Otto Bauer

Gewerkschaften und Unternehmerverbände

(1. November 1910)


Der Kampf, Jg. 4 2. Heft, 1. November 1910, S. 49–54.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Die Aelteren unter uns erinnern sich noch der grossen Streikwelle, die sich zur Zeit der ersten Maifeier über Oesterreich ergoss. Einem Elementarereignis gleich, unvorbereitet, unerwartet, die plötzliche Entschliessung eines Augenblicks – so brach damals der Streik aus. Eine zündende Rede, ein zufälliger Zwist in der Fabrik brachte den lange angehäuften Ingrimm zur Explosion. Ohne bestimmtes Ziel, ohne klaren Plan traten die Arbeiter in den Ausstand. Der Streik war nicht mehr als der elementare Ausdruck ihres Erwachens – die Zeit der Sklavendemut ist vorüber, nun muss es endlich, endlich besser werden! Als eine Rebellion erschien der Streik den Unternehmern und den Behörden. Welch erschütternde Wendung, da plötzlich die demütigen Sklaven, die gestern noch dem gnädigen Herrn die Hand geküsst, den Gehorsam verweigerten! Ueberrascht, erschreckt, eingeschüchtert standen die Unternehmer dem Unerwarteten gegenüber. In blinder Angst erfüllten sie die Forderungen der Arbeiter.

Nun begannen die Arbeiter die ersten leicht errungenen Siege auszunützen. Die Gewerkschaften entstanden. Sie sammelten den Kriegsschatz für kommende Kämpfe. Der Streik wurde allmählich zum planmässig vorbereiteten, nüchtern erwogenen Mittel des gewerkschaftlichen Kampfes, zu einer alltäglichen Erscheinung des Wirtschaftslebens. Für die Unternehmer wird der Streik ein nüchternes Rechenexempel: Was schmälert den Profit mehr, die Bewilligung der Forderungen oder die Fortdauer der Betriebseinstellung? Die Konkurrenz unter den Unternehmern nützt den Streik aus: wenn der Streik den Betrieb des Herrn Müller stillegt, nimmt ihm Herr Schulze seine Kundschaft weg! So können die Gewerkschaften einen Unternehmer nach dem anderen angreifen. Das Ergebnis dieser Streikperiode ist eine bedeutende Verbesserung der Arbeitsverhältnisse: Steigen der Löhne, Verkürzung der Arbeitszeit, Erstarken der Gewerkschaften, Entwicklung des kollektiven Arbeitsvertrages.

Aber die Erfolge der Arbeiter zwingen die Unternehmer zur Abwehr. Auch sie suchen nun in der Organisation ihr Heil. Mit den Kartellen, die den Warenmarkt beherrschen, entwickeln sich die Arbeitgeberverbände, die den Arbeitsmarkt regulieren. Der Streik im einzelnen Betrieb ist nicht mehr möglich: stellen die Tischler in einer Wiener Werkstätte die Arbeit ein, so sperren die Unternehmer alle Tischlergehilfen Wiens aus. Unternehmerorganisationen und Arbeiterorganisationen wetteifern im Ausbau der Organisation, in der Sammlung des Kriegsschatzes. Von Zeit zu Zeit stehen sie im Kampf. Sein Ergebnis wird in einem Tarifvertrag, der für alle gleichartigen Unternehmungen einer ganzen Stadt oder eines ganzen Industriegebietes gilt, festgelegt. Nach einigen Janren, wenn der Vertrag wieder abgelaufen, ringen die beiden Mächte um einen neuen Vertrag.

