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Der Kampf, Jg. 3 11. Heft, 1. August 1910, S. 481–485.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Die grosse englische Revolution hat mit der Restauration der Stuarts geendet. Die grosse französische Revolution hat Napoleon Bonaparte auf den Kaiserthron gesetzt. Der Revolution von 1848 folgte eine zehnjährige Reaktionsperiode in ganz Europa. Jedem Sieg der Revolution folgte der Gegenschlag der Reaktion; immer mussten die reaktionären Gewalten zum zweitenmal besiegt werden, ehe die Völker die Früchte ihrer Revolution in ruhiger Entwicklung geniessen konnten.
Europa hat in den ersten Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts eine kurze Epoche schneller Entwicklung erlebt. In England brach die Herrschaft der Konservativen zusammen, der kleinbürgerliche Radikalismus, auf breite proletarische Massen gestützt, von dem alten Liberalismus wesensverschieden, eroberte die Staatsgewalt. In Frankreich hielt der antiklerikale Radikalismus das Staatssteuer mit starker Hand fest. In Russland triumphierte die Revolution über den zarischen Despotismus. In Oesterreich stürzten die Zwingburgen der Privilegien. In Ungarn gab die Regierung des Königs die Losung des allgemeinen Wahlrechts aus. Nur das Deutsche Reich blieb von der Welle der Demokratie unberührt.
In den letzten zwei Jahren hat sich das Bild völlig verändert. In Deutschland schwillt gerade jetzt die demokratische Flut mächtig an. In den anderen Staaten aber hat die Reaktion ihren Gegenzug mit Kraft und Erfolg geführt. In England hat in den letzten Wahlen der grossbürgerliche Imperialismus dem kleinbürgerlichen Radikalismus eine schwere Niederlage bereitet. In Frankreich besorgen die Demokraten von gestern die Geschäfte der sozialen Reaktion. Die russische Revolution ward in einem Meer von Blut ertränkt. In Oesterreich herrscht nach der kurzen Episode eines aus dem demokratischen Parlament geborenen Ministeriums wiederum die Bureaukratie und die seit 1848 immer wiederkehrende Koalition der historischen Nationen gegen die geschichtslosen ist wieder ihre Stütze. In Ungarn hat das Königtum mit den Feudalen wieder seinen Frieden geschlossen.
Unter dem mächtigen Eindruck der russischen Revolution, der ungarischen Krise, des siegreichen Wahlrechtskampfes in Oesterreich haben wir im Jahre 1907 unseren grossen Wahlsieg errungen.
Noch durften wir hoffen, dass die russische Revolution sich bald wieder emporrecken werde. Die Demokratisierung des slawischen Riesenreiches, die Befreiung Polens aus den furchtbaren Fesseln, das Erwachen der Ukraine aus Jahrhunderte währendem Schlafe würden, so hofften wir, auch für Oesterreich treibende Kräfte innerer Umwälzung werden. Heute wissen wir, dass auch Russland sein Jahrzehnt der Gegenrevolution nicht erspart bleibt. Der Zarismus triumphiert, die russische Reichsduma ist zum Werkzeug der blutbefleckten Reaktion erniedrigt, Polen und die Ukraine sind gefesselt, Finnland erliegt den Streichen der Gegenrevolution.
Noch war der Kampf zwischen dem König von Ungarn und der magyarischen Grundherrenklasse nicht beendet. Noch durften wir hoffen, dass aus dem Streit der beiden Mächte die Demokratisierung Ungarns hervorgehen, dass die Entfesselung der beherrschten Klassen und der unterdrückten Nationen Ungarns eine völlige Umwälzung des ganzen Staatengebäudes der alten Donaumonarchie einleiten werde. Heute wissen wir, dass die magyarischen Feudalen sich dem König von Ungarn unterworfen haben, damit die Königsgewalt nicht die Demokratie zu Hilfe rufe. Sie haben ihre nationalen Forderungen verraten, um nicht mit Bürgern, Bauern und Arbeitern, mit Deutschen, Slowaken, Rumänen und Serben die Macht teilen zu müssen. Der Sieg der Khuen und Tisza bedeutet, dass der König von Ungarn die Hilfe der Demokratie nicht mehr braucht.
