O. B.

Bücherschau

Nationalitätenfrage

(1. Juni 1908)


Der Kampf, Jahrgang 1 9. Heft, 1. Juni, S. 430.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Karl Danzer hat an viele Politiker und Gelehrte die Frage gerichtet, ob sie eine Verständigung der österreichischen Nationen auf der Grundlage der nationalen Autonomie für möglich halten und welche Wirkungen sie von einer solchen Verständigung erwarten. Die eingelaufenen Antworten wurden im Verlage Karl Konegen unter dem Titel Das neue Oesterreich veröffentlicht. Der Wert dieser Enquete leidet unter der ungeschickten Formulierung der Frage: Die nationale Autonomie ist durchaus nicht identisch mit der »Feststellung und Abgrenzung des gegenwärtigen faktischen Besitzstandes«; die »national-homogenen Volkstage« müssen nicht an die Stelle der Landtage, sie können auch neben sie treten; das Territorialprinzip und das Personalitätsprinzip sind nicht, wie Danzer annimmt, Gegensätze, sondern beide sollen einander gerade nach Renners Vorschlägen ergänzen.

Die Antworten der Politiker und Gelehrten lauten natürlich sehr verschieden. Die Tschechen und Polen sprechen gegen, die Ruthenen, Italiener und Südslawen für die nationale Autonomie. Bei den Deutschen zeigt sich eine beklagenswerte Verwirrung: Angehörige derselben Partei urteilen über die nationale Autonomie ganz verschieden. Unter den Christlichsozialen zum Beispiel vertritt Baechlé die nationale Autonomie auf Grund des reinen Personalitätsprinzips, Scheicher will ihr das Territorialprinzip zugrunde legen, Schraffl will beide Prinzipien kombinieren, während andere Christlichsoziale die nationale Autonomie überhaupt für »nicht diskutierbar« halten. Dieselbe Erscheinung zeigt sich auch bei den anderen deutschbürgerlichen Parteien. Während zum Beispiel der Agrarier Zuleger einige Grundsätze der nationalen Autonomie akzeptiert, hält sein Parteigenosse Ansorge sie für »sozialdemokratischen Fusel«. Man darf also wohl behaupten, dass die deutschen nationalen Parteien überhaupt kein einheitliches Nationalitätenprogramm haben. Viel erfreulicher ist das Urteil der Wissenschaft. Brockhausen, Delbrück, Kretschmayr, im wesentlichen auch Drtina setzen sich sehr energisch für die nationale Autonomie ein. Zögernder urteilen Rauchberg und Redlich. Eisenmann und Philippovich halten die Autonomie der Nationen nicht für durchführbar.

Auch einige Parteigenossen kommen in der Sammlung zu Wort. Die deutschen und italienischen Sozialdemokraten sprechen sich natürlich für die nationale Selbstregierung aus. Genosse Němec fordert das allgemeine und gleiche Wahlrecht für alle Vertretungskörper; auf der Grundlage der Demokratie werde die nationale Verständigung möglich sein, die anderen Fragen seien »ganz belanglos«. Genosse Modráček fordert die nationale Autonomie auf Grund des Territorialprinzips, aber er setzt hinzu: »Die personale Union würde sich sehr gut für die nationalen Minoritäten in anderssprachigen Gebieten eignen.« Die Kronländer werden noch lange bestehen und man müsse daher mit ihnen rechnen; aber »praktischen Wert für das kulturelle Leben der Nationen haben sie kaum. Nationalhomogene Selbstverwaltung würde allen Nationen mehr nützen«. Genosse Hornof erklärt, er akzeptiere »mit kleinen Aenderungen das Programm Renner«.

 


Leztztes Update: 6. April 2024