Otto Bauer

Das Eingreifen des Staates in die Preisbestimmung

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Die Teuerung in Österreich


Österreich gehört heute zu den Ländern mit den höchsten Preisen. Sind die Warenpreise in allen Ländern gestiegen, so stiegen sie bei uns doch noch viel schneller als in den anderen Staaten. Das österreichische Preisniveau steht hoch über dem Preisniveau anderer Wirtschaftsgebiete. Wir haben geringere Löhne aber höhere Preise als die Staaten West- und Mitteleuropas.

Ist das Sondereigentum an Grund und Boden überall ein Hemmnis des technischen Fortschrittes in der Landwirtschaft, so ist diese Erscheinung in Österreich noch deutlicher fühlbar als in anderen Ländern. Wir können unser Wirtschaftsgebiet in drei Hauptgebiete zerlegen: Die Sudetenländer (Böhmen, Mähren und Schlesien) und Niederösterreich sind unser wichtigstes Industriegebiet; ihm stehen zwei Agrargebiete gegenüber: einerseits die Alpen- und Karstländer, anderseits Ostösterreich (Galizien und die Bukowina). Nun sind die Alpenländer, obwohl sie überwiegend agrarischen Charakter tragen, keineswegs imstande, ihren Getreidebedarf selbst zu decken; nicht das Getreide ist ihr wichtigstes Erzeugnis, sondern Vieh, Milch, Butter, Holz, Mais, Wein. Aber die alpenländische Viehzucht und Forstwirtschaft sind technisch so rückständig, daß wir auch an diesen Erzeugnissen des alpenländischen Agrargebietes Mangel leiden. Die Deckung des Getreidebedarfes unserer Industriegebiete wäre also zunächst die Aufgabe der ostösterreichischen Landwirtschaft. Aber die Überschüsse der galizischen Getreideerzeugung über den Eigenbedarf des Landes sind selbst bei guten Ernten sehr klein; bei schlechten Ernten muß Galizien, ein rein agrarisches Land, selbst Getreide einführen. Hat doch im Frühjahr 1909 selbst der Polenklub die Aufhebung der Getreidezölle fordern müssen, weil Galizien die Einfuhr großer Mengen ausländischen Getreides zur Ernährung seiner Bevölkerung brauchte. So rächt sich die Mißwirtschaft der polnischen Schlachta und die furchtbare Armut und Unwissenheit der galizischen Bauern. [21] Da also weder die Alpenländer noch die östlichen Reichsländer den Lebensmittelbedarf unserer Städte und Industriegebiete decken können, müssen wir Lebensmittel aus anderen Staaten einführen. Obwohl noch die Hälfte unserer Bevölkerung der Land- und Forstwirtschaft zugehört, müssen wir einen größeren Teil unseres Lebensmittelbedarfes durch die Zufuhr aus anderen Staaten decken als das Deutsche Reich, von dessen Bevölkerung doch nur 28,6 Prozent der Land- und Forstwirtschaft zugehören. [22]. Nun decken wir diesen Bedarf zunächst durch die Einfuhr aus Ungarn. Aber die ungarische Landwirtschaft leidet an ähnlichen Gebrechen wie die galizische. Je mehr unsere Bevölkerung wächst, desto weniger kann Ungarn unseren Bedarf an Lebensmitteln befriedigen, desto mehr Lebensimittel müssen also aus anderen Staaten eingeführt werden. Diese Einfuhr wird schon durch das Steigen der Lebensmittelpreise auf dem Weltmarkt verteuert. Sie wird durch die Getreidezölle und durch die Vieheinfuhrverbote teils noch weiter verteuert, teils geradezu verhindert. Auf diese Tatsachen ist die Lebensmittelteuerung in Österreich zurückzuführen.

Die Lebensmittelteuerung in Österreich hat also folgende Ursachen: 1. die technische Unzulänglichkeit der österreichischen und ungarischen Landwirtschaft und Viehzucht; 2. die Tatsache, daß gerade in dem Zeitpunkt, in dem wir stetig steigende Mengen von Lebensrnitteln aus dem Ausland einführen müssen, die Preise dieser Lebensrnittel auf dem Weltmarkt steigen; 3. die Tatsache, daß die Preise der Lebensrnittel im Inland durch die Zölle und Einfuhrverbote hoch über die ohnehin hohen Weltmarktpreise hinaufgetrieben werden. Die zweite dieser Ursachen entzieht sich völlig dem Einflüsse der österreichischen Gesetzgebung. Die technische Unzulänglichkeit der Landwirtschaft kann nur allmählich behoben werden. Die Zölle und Einfuhrverbote aber beruhen nur auf der Gesetzgebung; hier ist also der Hebel, an dem angesetzt werden muß, wenn durch Maßnahmen der Gesetzgebung die Lebensmittelpreise ermäßigt werden sollen.

