährt zwar Vorschüsse, wenn sie als Kommissionär Vieh zum Verkauf auf dem Wiener Markte übernimmt. Das genügt aber nicht, das Angebot zu steigern. Die Übernahmsstelle müßte in einem früheren Stadium eingreifen: Sie müßte den Landwirten Vorschüsse gewähren, damit sie Vieh zur Mast einstellen können und dieses Vieh dann auf den Wiener Markt schicken. Da sie dies nicht tut, kann sie weder den Viehkom-missionären wirksame Konkurrenz bereiten, noch den Viehauftrieb auf dem Wiener Markte steigern. [4]
Das erste und wichtigste Bedürfnis der Gesellschaft ist die Versorgung ihrer Mitglieder mit Lebensmitteln. Aber die kapitalistische Gesellschaft überläßt gerade diese Aufgabe armen Menschen, denen das Wissen und die Mittel fehlen, die Errungenschaften der Wissenschaft zu nutzen, die Ergiebigkeit des Bodens und der Arbeit zu steigern. Die Hilfe, die der Staat, die Länder, die Gemeinden, die Genossenschaften gewähren, ist unzureichend; sie ändert an den Grundgebrechen unserer Landwirtschaft nichts. Darum sind unsere Landwirtschaft und unsere Viehzucht nicht imstande, uns mit billigen Lebensmitteln zu versorgen.
ln der Industrie wird der Kleinbetrieb von dem technisch und wirtschaftlich überlegenen Großbetrieb zugrunde gerichtet. Tausende verlieren in diesem furchtbaren Kampfe ihre wirtschaftliche Selbständigkeit, ihre Lebensfreude und Lebenshoffnung. Aber das Ergebnis dieses Kampfes sind der technische Fortschritt, die Entfaltung der Produktivkräfte, die Verminderung der Erzeugungskosten, das Sinken der Preise. [5]
In der Landwirtschaft geht diese Entwicklung nicht in demselben Maße vor sich. Der Kleinbetrieb behauptet sich im Kampfe ums Dasein. Dafür stockt hier der technische Fortschritt. Die Lebensmittelerzeugung vermag den Bedarf nicht zu befriedigen. Die Preise steigen. Der Kapitalismus kennt eben nur eine Methode zur Steigerung der Ergiebigkeit der Arbeit: den Sieg der technisch überlegenen Betriebe, der mit dem Ruin Hunderttausender selbständiger Existenzen erkauft wird. Da er diesen Weg wohl in der Industrie, aber nicht in der Landwirtschaft geht, bleibt hier die Produktion auf einer Entwicklungsstufe stehen, die gegenüber den Möglichkeiten, die die moderne Wissenschaft erschlossen hat, bereits lächerlich rückständig scheint. Darum können unsere Landwirte Getreide, Gemüse, Vieh, Fleisch und Milch nur mit sehr hohen Produktionskosten erzeugen, während die Erzeugungskosten in der Industrie stetig und schnell gesunken sind. Der letzte Grund der Lebensmittelteuerung ist die rückständige Technik der heimischen Landwirtschaft, die das Privateigentum an Grund und Boden verewigt. [6]
So ist das Sondereigentum an Grund und Boden das größte Hindernis unserer Versorgung mit Lebensmitteln; es ist die Fessel, die die Entfaltung der Produktivkräfte in der Landwirtschaft hemmt. Wir müssen für Getreide und Gemüse, Brot und Mehl, Fleisch und Milch teuer zahlen, weil wir die Bewirtschaftung unseres Bodens armen und unwissenden Menschen überlassen, weil wir die Aufgabe unserer Versorgung mit Lebensmitteln vielen Tausenden armseliger Zwergbetriebe anvertrauen, die die Errungenschaften der Wissenschaft nicht zu nutzen vermögen; weil wir schließlich ein Drittel unseres Bodens ein paar Hundert Familien überlassen, die den heimischen Boden, unser aller Erbe, das uns alle ernähren soll, zur Stätte ihrer Vergnügungen, zur Quelle ihrer Gewinne erniedrigen. [7] Will die Gesellschaft ihre Mitglieder ernähren, dann kann sie unsere Versorgung mit Lebensmitteln nicht armen Bauern und hochmütigen Großgrundbesitzern überlassen. Sie muß den Boden, den die Grundherrenklasse dem Volke vorenthält, dem Volke wiedergeben; sie muß die Bodenbebauer zur Verwertung der Errungenschaften der Wissenschaft erziehen und verhalten; sie muß ihnen die Mittel zur Entfesselung der brachliegenden Bodenkräfte geben und sie muß sie zu planmäßiger gesellschaftlicher Arbeit vereinigen. Unsere Versorgung mit Lebensmitteln von der Einsicht, der wirtschaftlichen Kraft, der Profitgier der einzelnen unabhängig zu machen, sie der organisierten Gesellschaft selbst zur wichtigsten ihrer Aufgaben zu setzen, die Entfaltung der zeugenden Kräfte des Bodens und der Arbeit von den Schranken der Armut, der Unwissenheit, der Selbstsucht zu befreien, das ist das letzte Ziel des Sozialismus.