Noch durften wir hoffen, dass der erste demokratische Reichsrat in Oesterreich den Faden wieder aufnehmen werde, der im Jahre 1849 dem revolutionären Reichstag entrissen worden ist. Eine Konstituante, eine Verfassung gebende Versammlung sollte das neue Parlament sein. Wir hofften so stark zu sein, dass nur noch der Bund der acht nationalen Bourgeoisien uns zu beherrschen fähig wäre; wir glaubten, die Bourgeoisien würden die Bedingungen eines dauernden nationalen Friedens schaffen müssen, um gegen uns vereinigt bleiben zu können. Heute wissen wir, dass wir geirrt. Das Regime Bienerth beweist, dass die soziale Opposition der Arbeiterklasse noch nicht so stark ist, dass die Regierung die nationale Opposition eines Teiles der Bourgeoisie nicht ertragen könnte. Mag das Bedürfnis, die Mehrheit, die die Regierung stützt, zu erweitern, noch so stark sein, so stark, so zwingend ist es nicht, dass es die Herrschenden bestimmen könnte, durch die revolutionäre Tat einer Umbildung unserer Verfassung die Bedingungen für den dauernden nationalen Frieden, für die dauernde Vereinigung der acht Bourgeoisien gegen das Proletariat zu schaffen. Das neue Parlament ist keine Konstituante, der Kampf der Nationen dauert fort, der Streit der Bourgeoisien verbürgt der Bureaukratie und ihren Auftraggebern ihre Macht.
Als unser Auswärtiges Amt den Bau der Sandschakbahn ankündigte, klatschten ihm die Demokraten in ganz Europa Beifall: dass sich Oesterreich auf dem Balkan wieder kräftig zu rühren wage, bezeuge, wie die Demokratie das Donaureich gestärkt, wie der Absolutismus Russland geschwächt hat. Heute wissen wir, was uns die verjüngte auswärtige Politik der Monarchie gebracht hat: die Abhängigkeit von den Händeln der kapitalistischen Grossmächte, die Annexion Bosniens mit ihren drückenden Wirkungen, die Vermehrung und Beschleunigung der Rüstungen zu Lande und zur See, die Erschwerung der Steuerlast, die Stärkung des Einflusses höfischer und militärischer Kreise auf unsere innere Politik und, da all das zusammenfiel mit dem Ränkespiel des Zarismus, das sich hinter der Maske des Neoslawismus birgt und dessen Verlockungen auch die österreichischen Slawen erliegen, das Wachsen des Misstrauens und der Abneigung der Herrschenden gegen die slawischen Nationen, wodurch die nationalen Kämpfe noch weiter verschärft wurden.
So sehen wir heute ein ganz anderes Bild vor uns, als wir im Jahre 1907 erwartet hatten. Gewiss wird auch diese Episode der Reaktion vorübergehen, wie alle vor ihr vorübergezogen sind. Aber sie kann nur überwunden werden, wenn grosse geschichtliche Ereignisse eine neue Bewegung in den Volksmassen Europas auslösen. Vorläufig müssen wir wohl mit der Dauer der politischen Stagnation für einige Zeit rechnen.