Aber auch diese Entwicklungsphase bringt den Arbeitern noch grosse Erfolge. Die Unternehmer sind unzufrieden. Sie sehen, dass sie die Bauarbeiter in München nicht bezwingen können, wenn die Bauarbeiter ganz Deutschlands ihnen helfend zur Seite stehen. Darum wollen sie den Kampf gleichzeitig auf der ganzen Linie aufnehmen. Auch die stärksten Gewerkschaften müssen wohl versagen, wenn sie Hunderttausende ausgesperrter Arbeiter im ganzen Reiche wochenlang unterstützen sollen. Die Arbeitgeberverbände im deutschen Baugewerbe geben den lokalen Vereinigungen den Auftrag, alle Tarifverträge bis zum 31. März 1910 abzuschliessen. Am 1. April 1910 zwingt man die Arbeiter zum Kampf; 187.000 Arbeiter werden ausgesperrt, sie und ihre Familienangehörigen, zusammen wohl 400.000 Personen, sind zum Hungern verurteilt. Die Unternehmer, die sich der Aussperrung nicht anschliessen wollen, werden dazu gezwungen: die organisierten Baumaterialienhändler und Ziegeleibesitzer verweigern ihnen die Lieferung von Baumaterial, der Stahlwerksverband verweigert ihnen die Lieferung von Baueisen. Aber eine Reihe zufälliger Umstände begünstigt den Kampf der Arbeiter. Die Unternehmerorganisation wird geschlagen. Was ihr diesmal noch nicht gelungen, wird sie das nächstemal mit verstärkter Kraft versuchen. [1]

Aehnliche Erscheinungen finden wir in den anderen Industriegruppen. Die streikenden Arbeiter der Schiffswerften wollen sich dem Diktat der Unternehmer nicht fügen: sofort drohen die Unternehmerverbände, dass sie 400.000 Metallarbeiter in ganz Deutschland entlassen werden; nur mit Mühe gelingt es, die Riesenaussperrung diesmal noch zu vermeiden. In einer englischen Spinnerei wird ein Vertrauensmann entlassen. Die Arbeiter der Spinnerei stellen die Arbeit ein. Darauf sperrt am 3. Oktober die Vereinigung der Baumwollspinnereibesitzer von Lancashire 700 Betriebe, in denen sonst 150.000 Arbeiter beschäftigt sind. Auch in Oesterreich bereiten die Unternehmer solche Massenkämpfe vor. Auch hier schliessen die Unternehmerverbände alle Tarifverträge so ab, dass sie in demselben Augenblick ablaufen. Im Jahre 1913 müssen 2.000 Tarifverträge erneuert werden ...

Die Zeit des isolierten Streiks im einzelnen Betriebe ist vorbei. Die Zeit der lokalen Kämpfe einer ganzen Branche in einer ganzen Stadt wird morgen vorüber sein. Die wirtschaftliche Entwicklung treibt zu riesigen Massenkämpfen, in denen Hunderttausende gleichzeitig im Feuer stehen. Solche Kämpfe werden zur Sache der ganzen Arbeiterklasse. Wenn alle Bauarbeiter Deutschlands ausgesperrt werden, treten ihnen die Metallarbeiter und die Holzarbeiter, die Textilarbeiter und die Bergarbeiter helfend zur Seite: die ganze Arbeiterklasse stellt den Ausgesperrten ihre Ersparnisse zur Verfügung. Aber die Solidarität der Arbeiter weckt auch das Solidaritätsgefühl der Unternehmer. Die Kosten der letzten Tischleraussperrung in Wien wurden von den reichsten Metallindustriellen Oesterreichs, von Krupp und Schöller, getragen. Das ist der erste Schritt. Der zweite wird folgen: Wenn die Tischler Wiens sich dem Diktat der Unternehmer nicht fügen, sperrt Krupp in Berndorf, Schöller in Ternitz seine Arbeiter aus ...