Aber nicht nur die Erzeugnisse der Landwirtschaft und der Viehzucht, auch die Industrieprodukte sind in Österreich außerordentlich teuer. Die hohen Preise der Industrieprodukte sind auf die überaus hohen Erzeugungs- und Transportkosten zurückzuführen. Unser Wirtschaftsgebiet ist arm an industriellen Rohstoffen; und die Reichtümer, die es einschließt – Wasserkräfte, Erdöl, Holz – werden nicht ausgenützt. Unsere Industrie liegt weit vom Meere; sie entbehrt des Vorteils der billigen Wasserfracht; die Kosten des Landtransports sind desto höher, da das Hochgebirge, das unsere Industriegebiete vom Meer trennt, die Kosten des Bahnbaues erhöht. Eine Wiener Fabrik konnte eine Zeitlang ihre Waren billiger über Hamburg nach Argentinien schaffen als nach Czernowitz. So ist sowohl die Zufuhr von Rohstoffen in unsere Fabriken als auch der Transport der Industrieprodukte von den Fabriken zu den Verbrauchern teurer als in andere Ländern. [23] Die hohen Erzeugungskosten verteuern unsere Industrieprodukte.

Zu den Mängeln der natürlichen Beschaffenheit unseres Wirtschaftsgebietes gesellen sich die Sünden der Gesetzgebung. Durch die Kartellschutzzölle wurden die Arbeitsmittel unserer Industrie verteuert. Die Regierung der Gegenrevolution hat die Staatseisenbahnen um ein Spottgeld an mächtige Kapitalistengruppen verkauft; sie mußten ein halbes Jahrhundert später teuer zurückgekauft werden. [24] Der Bau der notwendigen Wasserstraßen wird auf Wunsch der Agrarier verschleppt.

Die hohen Erzeugungskosten unserer Industrie haben aber noch eine andere Ursache. Unser Wirtschaftsgebiet ist klein, seine Bevölkerung arm, ihre Kaufkraft für Industrieprodukte durch die hohen Lebensmittelpreise verringert. Bleibt unsere Industrie auf den inneren Markt angewiesen, dann sind ihrer Ausdehnung enge Grenzen gesetzt. Unsere Fabriken sind klein; je kleiner der Betrieb, desto höher die Erzeugungskosten. Die Zahl der Betriebe in jedem Zweige der Industrie ist klein, eine zweckmäßige Spezialisierung, durch die die Erzeugungskosten gesenkt werden, ist daher nicht möglich. Die geringe Ausdehnung unserer Industrie ist eine der wichtigsten Ursachen für ihre allzu hohen Erzeugungskosten. [25] Diese Schwierigkeit kann nur dann überwunden werden, wenn die Ausdehnung unserer Industrie ermöglicht wird, indem ihr auswärtige Märkte erschlossen werden. Die agrarische Wirtschaftspolitik macht dies unmöglich. Die Agrarstaaten beantworten unsere Zölle auf ihr Getreide und unsere Einfuhrverbote für ihr Vieh mit Zöllen auf unsere Industrieprodukte. So wird die Ausdehnung unserer Industrie gehemmt, wir müssen die Vorteile der Massenproduktion entbehren. Die agrarische Zollpolitik verteuert uns also nicht nur die Lebensimittel, sondern mittelbar auch die Industrieprodukte. Neben der Zollpolitik hindern auch andere Maßnahmen der Gesetzgebung die Entwicklung unserer industriellen Produktivkräfte. In unserer Steuergesetzgebung, in unserer Gewerbegesetzgebung, im Wasserrecht, in den Bauordnungen, in unserer bürokratischen Verwaltungsorganisation liegen so manche Fesseln unserer wirtschaftlichen Entwicklung verborgen.

Wir können also die Ursachen der Verteuerung unserer industriellen Produktion in drei Gruppen einreihen: 1. die von der Natur aus ungünstigen Produktionsbedingungen in unserem Wirtschaftsgebiet; 2. die Verteuerung der Arbeitsmittel, insbesondere durch die Kartellschutzzölle; 3. die technische Rückständigkeit der Industrie infolge ihrer zu geringen Ausdehnung und zu langsamen Entwicklung, die hauptsächlich auf die agrarische Zollpolitik zurückzuführen ist. Die erste dieser Hauptursachen können wir nicht aufheben. Wohl aber können die zweite und dritte Hauptursache durch Maßnahmen der Gesetzgebung und Verwaltung bekämpft werden. Als die wichtigsten dieser Maßnahmen sind die Aufhebung der Kartellschutzzölle, der Agrarzölle und der agrarischen .Einfuhrverbote anzusehen.

