Otto Bauer

Das Eingreifen des Staates in die Preisbestimmung

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Der internationale Warenaustausch


Von den Produktivkräften, die unter der Herrschaft des Kapitalismus entwickelt worden sind, von den Arbeitsmitteln, die ihm dienen, sind die weitaus wichtigsten die neuen Verkehrsmittel. Ein dichtes Netz guter Straßen, der Ausbau der Eisenbahnen, die Entwicklung der Binnen- und der Seeschiffahrt hat alle Länder einander nahegebracht. Dadurch ist es uns möglich geworden, aus den fernsten Ländern jene Güter zu beziehen, die wir zur Befriedigung der Bedürfnisse unserer Bevölkerung brauchen.

Je mehr unsere Bevölkerung wächst, desto größer wird unser Getreidebedarf. Wollten wir die große Menge Weizen und Roggen, die wir zur Ernährung unserer Bevölkerung brauchen, auf unserem eigenen Boden bauen, dann müßten wir die mit Weizen und Roggen bebaute Fläche um etwa die Hälfte ausdehnen. Wir hätten zu wenig Kartoffeln, Rüben, Gemüse, Futtermittel, Fleisch, Milch, Butter und Holz, würden wir den Roggen- und Weizenanbau auf Kosten der anderen Kulturen so gewaltig ausdehnen.

Wir müßten, um unseren Getreidebedarf mit unserer eigenen Ernte zu decken, mit Roggen und mit Weizen auch solche Böden bebauen, die für den Getreideanbau ungeeignet sind. Wir würden daher auf diese Weise unseren Getreidebedarf nur mit gewaltig gesteigerten Kosten, also zu unerschwinglichen Preisen decken können. Wir beschaffen uns die Getreidemenge, die wir brauchen, viel billiger, wenn wir die Erträgnisse des fruchtbaren Bodens anderer Länder – Ungarns, Rußlands, der Balkanländer, Argentiniens – kaufen. Wir können sie kaufen, da wir diesen Ländern viele von unserer Industrie erzeugte Waren, zum Beispiel Garne, Gewebe, Kleider, Wäsche, Maschinen, Glas- und Porzellanwaren, Zucker und so weiter, verkaufen. Wir erzeugen Industrieprodukte, verkaufen sie im Ausland und benützen den Erlös dazu, ausländisches

Getreide zu kaufen. So tauschen wir österreichische Industrieprodukte gegen ausländisches Getreide ein und beschaffen uns auf diese Weise das Getreide, das wir zur Ernährung unserer Bevölkerung brauchen, billiger, als wenn wir es in Österreich selbst erzeugen wollten. Der internationale Warenaustausch hat die reichlichere Versorgung unserer Volkswirtschaft mit allen Nahrungsmitteln und Gebrauchsgegenständen möglich gemacht. Wir erzeugen Garne und Gewebe, mit denen die ungarischen Bauern sich bekleiden, Ungarn erzeugt Getreide, das die österreichischen Arbeiter ernährt, unsere Industrie arbeitet für den ungarischen, die ungarische Landwirtschaft für den österreichischen Bedarf – die internationale Arbeitsteilung macht uns reicher, als wir wären, wenn wir alles, was wir brauchen, im eigenen Lande erzeugen wollten.

Ebenso wie mit dem Getreide steht es mit anderen Waren. Wir führen zum Beispiel in jedem Jahre grobe Mengen Baumwolle, Wolle, Häute, Leder nach Österreich ein. Es wäre unmöglich, unsere Bevölkerung zu bekleiden, wenn wir ihr Bekleidungsbedürfnis nur mit Erzeugnissen aus der Wolle, dem Flachs, den Häuten, die wir im eigenen Lande erzeugen können, befriedigen wollten. Wir können ihr Bedürfnis nach Kleidern, Wäsche und Schuhwerk besser und reichlicher befriedigen, wenn wir mehr Industrieprodukte erzeugen, als unsere Bevölkerung verbraucht, diese Waren anderen Ländern verkaufen und den Erlös dazu benützen, um von anderen Ländern jene Rohstoffe und Industrieprodukte zu kaufen, die wir zur Bekleidung unserer Bevölkerung brauchen.