1. Marx-Engels, Das kommunistische Manifest.
2. Vergleiche Walter Schiff, Die agrarpolitische Gesetzgebung der Landtage 1902 bis 1905, in Zeitschrift für Volk-Wirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung, XVIII. Band, 5. Heft. – Über die ganze wichtige Materie siehe Schiff, Österreichs Agrarpolitik seit der Grundentlastung, Tübingen 1898. Das Wichtigste findet der Leser in der Broschüre Gegen die Hungerpolitik! die im Verlage der Wiener Volksbuchhandlung erschienen ist.
3. Im Abgeordnetenhaus hat der Sozialdemokratische Verband bei der Beratung der Anträge Schrammel-Renner (November 1907) nachdrücklich auf diese Tatsachen hingewiesen. Diese Anträge enthielten unter anderem auch die Forderung nach Reichsgesetzen über die Zusammenlegungen, die Regulierung des Gemeinbesitzes und der Dienstbarkeiten und über den Almenschutz. Den Wortlaut dieser Anträge findet der Leser in der bereits genannten Broschüre Gegen die Hungerpolitik! und in dem Bericht über Die Tätigkeit des Sozialdemokratischen Verbandes im Abgeordnetenhaus, XVIII. Session, Wien 1909, Seite 22 f.
4. Hartmann, Die Tätigkeit der Gemeinde Wien auf dem Gebiet der Approvisionierung, in: Zeitschrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung, XVIII. Band, 5. Heft.
5. Allerdings setzt auch in der Industrie das Sondereigentum an den Arbeitsmitteln dem technischen Fortschritt eine Grenze. Aber diese Grenze liegt dort viel weiter als in der Landwirtschaft. Vergleiche Otto Bauer, Die Nationalitätenfrage und die Somaidemokratie, in: Marx-Studien, II., Seite 95 ff.; Sonderausgabe, Seite 82 ff. Über die Schranken der technischen Entwicklung der Landwirtschaft unter der Herrschaft des Kapitalismus vergleiche Marx, Das Kapital, II., Seite 217; III., 1, Seite 98; III., 2, Seite 156 f., 347.
6. Es ist im Rahmen dieser Broschüre nicht möglich, zu zeigen, warum der Kleinbetrieb in der Landwirtschaft trotz seiner technischen Rückständigkeit bestehen bleibt. Das Geheimnis findet seine Lösung auf dem Markte. Bodenfrüchte unterliegen einem ganz anderen Preisgesetz als Industrieprodukte, deren Erzeugung beliebig ausgedehnt werden kann. Die technische Überlegenheit gibt dem Großbetrieb nicht die Möglichkeit, den Kleinbetrieb niederzukonkurrieren, da er seine Produktion nicht über die durch das Grundeigentum gezogene Grenze ausdehnen kann. Sie sichert jenem nur einen Extraprofit: Die technische Überlegenheit des Großbetriebes wirkt hier ähnlich wie die bessere Qualität des Bodens.
7. Nach der landwirtschaftlichen Betriebszählung vom Jahre 1902 entfallen von einer Gesamtfläche von dreißig Millionen Hektar Landes 9,8 Millionen Hektar auf 17.889 Großbetriebe, von denen jeder mehr als hundert Hektar bewirtschaftet.
Leztztes Update: 18. Februar 2023