Der Kampf gegen die Ursachen der Teuerung muß also vor allem als ein Kampf um die Umgestaltung unserer Zoll- und Handelsgesetzgebung geführt werden. In diesem Kampfe stoßen wir aber auf große Schwierigkeiten, die aus unserer wirtschaftlichen Gemeinschaft mit Ungarn hervorgehen.

Österreich und Ungarn bilden ein gemeinsames Zollgebiet. Österreichische Industrieprodukte können nach Ungarn, ungarisches Getreide, Mehl und Vieh nach Österreich eingeführt werden, ohne einen Zoll entrichten zu müssen. Bis zum Jahre 1917 ist die Gemeinsamkeit des Wirtschaftsgebietes durch die Ausgleichsgesetze vom Jahre 1907 gesichert. Doch gibt es diesseits wie jenseits der Leitha starke Parteien, die wünschen, daß das Zollgebiet im Jahre 1917 getrennt werden solle. Die österreichischen Agrarier wünschen, daß auch ungarische Lebensmittel bei der Einfuhr nach Österreich mit hohen Zöllen belegt werden. Die ungarischen Fabrikanten möchten gern österreichische Industrieprodukte durch hohe Zolle vom ungarischen Markte fernhalten. Diesen Bestrebungen muß die Arbeiterklasse Österreichs tatkräftigen Widerstand entgegensetzen.

Ungarn ist unsere weitaus wichtigste Bezugsquelle für Lebensmittel. Im Jahre 1907 wurden nach Österreich eingeführt:

 

Aus Ungarn

Aus dem
Zollausland

Metercentner

Getreide

17.171.904

1,078.159

Mehl

  7,514.886

     15.041

Gemüse

  1,651.708

1,400.761

Milch

     557.344

   118.117

Schweinefett

     152.217

     26.384

Fleisch und Würste

     177.073

       3.544

Außerdem wurden aus Ungarn 779.029 Stück, aus dem Zollausland nur 39.923 Stück Schlacht- und Zugvieh eingeführt.

Würden auch noch von ungarischen Lebensmitteln an unserer Grenze Zölle eingehoben, dann würde die Teuerung in Österreich noch furchtbar gesteigert werden.

Ungarn ist aber auch der wichtigste Absatzmarkt unserer Industrie. Im Jahre 1907 hat Österreich ausgeführt:

 

Nach Ungarn

Ins Zollausland

Meterzentner

Baumgarne

   133.111

     43.780

Baumwollwaren

   549.157

   125.439

Wollenwaren

   147.880

     68.327

Kleider und Wäsche

     56.497

     40.302

Papier

   445.559

   580.437

Leder

   105.404

     19.314

Möbel

     68.924

   191.611

Glas und Glaswaren

   421.872

   756.662

Steinwaren

   579.615

   710.396

Tonware

1.005.501

   710.021

Eisen und Eisenwaren

1.656.366

2.137.427

Maschinen und Apparate

   439.709

   267.375

Chemische Produkte

   880.262

   873.594

Würden Zollschranken zwischen Österreich und Ungarn errichtet, dann würde unsere Industrie einen großen Teil dieses Absatzes verlieren. Eine furchtbare Krise, Arbeitslosigkeit, Lohnkürzungen, dauernde Hemmung unserer industriellen Entwicklung wären die Wirkungen der Zolltrennung. Es ist daher selbstverständlich, daß die österreichische Arbeiterschaft alle Kraft daransetzen muß, die Gemeinsamkeit des Wirtschaftsgebietes gegen die Trennungsgelüste der österreichischen Agrarier und der ungarischen Fabrikanten zu verteidigen.