Wir können alle Bedürfnisse unserer Bevölkerung am reichlichsten befriedigen, wenn wir unsere Arbeitsmittel und unsere Arbeitskraft in der Erzeugung derjenigen Güter verwenden, die wir billiger erzeugen können als unsere Nachbarn, diese Güter dann unseren Nachbarn verkaufen und den Erlös dazu benützen, von ihnen diejenigen Güter zu kaufen, die sie billiger herstellen können als wir. [1]

Aber diesem Interesse der gesamten Volkswirtschaft widerstreiten nun die Interessen einzelner Klassen der Bevölkerung. Wir erzeugen zum Beispiel Baumwollgewebe viel billiger als Rumänien, während Rumänien Vieh billiger züchtet als wir. Es ist daher, vom Standpunkt der gesamten Volkswirtschaft aus betrachtet, unklug, wenn wir alles Vieh, das wir brauchen, im eigenen Lande erzeugen wollen. Es ist klüger, wenn wir Baumwollgewebe erzeugen, sie den rumänischen Landwirten verkaufen und aus dem Erlös rumänisches Vieh kaufen, das mit geringeren Kosten gezüchtet und gemästet werden kann als das österreichische. Aber das ist den österreichischen Viehzüchtern und Viehhändlern nicht recht. Sie haben es durchgesetzt, daß die Regierung die Einfuhr von rumänischem Vieh nach Österreich seit dem Jahre 1881 verboten hat. Dadurch sind sie von einer ihnen unerwünschten Konkurrenz befreit worden; sie können, dieser Konkurrenz ledig, ihr Vieh jetzt teurer verkaufen. Das Interesse der Großgrundbesitzer, aus der Viehzucht möglichst hohe Profite herauszuschlagen, hat den Staat bestimmt, die Einfuhr von Vieh zu verbieten, obwohl unsere Bevölkerung ihr Bedürfnis nach Fleischnahrung billiger befriedigen könnte, würden wir österreichische Baumwollgewebe gegen rumänisches Vieh eintauschen.

Argentinien erzeugt Weizen billiger als wir, und wir erzeugen viele Industrieprodukte billiger, als sie in Argentinien erzeugt werden können. Es wäre also klug, Industrieprodukte an die argentinischen Landwirte zu verkaufen und den Erlös zum Ankauf argentinischen Weizens zu verwenden. Daran hindern uns aber die Großgrundbesitzer; sie wünschen nicht, daß argentinischer Weizen nach Österreich gebracht wird, weil die Konkurrenz des argentinischen Getreides es ihnen erschweren würde, den Preis ihres Weizens in die Höhe zu treiben. Sie haben daher im Parlament ein Gesetz beschlossen, nach welchem von jedem Zentner Weizen, der aus Argentinien nach Österreich gebracht wird, ein Zoll von 7,50 Kronen an die Staatskasse entrichtet werden muß. Infolgedessen kommt der argentinische Weizen die österreichischen Händler um 7,50 Kronen teurer zu stehen, als dies ohne jenes Gesetz der Fall wäre. Die Einfuhr argentinischen Weizens wird dadurch verteuert, selbst bei hohen Getreidepreisen sehr erschwert, bei niederen geradezu verhindert, obwohl wir unseren Getreidebedarf durch Austausch österreichischer Industrieprodukte gegen argentinischen Weizen billiger decken könnten, als dies durch vermehrten Weizenanbau in Österreich möglich ist.