Wir haben diese Entwicklung in Schweden gesehen. Im Sommer 1909 wurden die Arbeiter in der schwedischen Herrenkleiderkonfektion ausgesperrt, weil sie eine Lohnreduktion nicht hinnehmen wollten. Gleichzeitig wurden aus ähnlichen Gründen die Arbeiter der Zelluloseindustrie und die Arbeiter einiger Wasserwerke ausgesperrt. Nun stellt der Arbeitgeberverband sein Ultimatum: Wenn nicht bis zum 26. Juli 1909 alle diese Lohnkämpfe zu den von den Unternehmern gestellten Bedingungen beendigt sind, werden die Arbeiter der Textilindustrie, der Sägewerke und der Holzschleifereien, insgesamt 50.000 Personen, ausgesperrt. Nützt auch dies nichts, dann werden am 2. August auch die Arbeiter der Eisenhüttenwerke, 30.000 Mann, auf die Strasse gesetzt. Fügen sich die Arbeiter auch dann nicht, dann werden alle Betriebe der im Unternehmerverband vereinigten Unternehmer gesperrt ... Auf diese Drohung antworten die Gewerkschaften mit der Proklamation des Generalstreiks. 300.000 Arbeiter treten in den Ausstand. Aus dem Streik in der Herrenkleiderkonfektion ist ein Klassenkampf geworden, an dem die ganze Arbeiterklasse beteiligt ist. [2]

Die Stillegung der Arbeit im ganzen Lande wird zur Verlegenheit für die ganze Gesellschaft. Auch die unbeteiligten Schichten des Bürgertums sehen ihre Lebensgewohnheiten gestört. Wohl nehmen die Arbeiter auf die Unbeteiligten alle mögliche Rücksicht. Der Gewerkschaftsverband beschliesst: „Die Arbeit wird nicht eingestellt werden, wo es sich um Wartung kranker Menschen oder um die Pflege lebender Tiere handelt, auch nicht in Wasser-, Beleuchtungs- und Reinigungsbetrieben.“ Auch lehnen die Eisenbahner in Urabstimmung die Beteiligung am Streik ab, die Wirkung des Buchdruckerstreiks ist überraschend gering, die unorganisierten Landarbeiter sind am Kampfe unbeteiligt. Trotz dieser Einschränkung des Streiks ist das ganze Bürgertum gegen die Streikenden erbittert. Die Jugend der Bourgeoisie wird in „Schutzkorps“ organisiert, die die streikenden Arbeiter zu ersetzen suchen. Der Stockholmer Bourgeois kann eine Droschke mieten, die von einem Beamten geführt wird; er kann auf der Strassenbahn fahren und findet dort einen jungen Offizier als Schaffner; er kann seine Zeitung lesen, die Ingenieure, Kontorfräuleins und andere „Freiwillige“ gesetzt und gedruckt haben. [3] Die ganze bürgerliche Welt steht im Kampfe gegen die Streikenden.

So wird der gewerkschaftliche Kampf zum Klassenkampfe. Zuerst der Kampf in dem einzelnen Betriebe; später der Kampf in einem ganzen Gewerbezweig einer ganzen Stadt oder eines ganzen Industriegebietes; dann der Kampf einer ganzen Industriegruppe in einem ganzen Reiche; schliesslich der Massenstreik und die Massenaussperrung aller Industriegruppen im ganzen Reiche – das sind die Entwicklungstendenzen der gewerkschaftlichen Kämpfe.

Die grossen wirtschaftlichen Massenkämpfe werden im nächsten Jahrzehnt die wichtigste Methode des Klassenkampfes sein. In ihnen wird sich die Klassenscheidung vollziehen: die Vereinigung aller Arbeiter ohne Unterschied der Nationalität, der Religion, der politischen Tradition auf der einen, die Vereinigung aller besitzenden Klassen auf der anderen Seite. Die ganze Gesellschaft bekommt die Wirkungen des wirtschaftlichen Krieges zu fühlen, der Staat wird zum Eingreifen gezwungen, der wirtschaftliche Kampf wird zum politischen. Die Organisation der Gewerkschaften selbst muss sich den neuen Kampfbedingungen anpassen: da jeder kleine Konflikt zum ungeheuren Massenkampf führen kann, ist die Konzentration aller gewerkschaftlichen Kräfte, die straffste Zentralisierung der Organisation, die einheitliche Führung aller Kämpfe, die Ueberwindung alles beruflichen, lokalen und nationalen Separatismus zwingende Notwendigkeit. Alle Illusionen vom allmählich-friedlichen Aufstieg der Arbeiterklasse, vom Zusammenwirken der Arbeiter mit einem Teil der besitzenden Klassen, vom sozialen Frieden und von der industriellen Demokratie werden zerstört. Ungeheure Arbeiterorganisationen auf der einen, ungeheure Unternehmerorganisationen auf der anderen Seite werden auf dem Schlachtfelde der Industrie die gewaltigen, verheerenden Entscheidungskämpfe ausfechten, in denen die kapitalistische Gesellschaft zusammenbrechen wird.