Aber so nützlich die wirtschaftliche Gemeinschaft mit Ungarn auch ist, so groß sind doch auch die Hindernisse, die sie unseren wirtschaftspolitischen Bestrebungen bereitet. Da Österreich und Ungarn ein Zollgebiet bilden, bedürfen unsere Zolltarife und unsere Handelsverträge nicht nur der Zustimmung des österreichischen Reichsrates, sondern auch der Zustimmung des ungarischen Reichstages. Ungarn ist aber ein Agrarstaat, der von der Grundherrenklasse beherrscht wird. Da nun die Zolltarife und Handelsverträge für das gemeinsame Zollgebiet immer nur durch einen Kompromiß zwischen der österreichischen und der ungarischen Gesetzgebung Zustandekommen können, sorgt für die agrarischen Interessen schon der Einfluß Ungarns; soll das Interesse der Verbraucher nicht unvertreten bleiben, dann muß es bei der österreichischen Gesetzgebung Schutz finden. Dieser Schutz hat uns aber stets gefehlt. Auch das österreichische Parlament wird von den Agrariern geführt, auch die österreichische Regierung von ihnen beeinflußt. So haben sich die österreichischen und die ungarischen Agrarier gegen die Verbraucher verbündet. Sollen die Interessen der Verbraucher bei der Erneuerung des Zolltarifs und der Handelsverträge, die im Jahre 1917 erfolgen muß, überhaupt berücksichtigt werden, dann müssen wir dafür sorgen, daß bis zu diesem Zeitpunkt die Macht der Agrarier wenigstens in Österreich gebrochen wird. Wird dann bei den Vertragsverhandlungen das Interesse der Verbraucher von der österreichischen, das Interesse der Agrarier von der ungarischen Regierung vertreten, dann wird aus diesen Verhandlungen ein erträglicheres Kompromiß hervorgehen als heute, wo die österreichische Regierung nicht weniger als die ungarische von den Agrariern kommandiert wird.

Wir werden den ungarischen Agrariern desto größere Zugeständnisse abringen, je weniger abhängig wir von ihnen sind. Wir können aber unsere wirtschaftliche Abhängigkeit von Ungarn nur dadurch verringern, daß wir auch außerhalb Ungarns Absatzmärkte für unsere Industrieprodukte und Bezugsquellen für Lebensrnittel finden. Darum ist die Förderung unseres Warenverkehrs mit allen Agrarstaaten, die unsere Industrieprodukte kaufen und uns Lebensmittel liefern können, eine unserer wichtigsten Aufgaben. Die Abschließung von Handelsverträgen mit solchen Agrarstaaten ist das wichtigste Mittel dazu. Die Arbeiterklasse hat das größte Interesse daran, daß Handelsverträge mit den Balkanstaaten und mit den aufstrebenden südamerikanischen Republiken (Argentinien) abgeschlossen werden.

Wenn die Teuerung, die auf dem Weltmarkt herrscht, in Österreich noch durch die Wirtschaftsgesetzgebung verschärft wird, so ist dies vor allem darauf zurückzuführen, daß die Volksmassen in Österreich bisher den Fragen der Wirtschaftsgesetzgebung zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt haben, daß sie Agrarier und Kartellmagnaten ruhig schalten und walten ließen. Der agrarische Zolltarif vom Jahre 1906 hätte nie beschlossen werden können, wenn nicht die bürgerlichen Vertreter der Städte und Industriegebiete die Interessen ihrer Wählerschaft preisgegeben und die Wählermassen selbst

dies teilnahmslos hätten geschehen lassen. Wollen wir jedoch unsere Zukunft sichern, dann müssen wir dafür sorgen, daß sich solche beschämende Erscheinungen nicht wiederholen können. Wir müssen die Völker Österreichs zu wirtschaftspolitischem Denken erziehen.

Im Jahre 1917 muß unsere ganze Zollgesetzgebung revidiert, ein neuer autonomer Zolltarif beschlossen, die meisten Handelsverträge erneuert werden. Sieben Jahre sind im Leben der Völker eine kurze Zeit. Nützen wir sie, die Aufklärung über die Ursachen der Teuerung in die Volksmassen zu tragen.

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Fußnoten

21. Auf ein Hektar der Anbaufläche entfiel im Durchschnitt der Jahre 1899 bis 1908 ein Ernteertrag von:

 

Weizen

Roggen

Zentner

Niederösterreich

16,o

14,3

Böhmen

16,1

13,6

Galizien

10,7

  9,1

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Notes

22. Vgl. Otto Bauer, Österreichs Wirtschaftspolitik und der Dualismus, in: Der Kampf, I., Seite 63 ff.

23. Vgl. Hertz, Bedingungen und Kosten der industriellen Produktion in Österreich. Vortrag in der Gesellschaft österreichischer Volkswirte.

24. Vergleiche Paul Kar, Zur Fortsetzung der Eisenbahamerstaatiicbung, in: Der Kampf. 1, Seite 217 ff.

25. Eine kurze Zusammenstellung der Ursachen, warum die Erzeugungskosten desto größer sind, je kleiner das Wirtschaftsgebiet, siehe Otto Bauer, Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie, in: Marx-Studien, 11, Seite 177 ff.

 


Leztztes Update: 19. Februar 2023