Für Oesterreich bedeutet diese Ruhepause der Geschichte vor allem die Fortdauer der nationalen Kämpfe. Wohl ist es nicht unwahrscheinlich, dass der Wunsch, für die Steuervorlagen, die Dreadnoughts und das neue Wehrgesetz eine leistungsfähige Parlamentsmehrheit zu finden, die Umbildung des Ministeriums herbeiführen und den parlamentarischen Nationalitätenkampf für einige Zeit etwas mildern werde. Aber jede Koalition der nationalen Bourgeoisien wird immer wieder durch die nationalen Gegensätze gesprengt werden, solange die Bedingungen eines dauernden Friedens nicht vorhanden sind, jedes Ministerium wird an den zahllosen ungelösten nationalen Problemen scheitern. Diese nationalen Probleme sind heute unlösbar; hat doch das Parlament nicht einmal die Errichtung der italienischen Fakultät in Wien beschliessen können, obwohl für sie die stärksten Notwendigkeiten der auswärtigen Politik sprechen und obwohl sie das Interesse keiner Nation bedroht! Die politische Stagnation in Europa bedeutet füi Oesterreich den Zustand des nationalen Gleichgewichts, den wir die negative Autonomie der Nationen in Oesterreich genannt haben: die Tatsache, dass die Regierung und das Parlament an die nationalen Probleme nicht rühren können, ohne die Gefahr der Obstruktion herbeizuführen. In einem Zustand, in dem die nationalen Forderungen anwachsen, fällig, überfällig werden, ohne doch ihre Erfüllung finden zu können, müssen alle nationalen Empfindlichkeiten geweckt, muss der nationale Hass gestärkt werden. Der Weg zum Frieden wird so völlig verrammelt. Und mag selbst die Bourgeoisie im Parlament diesen Weg suchen, wenn sie des fruchtlosen Kampfes müde wird, so wird sie sich ihn doch selbst sehr bald wieder ungangbar machen, da sie ausserhalb des Parlaments den Nationalismus nährt, der ihr die wuchtigsten Waffen gegen die Arbeiterklasse liefert.
Die Verschärfung der nationalen Gegensätze ist für die Arbeiterklasse Oesterreichs eine ernste Gefahr. Sie nimmt uns nicht nur die Hoffnung, der Arbeiterklasse im parlamentarischen Kampfe fruchtbare Gesetze zu erbeuten, sie schwächt nicht nur die Werbekraft der Sozialdemokratie, sie untergräbt den Bau der proletarischen Organisation selbst. Denn auch die Arbeiterklasse unterliegt dem Einfluss der Umgebung; was das ganze öffentliche Leben bewegt, kann das Bewusstsein der proletarischen Massen nicht unberührt lassen. So schleicht sich der Nationalismus auch in unsere Reihen ein. Wenn heute in den Gewerkschaften, in den Genossenschaften, in der Partei ernste Gegensätze zwischen den deutschen und den tschechischen Genossen auftauchen, so ist die gemeinsame Ursache aller dieser Erscheinungen die Tatsache, dass wir nicht stark genug waren und nicht stark genug sind, die proletarische Masse von dem Einfluss der nationalen Kämpfe und ihrer Ideologien völlig frei zu erhalten. Aus dem Sumpfland der politischen Stagnation dringen vergiftende Dünste in unser Lager. Innere Kämpfe in den Aktionsparteien waren stets eine Begleiterscheinung der Reaktionsperioden.