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Am vollkommensten sind die Gewerkschaften im Deutschen Reiche und in den skandinavischen Ländern den neuen Kampfesbedingungen angepasst. Nicht mehr England, sondern Deutschland ist heute der klassische Boden der Gewerkschaftsbewegung. In den anderen Ländern ringen sich die Gewerkschaften in schweren inneren Kämpfen zu denselben Organisationsformen und denselben Kampfmethoden durch, die die deutschen Gewerkschaften unter dem Drucke der wirtschaftlichen Entwicklung angenommen haben.

Erstarrt in den alten Formen und im alten Geiste, standen die alten englischen Gewerkschaften dem Ansturm des organisierten Kapitals hilflos, ratlos, hoffnungslos gegenüber. Schon glaubten sie, dem organisierten Kapital gegenüber seien die alten Kampfmittel der Gewerkschaften überhaupt nicht mehr anwendbar. „Gegen isolierte und unorganisierte Unternehmer hatte der Streik Erfolg. Aber eine vollkommenere Organisation der Unternehmer verurteilt die Streikpolitik zur Ohnmacht. Die Aussperrung in Tätigkeit ist ein Werkzeug mitleidloser Zerstörung; die Aussperrung im Hintergrund ist ein Gespenst, das droht und schreckt. Die einst so furchtbare Waffe des Streiks wird schwach und unwirksam.“ [4] Solche Ansichten sind in der englischen Arbeiterschaft weit verbreitet. An den gewerkschaftlichen Kampfmitteln verzweifelnd, betraten die englischen Gewerkschafter den politischen Kampfboden. Die Labour party entstand. Aber gegen sie wendet sich eine Gerichtsentscheidung der Lords, die den Gewerkschaften das Recht abspricht, ihre Gelder für politische Zwecke zu verwenden. Und schlimmer noch als die äussere trifft die junge Arbeiterpartei die innere Gefahr. Ihr Programm lautet: Volle Unabhängigkeit von allen bürgerlichen Parteien. Aber kaum hatte sie den Boden des Parlaments betreten, stand sie vor der Frage des Schutzzolls, der Steuerfrage, der Frage des Oberhausvetos und in allen diesen Fragen musste sie mit den Liberalen gegen die Unionisten Zusammengehen. Gegründet, die Arbeiter von den Liberalen loszulösen, wird sie selbst zum Anhängsel der liberalen Partei. Sie sollte den Arbeitern sozialpolitische Errungenschaften heimbringen, um sie für die Erfolglosigkeit der gewerkschaftlichen Kämpfe zu entschädigen; aber nach den ersten grossen Erfolgen vermochte sie keine weiteren mehr zu erringen.