So sind alle Unternehmer in der Industrie wie in der Landwirtschaft stets bestrebt, die Erlassung von Gesetzen zu erzwingen, durch welche sie von der fremden Konkurrenz befreit werden. Diesem Zwecke dienen die Einfuhrzölle (zum Beispiel der Weizenzoll) und die Einfuhrverbote (zum Beispiel das Verbot der Einfuhr von Vieh aus dem Ausland). Diese Maßregeln der Gesetzgebung haben erstens zur Folge, daß der internationale Warenaustausch verhindert wird. Durch Zölle und Einfuhrverbote werden wir gehindert, aus Rumänien Vieh, aus Argentinien Weizen zu beziehen. Rumänien und Argentinien rächen sich, indem sie ihrerseits die Einfuhr unserer Industrieprodukte durch die Einhebung hoher Zölle verteuern und erschweren. So wird durch unsere Zölle auf fremde Lebensrnittel und durch die Zölle, mit denen die anderen Staaten unsere Industrieprodukte belegen, verhindert, daß wir unsere Industrieprodukte gegen die von anderen Ländern feilgebotenen Lebensimittel eintauschen. Bei freiem Warenaustausch würden wir für Argentinien und Rumänien Industrieprodukte, diese Länder für uns Weizen und Vieh erzeugen. Die Zölle und Enfuhrverbote machen diese internationale Arbeitsteilung unmöglich. Sie hemmen die Entwicklung der internationalen Arbeitsteilung.

Die Zölle und Enfuhrverbote hindern uns, einen größeren Teil unserer Lebensrnittel aus fremden Staaten zu beziehen. Sie zwingen uns daher, mehr Getreide und Vieh im eigenen Lande zu erzeugen, obwohl die Kosten hier höher sind als in anderen Ländern. Anderseits hindern die Zölle uns, mehr Industrieprodukre an andere Länder zu verkaufen. Sie hemmen daher die Entwicklung unserer Industrie. Die Zölle und Enfuhrverbote haben also zur Folge, daß wir einen größeren Teil unserer Bevölkerung in der Landwirtschaft und Viehzucht, einen kleineren Teil in der Industrie beschäftigen. Sie verhindern die Industrialisierung Österreichs. Die Zölle geben niemandem Arbeit, sie verändern nur die Verteilung der Arbeit auf die verschiedenen Zweige der Produktion. Würden zum Beispiel die Getreidezölle abgeschafft, dann würden wir zwar weniger Arbeiter in der Landwirtschaft, dafür aber mehr Arbeiter in der Industrie beschäftigen können.

Hunderttausend Arbeiter, in unserer Landwirtschaft beschäftigt, erzeugen eine bestimmte Menge Getreide. Dieselben hunderttausend Arbeiter, in der Industrie beschäftigt, würden Industrieprodukte erzeugen, für die wir, würde der internationale Warenaustausch nicht durch Zölle und durch Einfuhrverbote gehemmt, ein größeres Quantum Getreide eintauschen könnten; denn die Kosten der Getreideproduktion sind in den Vereinigten Staaten, in Kanada, in Argentinien, in Rußland viel niederer als in Österreich. Daß die Zölle und Enfuhrverbote den freien Warenaustausch verhindern, hat also zur Folge, daß wir für dieselbe Arbeit weniger Lebensimittel bekommen. Zölle und Einfuhrverbote verringern die Ergiebigkeit unserer Arbeit, sie machen die ganze Volkswirtschaft ärmer.

Das drückt sich darin aus, daß die Zölle und Einfuhrverbote die Waren verteuern. Wenn wir die Waren nicht dort kaufen, wo sie mit den geringsten Kosten erzeugt werden können, sondern sie mit höheren Kosten im Inlande erzeugen, dann müssen wir für sie höhere Preise zahlen. Die Zölle und Einfuhrverbote verteuern also die Waren, sie sind eine der wichtigsten Ursachen der Teuerung. Die Teuerung wird nicht ausschließlich durch die staatliche- Wirtschaftsgesetzgebung hervorgerufen. Sie ist eine internationale Erscheinung, deren Ursachen im Wesen der kapitalistischen Produktionsweise liegen. Wohl aber wird die Teuerung durch die staatliche Gesetzgebung verschärft, indem durch Zölle und Einfuhrverbote die Warenpreise im Inland noch weit über die hohen Weltmarktpreise hinaufgetrieben werden.