Der nationale Gegensatz in der Partei tritt als Streit um die Auslegung und um die Ausgestaltung des Programms in Erscheinung. So glauben denn viele Genossen, dass wir die inneren Kampfe überwinden können, wenn wir eine Einigung über die umstrittenen Forderungen herbeiführen und das Ergebnis einer solchen Einigung in einem ausgestalteten Nationalitätenprogramm zusammenfassen. Wenn nur unser Nationalitätenprogramm den Gesamtwillen der Partei über das Problem der nationalen Minderheitsschulen oder über das Problem der Sprache der Eisenbahnfahrkarten ganz unzweideutig ausspräche, dann wäre, so meinen manche Genossen, die Einheit der Arbeiterbewegung in Oesterreich gesichert. Nun ist die Arbeit an der Ausgestaltung unseres Nationalitätenprogramms zweifellos nützlich und notwendig; niemand wird uns das Zeugnis versagen, dass unsere Zeitschrift diese Arbeit gefördert hat. Aber anderseits darf diese Arbeit doch auch nicht überschätzt werden. Denn die Gegensätze innerhalb der Partei gehen weit weniger auf programmatische als auf taktische Meinungsverschiedenheiten zurück. Nehmen wir zum Beispiel an, es wären deutsche und tschechische Sozialdemokraten über die Forderung nach nationalen Minderheitsschulen vollständig einer Meinung, so wäre uns der Streit um die Resolution des Herrn Stanĕk, der die Gemüter so erregt hat, doch nicht erspart geblieben: denn den tschechischen Genossen erscheint diese Forderung so wichtig, dass sie auch dann für sie demonstrieren, auch dann sich zu ihr bekennen wollen, wenn solche Demonstrationen keinen anderen Erfolg haben können als den, die nationalen Kämpfe zu verschärfen; die deutschen Sozialdemokraten dagegen werden wohl für eine solche Forderung ihre Macht in die Wagschale werfen, wenn die Stunde ihrer Verwirklichung gekommen ist, sie werden aber nicht durch wirkungslose Demonstrationen den nationalen Kampf schüren wollen, der die Interessen des ganzen Proletariats so schwer schädigt. Selbst die vollständige Uebereinstimmung des Programms schlösse die verschiedene Bewertung seiner einzelnen Forderungen nicht aus. Darum glauben wir nicht, dass selbst das vollständigste und unanfechtbarste Nationalitätenprogramm die restlose Uebereinstimmung der Sozialdemokraten aller Nationen über alle Fragen des nationalen Tageskampfes herbeiführen könnte.
Die Arbeiter der historischen Nationen (Deutsche, Polen, Italiener) wünschen vor allem den nationalen Frieden, der für den Klassenkampf des Proletariats die besten Kampfesbedingungen schafft. Die Arbeiter der geschichtslosen Nationen (Tschechen, Slo wenen, Ruthenen) fordern vor allem das nationale Recht, das den geschichtslosen Nationen geben soll, was die historischen bereits geniessen. In der Stunde der Entscheidung werden wir einig sein können und hoffentlich einig sein: die Arbeiter der historischen Nationen werden ihre Macht für das Recht der geschichtslosen Nationen einsetzen können und einsetzen müssen, weil nur die Sicherung dieses Rechtes den dauernden Frieden verbürgen kann. Heute aber, da die politische Stagnation in ganz Europa auch in Oesterreich die revolutionäre Tat unmöglich macht, die uns den Frieden und das Recht zugleich bringen könnte, erscheint die fortwährende Wiederholung der Forderungen der geschichtslosen Völker den Arbeitern der historischen Nationen nur als Störung des Friedens, den sie brauchen, während die Arbeiter der geschichtslosen Nationen diese Forderungen ihres Inhalts wegen unterstützen zu müssen glauben. Diesen Widerstreit kann auch das vollkommenste Nationalitätenprogramm nicht restlos beseitigen; so wichtig uns die Arbeit an dem Ausbau unseres Nationalitätenprogramms zu sein scheint, so müssen wir doch mit der Tatsache rechnen, dass Meinungsverschiedenheiten über nationale Fragen unvermeidlich sind und trotz der Ausgestaltung des Nationalitätenprogramms unvermeidlich bleiben werden, solange die politische Stagnation einen einschneidenden Eingriff in die nationalen Rechtsverhältnisse unmöglich macht. Wer heute die Einheit der österreichischen Arbeiterbewegung davon abhängig machen will, dass wir über die letzte nationale Frage vollständige Uebereinstimmung erzielen, bringt unsere Einheit nur in Gefahr; wem sie am Herzen liegt, der muss dafür wirken, dass die Einheit des wirtschaftlichen und des politischen Befreiungskampfes der Arbeiterklasse erhalten bleibe, mögen auch ihre nationalen Armeekorps über einige nationale Fragen verschiedener Meinung sein.