Unzufriedenheit, Enttäuschung, Hoffnungslosigkeit zeigen sich nun in ihren Reihen. „Die Organisationen wurden störrisch. Ein gelinder Schlag von den Liberalen brachte sie zum Wahnsinn, ein Angriff von den Konservativen brachte sie von Sinnen. Sie glaubten alles, was die kapitalistische Presse gegen die Partei schrieb, und statt voll Vertrauen auf ihre eigenen Vertreter sich in Geduld zu fassen und indessen im Lande ihre Ansichten zu verbreiten, begannen sie zu schreien: Wir seien vernichtet. Die Partei wurde desorganisiert ... Selbst unsere Abgeordneten wurden entmutigt und begannen, sich nach anderer nützlicher Arbeit umzusehen.“ [5] Von den Erfolgen auf dem politischen Gebiet enttäuscht, wandte sich die Arbeiterschaft wieder den gewerkschaftlichen Kampfmethoden zu. Hier stiess sie auf die Aengstlichkeit der Gewerkschaftsführer, die den Kampf gegen die organisierten Unternehmer nicht aufzunehmen wagten. Die Flut durchbricht den Damm. „Die Autorität der Gewerkschaftsführer ist gänzlich zusammengebrochen. Sämtliche grossen Streiks der letzten Jahre – der der Werftarbeiter, der Bergleute von Süd-Wales, der Angestellten der Nordostbahn – sind gegen den Willen der Gewerkschaftsleitungen in Szene gesetzt worden. Die ,Alte Garde' kann nicht einmal verhindern, dass die widersetzliche Jungmannschaft sich mutwillig über die bestehenden Verträge hinwegsetzt.“ [6] Zugleich strömt eine Fülle neuer Gedanken in die Gewerkschaften ein. Einerseits wird die veraltete Gliederung der Gewerkschaften bekämpft, die Industriegruppenorganisation gefordert. Auf der anderen Seite dringt die Phraseologie des französischen Syndikalismus ein. So befindet sich die ganze englische Arbeiterbewegung im Zustande der Krise. Sie ringt nach neuen Formen und neuem Geiste, die den neuen, durch das Erstarken der Unternehmerverbände so gründlich umgestalteten Kampfbedingungen angepasst sein werden.

Die Umwälzung der gewerkschaftlichen Kampfbedingungen vollzieht sich überall. In Russland hat die Gewerkschaftsbewegung in den wenigen Monaten der Revolution die ganze Entwicklung durchlebt, die in England und Deutschland Jahrzehnte ausgefüllt hat. Die Massenstreiks, mit denen die Arbeiter aller Industriegebiete des russischen Reiches den Massenmord vom 22. Jänner 1905 beantwortet haben, trugen noch den Charakter jener ersten elementaren Streiks, wie wir sie vor 20 Jahren erlebt haben. „Von einem Ende bis zum anderen ging eine grandiose Streikwoge über das Land, seinen ganzen Körper erschütternd. Nach ungefährer Schätzung umfasste der Streik 122 Städte und Dörfer, einige Bergwerke des Donez-Bassins und zehn Eisenbahnen. Die proletarischen Massen wurden bis in ihre Tiefen aufgewühlt. Der Streik zog gegen eine Million Menschen in seinen Bannkreis. Ohne Plan, oft ohne Forderungen, sich immer wieder erneuernd, nur dem Solidaritätsinstinkt gehorchend, beherrschte er fast zwei Monate lang das Land.“ [7] Aber mitten in den Stürmen der Revolution haben sich nicht nur die Arbeiter, sondern auch die Unternehmer organisiert. Die Unternehmerverbände übernahmen die bereits in Deutschland und England entwickelten Organisationsformen und Kampfmethoden. Im Herbst 1906 sieht Russland bereits eine lange Kette von Aussperrungen, in denen das organisierte Unternehmertum mit der Kraft der Arbeiter auch das Rückgrat der Revolution zerbricht. [8] Die hereinbrechende Konterrevolution zerstört die Gewerkschaften, aber die Unternehmerverbände bestehen fort. Wenn die Proletarier Russlands die Fesseln wieder zerbrechen, in die der Zarismus sie geschlagen, werden sie sofort grossen, mächtigen Unternehmerverbänden gegenüberstehen. Die russische Gewerkschaftsbewegung wird sofort mit den höchsten, reifsten, dem Kampfe gegen die organisierte Kapitalsgewalt angepassten Methoden einsetzen müssen.