Trotzdem fordern alle Schichten der besitzenden Klassen, daß ihnen durch Zölle und Einfuhrverbote die unbequeme fremde Konkurrenz ferngehalten und die Verteuerung ihrer Waren erleichtert werde. Niemand wünscht, daß anderen Produktionszweigen diese Begünstigung zugestanden werde, aber jeder Unternehmer verlangt sie für seinen eigenen Produktionszweig. Die Großgrundbesitzer bekämpfen die Zölle auf Industrieprodukte, aber sie fordern Zölle für Getreide, Mehl, Vieh und Fleisch. Die Industriellen bekämpfen die Agrarzölle, aber sie fordern Zölle auf Industrieprodukte. Die Maschinenfabrikanten ärgern sich über die hohen Eisenzölle, die ihnen ihren Rohstoff verteuern, aber die Maschinenzölle sind ihnen recht. Alle Unternehmer aber wünschen, daß die staatliche Gesetzgebung, unbekümmert um die Interessen der ganzen Volkswirtschaft, ihrem Profitinteresse diene. Jede Unternehmergruppe strebt nach politischer Macht, um den Staat ihren Interessen dienstbar zu machen. Die Wirtschaftsgesetzgebung, insbesondere die Zolltarife sind das Ergebnis der Machtkämpfe der verschiedenen Unternehmergruppen.

Die Arbeiterschaft aber hat nur eine Ware zu verkaufen: die Ware Arbeitskraft. Und diese Ware schützt kein Zoll. Während die Unternehmer sich die Konkurrenz fremder billiger Waren durch Zölle und Einfuhrverbote fernhalten, suchen sie durch Heranziehung fremder billiger Arbeitskräfte der heimischen Arbeiterschaft Konkurrenz zu schaffen. Das Interesse der Arbeiterschaft ist dem der Unternehmer entgegengesetzt. Der Arbeiter wünscht, daß er für seinen Lohn möglichst viele Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände kaufen könne. Daher bekämpfen die Arbeiter die Zölle und Einfuhrverbote, die alles verteuern, was der Arbeiter kaufen muß.

Während die Profitinteressen der Unternehmer dem Gesamtinteresse der Volkswirtschaft widerstreiten, fällt das Interesse der Arbeiterklasse mit dem Interesse des volkswirtschaftlichen Fortschritts zusammen. Der freie, nicht durch Zölle und durch Einfuhrverbote gehemmte Warenaustausch macht erst die internationale Arbeitsteilung möglich, die die Ergiebigkeit der gesellschaftlichen Arbeit steigert, die Volkswirtschaft reicher macht. Der freie Warenaustausch senkt aber auch den Preis der Waren, er erhöht die Kaufkraft des Geldlohnes. Im Kampfe gegen die Zollpolitik der besitzenden Klassen ist die Arbeiterklasse die Sachwalterin des volkswirtschaftlichen Fortschritts.

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Fußnote

1. Dieser Satz ist das Freihandelsargument der liberalen Nationalökonomie. Es taucht in England und Frankreich schon im 17. Jahrhundert auf, beginnt nach dem Erscheinen der Untersuchung über die Natur und die Ursachen des Reichtums der Nationen von Adam Smith (1776) seinen Siegeszug durch die bürgerliche Welt, findet in Ricardos Grundgesetzen der Volkswirtschaft (1817) seine klassische Formulierung und ist nun jahrzehntelang der unbestrittene Glaubenssatz der liberalen Parteien und ihrer theoretischen Vertreter, der klassischen Nationalökonomie. Über die Modifikation, die dieser Satz innerhalb der kapitalistischen Warenproduktion erfährt, vergleiche Otto Bauer, Die Arbeiterklasse und die Schutzzölle, in: Neue Zeit, XXIII, 1., Seite 532 ff.

 


Leztztes Update: 18. Februar 2023