In der tschechischen Sozialdemokratie gibt es zweifellos Genossen, deren Ziel die vollständige Absonderung der tschechischen Arbeiterbewegung ist. Sie heben immer wieder die vollkommene „Selbständigkeit“ der tschechischen Arbeiterbewegung hervor, sie halten jede gemeinsame Arbeit mit deutschen Genossen für ein Ueberbleibsel des „deutschen Despotismus“, der sich anmasse, sich um die Angelegenheiten der tschechischen Arbeiter zu kümmern, sie zerstören die internationalen Gewerkschaften und Genossenschaften und möchten demnächst auch den internationalen Verband im Abgeordnetenhaus zertrümmern. Das sind die Separatisten aus Prinzip. Ihnen steht eine andere Richtung gegenüber, die die Einheit der ganzen österreichischen Arbeiterbewegung wünscht; diese Genossen wünschen mit Recht, dass auch über die nationalen Fragen volle Uebereinstimmung zwischen den deutschen und den tschechischen Genossen hergestellt werde; aber sie gehen in ihrem Eifer so weit, dass sie die internationale Einheit für wertlos halten, wenn nicht die volle Uebereinstimmung über alle nationalen Fragen herbeigeführt werden kann, und immer wieder die Zerstörung der einheitlichen Partei für den Fall ankündigen, wenn jene Uebereinstimmung nicht erzielt würde. Und da sich nun Verschiedenheiten der Meinungen über nationale Einzelfragen immer wieder einstellen, bleibt von dem ganzen Bemühen, die vollständige Einheit der Partei herbeizuführen, nichts anderes übrig als fortwährende Drohungen mit ihrer Spaltung.
So arbeiten die um Šmeral, wohl wider ihren Willen, denen um Steiner in die Hände – der enttäuschte Internationalismus endet wider seine Absicht dort, von wo der grundsätzliche Separatismus ausgegangen ist. Vor solchen Irrwegen bewahrt uns nur die Erkenntnis, dass es heute, in einer Ruhepause der Geschichte, in einer Epoche der politischen Stagnation in Europa und der negativen Autonomie in Oesterreich, unvermeidlich ist, dass innerhalb der österreichischen Arbeiterbewegung verschiedene Ansichten über nationale Einzelfragen bestehen. Internationale Sozialdemokraten können diese Meinungsverschiedenheiten, deren Gegenstand untergeordnete Fragen von lokaler Bedeutung sind, die nur eines der vielen Interessen eines kleinen Teiles der Arbeiterklasse berühren, nicht so hoch werten, dass sie ihretwegen auf die Einheit des internationalen Klassenkampfes verzichten wollten. An die Spitze unseres Nationalitätenprogramms gehört der Satz: Der wirtschaftlidie und politische Klassenkampf der Arbeiterklasse ist einheitlich und untrennbar; in der Entscheidung über nationale Fragen bleiben, wenn und solange verschiedene Meinungen über solche Fragen bestehen, die nationalen Glieder der österreichischen Internationale autonom. Nur in dieser Weise können wir unsere Truppen in der Zeit des Ueberganges einig erhalten, damit sie am Tage der Entscheidung einig kämpfen und siegen.
Ich habe mich lange Zeit gegen diese Erkenntnis gewehrt. Ich halte auch heute noch diese nationale Autonomie innerhalb der Partei für einen unerfreulichen und nicht ungefährlichen Notbehelf. Aber wer dem parlamentarischen Kretinismus noch nicht völlig verfallen ist, wird es für ein geringeres Üebel halten, wenn bei der Abstimmung über ein paar Resolutionen, deren Ablehnung so bedeutungslos ist, wie ihre Annahme wäre, deutsche und tschechische Sozialdemokraten gegeneinander stimmen, als wenn ein ungeheurer Aufwand an Arbeitskraft, Wissen und Scharfsinn darauf vergeudet wird, auf alberne Fragen eine weise Antwort zu finden, und wenn dann, so oft sie nicht zu aller Zufriedenheit gefunden werden kann, die leidenschaftlichsten Erörterungen in der Parteipresse und in den Organisationen die nationalen Empfindlichkeiten in der Arbeiterschaft wecken. Von allen Schäden des nationalen Kampfes ist der schlimmste der, dass der Zank um die Sprachenfrage die grossen Sorgen der Arbeiterklasse stets aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt; wir können diesen Schaden nicht bekämpfen, wenn auch unsere Parteipresse, auch unsere Organisationen, auch unsere Vertretungskörper unablässig mit nationalen Fragen beschäftigt werden.