Etwas weniger deutlich als in den anderen Ländern ist die Entwicklungstendenz des modernen gewerkschaftlichen Kampfes in Frankreich und in Italien zu beobachten. Gewerkschaften und Unternehmerverbände sind dort noch schwach. Die Streiks tragen oft noch die Charakterzüge einer bei uns schon überwundenen Periode – plötzlicher, unvorbereiteter Ausbruch mit revolutionärem Elan, aber auch sehr schnelles Abbröckeln, wie wir es jüngst wieder bei dem französischen Eisenbahnerstreik gesehen. Die syndikalistische Theorie macht aus dieser Not eine Tugend. Aber die lärmenden Experimente der Syndikalisten verschärfen die Klassengegensätze, sie beschleunigen die Vereinigung aller bürgerlichen Schichten gegen die streikenden Arbeiter, sie demaskieren den Klassencharakter der Staatsgewalt, sie beschleunigen das Erstarken der Unternehmerorganisationen. Die „föderalistischen“ Gewerkschaften erleiden im Kampfe gegen diese Gegner eine Niederlage nach der anderen. Die „reformistische“ Bewegung in den französischen und italienischen Gewerkschaften, die die Gewerkschaften zentralisieren und ihre Kampfmethoden dem deutschen Typus annähern will, ist nichts anderes als der Versuch, die gewerkschaftliche Organisation und Taktik den veränderten Kampfesbedingungen anzupassen.

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Die Entwicklung der Unternehmerorganisationen hat die Kampfbedingungen unserer Gewerkschaften vollständig verändert. In schweren inneren Kämpfen sucht die Arbeiterklasse in allen Ländern nach neuen Waffen, die den erstarkten Gegner bezwingen sollen. Auch der österreichische Gewerkschaftskonflikt, der seit Monaten unsere ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt, ist nur in diesem Zusammenhänge völlig zu begreifen.

Die österreichische Gewerkschaftsbewegung ist auf deutschem Boden, vor allem in Wien zuerst gross und mächtig geworden. Aus der deutschen Arbeiterschaft sind ihre ersten und bewährtesten Vertrauensmänner hervorgegangen, deutsch war wie die Mehrheit der Mitglieder so auch die Führung. Aber mit dem Wachstum und der Ausdehnung der Gewerkschaften wurde immer grösser die Zahl ihrer nichtdeutschen, vor allem ihrer tschechischen Mitglieder. Und diese Veränderung der nationalen Mischungsverhältnisse in unseren Organisationen fiel zusammen mit der strafferen Zentralisierung nach reichsdeutschem Muster, die die Notwendigkeiten der wirtschaftlichen Entwicklung erzwangen. Das schwere Problem, in straff zentralisierten Reichsgewerkschaften die Arbeiter von acht Nationen zu vereinigen, sollte hier gelöst werden in einer Zeit, in der die nationalen Kämpfe in ganz Oesterreich tobten, der Nationalismus auch in die Arbeitermassen einzudringen begann und die Sozialdemokratie sich in nationale Parteien gliederte, die der Gesamtpartei gegenüber immer selbständiger wurden. Kein Wunder, dass das schwere Problem nicht leicht, nicht restlos gelöst werden konnte. Zeugt die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung der ganzen kapitalistischen Welt für den Zentralismus, so begünstigte die besondere politische Entwicklung Oesterreichs den Separatismus. In dem schweren inneren Kampf in unseren Gewerkschaften tritt der Widerstreit zwischen den allgemeinen ökonomischen Bedingungen, unter denen die Arbeiter aller Länder leben, und den besonderen politischen Bedingungen, unter denen die Arbeiter Oesterreichs leiden, in Erscheinung. [9]

Aber die wirtschaftlichen Notwendigkeiten haben noch stets allen Widerstand gebrochen. Sie zerstören heute den so tief eingewurzelten englischen Konservatismus. Sie werden morgen den französischen und den italienischen Syndikalismus bezwingen. Sie werden auch mit dem tschechischen Separatismus fertig werden.

In Deutschland wie in den nordischen Ländern, in England wie in Russland, in Frankreich wie in Italien werden die Daseinsbedingungen der Gewerkschaften durch das Erstarken der Unternehmerverbände vollständig verändert. Der isolierte Streik wird unmöglich, der Massenausstand und die Massenaussperrung werden die normalen Formen des gewerkschaftlichen Kampfes. Der berufliche, der lokale, der nationale Separatismus wird unmöglich, sobald jeder Streik, den Arbeiter eines Berufes, eines Ortes, einer Nation beginnen, die ganze Klasse zum Entscheidungskampfe rufen kann. Die Konzentration aller gewerkschaftlichen Kämpfe wird zwingende Notwendigkeit. Die Arbeiter mögen über irgendeine Resolution im Parlament verschiedener Meinung sein, sie mögen sich über die Einzelheiten eines Nationalitätenprogramms nicht verständigen können, sie mögen bei einer Wahl getrennt marschieren – das sind Fragen zweiten Ranges. Aber im Kampfe gegen die konzentrierte Kapitalsgewalt müssen und werden sie zusammenstehen. Eine grosse Massenaussperrung – und die heute hadern, werden an einem Tische beraten; die heute einander todfeind sind, werden sich in einer Organisation wieder vereinigen. Der Separatismus wird in der Geschichte der Arbeiterbewegung nur eine Episode sein. Not bricht Eisen. Sie wird auch den trotzigen Unverstand derer brechen, die sich einer unvermeidlichen Entwicklung widersetzen. Das ist kein Rühmen, ist kein Drohen, es ist der Geschichte ehernes Muss.

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Anmerkungen

1. Die lehrreiche Geschichte der grossen Bauarbeiteraussperrung sollte jeder gewerkschaftlich organisierte Arbeiter kennen. Sie ist ein sehr geeigneter Gegenstand für Vorträge in Gewerkschaftsortsgruppen. Alles notwendige Material finden die Vortragenden in der vortrefflichen Broschüre des Genossen Parvus über Die grosse Aussperrung und die Zukunft der Arbeiterkämpfe im Reiche“ (Dresden, Kaden u. Co., Preis 60 h) und bei Adolf Braun: Neue Erfahrungen im Gewerkschaftsleben, Der Kampf, III, Seite 515 ff.

2. Vgl. Branting, Der Massenstreik in Schweden, Neue Zeit, XXVII. Jahrgang, 2. Band, Seite 708 ff.

3. Branting, Am zwanzigsten Tage, Neue Zeit, XXVII. Jahrgang, 2. Band, Seite 807 f.

4. Frank H. Rose, The coming force, Manchester 1909, p. 92.

5. The Socialist Review, September 1910, p. 8, 9.

6. Physiognomie und Charakter der englischen Gewerkschaftskrisis, Soziale Praxis, 20. Oktober 1910.

7. Trotzky, Russland in der Revolution, Dresden 1909. Seite 61.

8. Die Aussperrungsperiode fällt in die Zeit der Auflösung der ersten Duma. Sie schwächt und entmutigt die Arbeiter und entzieht dadurch der zweiten Duma den Rückhalt in den Massen. Auf diese Weise trug hier die Unternehmerorganisation sehr viel zum Siege der Konterrevolution bei. Vergleiche Rapport du Parti Socialiste-Democrate Ouvrier de Russie au VIIIe congrès socialiste international, p. 94, 103 ss.

9. Ich habe schon in meiner Nationalitätenfrage den Versuch unternommen, die separatistische Bewegung aus der politischen Entwicklung Oesterreichs zu erklären. Im letzten Heft der Akademie reisst der Abgeordnete Hudec aus dieser Darstellung einen Satz heraus und missbraucht ihn dazu, den Anschein zu erwecken, dass ich vor drei Jahren noch ein Separatist gewesen sei. Er tut dies, obwohl ein ganzes Kapitel meines Buches dem Kampfe gegen den Separatismus gewidmet ist! Wer sieht, welches Spiel Hudec in demselben Artikel mit dem Begriff der nationalen Assimilation treibt, wie er immer wieder die Feststellung einer Entwicklungstendenz als die Aufstellung einer Forderung, eines bewusst angestrebten Zieles hinstellt, der wird sich freilich auch über jene Entstellung nicht wundern.

 


Leztztes Update: 6. April 2024