Uns dünkt, wir hätten heute wahrhaftig andere Aufgaben. Eine ganze Reihe wichtiger Fragen der Arbeiterschutzgesetzgebung ist durch die parlamentarische Arbeit des letzten Jahres in den Vordergrund gerückt worden. Es wäre heute unsere wichtigste Aufgabe, dafür zu sorgen, dass diese Fragen auf der Tagesordnung bleiben! In einer Reichskonferenz der Partei und auf dem Gewerkschaftskongress müssten wir ein sozialpolitisches Aktionsprogramm feststellen, das wohl den Achtstundentag für die kontinuierlichen Betriebe und für den Bergbau, den zehnstündigen Maximalarbeitstag für alle gewerblichen Betriebe, das Bäckerschutzgesetz, die Sonntagsruhe der Mühlenarbeiter, die Unfallversicherung der Bergarbeiter und die Abschaffung des Arbeitsbuches umfassen müsste. Diese Forderungen und das Verhältnis der bürgerlichen Parteien zu ihnen müssten in einem Flugblatt erläutert werden, das in ganz Oesterreich zu verbreiten wäre. Sodann müsste eine grosse Versammlungsaktion die parlamentarischen Bemühungen um die Durchsetzung dieser Forderungen unterstützen. Es ist nicht unmöglich, dass eine solche Aktion uns unmittelbare Erfolge bringen würde; bleibt sie erfolglos, dann würde sie doch die Parteien, die die Erfüllung dieser Forderungen verhindern, vor der ganzen proletarischen Oeffentlichkeit mit schwerer Verantwortung belasten. Eine solche Aktion, mit unserer alten Tatkraft durchgeführt, würde die Arbeiterklasse mit den wirklichen Gegenständen ihres Kampres beschäftigen. Wir haben wirklich der gemeinsamen Aufgaben genug, auch wenn wir über die Sprache der Eisenbahntafeln nicht ganz einer Meinung sind.
Die Vertiefung der sozialistischen Erkenntnis in den proletarischen Massen und der Kampf um die Erfüllung der proletarischen Tagesförderungen gegen die bürgerliche Welt darauf Deschränkt sich heute unsere Aufgabe. Die Stunde zu geschichtlicher Tat, die auf den Trümmern des alten Oesterreich ein neues Staatengebäude aufbauen soll, ist noch nicht da; dass sie nicht da ist, ist die tiefste Ursache unserer Schwierigkeiten, unserer inneren Kämpfe. Sie wird kommen. In England untergräbt der Imperialismus die feste Basis der ganzen englischen Politik. In Frankreich formieren sich die Armeen der Besitzenden und der Arbeiter zum Kampfe. In Russland glüht das Feuer der Revolution unter blutvermengten Asche. In Albanien und Mazedonien erstickt die jungtürkische Militärherrschaft nur mit Mühe den Brand, selbst das kleine Problem Kretas vermag der Scharfsinn der europäischen Diplomatie nicht zu meistern. Im fernen Osten gärt es unter den Völkern. Vor allem aber brandet im Deutschen Reich die proletarische Flut an dem Fels des festest gefügten kapitalistischen Staates immer mächtiger empor. Die Wolken sammeln sich. Es naht der Sturm. Braust er erst durch die Lande, dann kommt auch unsere Stunde. Wir mögen in den müssigen Tagen einer Ruhepause der Geschichte hadern; in der Stunde der Tat werden wir einig sein.
Leztztes Update: 6. April 2024