P. Axelrod


Berichte über den Fortgang der sozialistischen Bewegung

Slawischen Länder und Orient:
IV. Rumänien

(1881)


Aus Jahrbuch für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, II. Jg., Zürich 1881, S. 319–327.
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Die sozialistische Bewegung Rumäniens datirt erst aus neuester Zeit und befindet sich noch in den ersten Stadien. Allein die Thatsache überhaupt, dass in einem so rückständigen, abgelegenen Lande wie Rumänien Sozialisten auftauchen, kann für die Anhänger des Sozialismus als eine für das Schicksal dieser Lehre bedeutungsvolle Erscheinung nicht gleichgültig sein. Der kühnste Optimist dürfte sich kaum der Erwartung hingeben, dass die modernen sozialistischen Ideen auf einem Boden gedeihen könnten, dessen Elemente offenbar ungeeignet dazu sind. Die sozialistische Lehre ist aber von solch hinreissender Macht, dass sie sogar in Länder eindringt, denen es an den für die Entstehung des Sozialismus nothwendigen Elementen fast vollständig mangelt. Einige flüchtige Bemerkungen über die materielle und geistige Kultur Rumäniens werden diesen Gedanken näher veranschaulichen und zum Verständniss des gegenwärtigen Zustandes des Sozialismus in diesem Lande als Richtschnur dienen können.

Die ungeheuere Mehrzahl der einheimischen Bevölkerung betreibt die Landwirthschaft und zwar mit den primitivsten Mitteln. Es gibt Gegenden, wo die Bauern, sowohl nach der Einrichtung ihrer Wohnungen als auch nach ihrer Lebensweise überhaupt, eher Halbwilden als Bürgern eines zivilisirten Staates ähnlich sind. Ein sehr bedeutender Bruchtheil der Landbevölkerung ist besitzloses Proletariat, die Mehrzahl aber besitzt Grund und Boden als Privateigenthum, doch sind ihre Grundstücke meist so werthlos, dass die Mehrzahl der Kleinbauern fast in leibeigenschaftlichem Verhältniss zu den Grossgrundbesitzern steht. Durch Darlehen zu ungeheueren Wucherprozenten verstehen es diese, die ärmeren Bauern vollständig zu knechten, indem sie sich für die dem Bauern unerschwinglichen Zinsen persönliche Arbeit leisten lassen. Schulen gibt es in den Dörfern äusserst wenige. Ein äusserst niedriges Niveau der kulturellen Entwickelung und eine fast leibeigenschaftliche Abhängigkeit von den Gutsbesitzern – damit ist, wie gesagt, in kurzen Worten die Lage der ungeheuren Mehrzahl der rumänischen Bauerschaft gekennzeichnet.

Was die Industrie anbetrifft, so ist sie kaum im Entstehen begriffen und befindet sich dazu fast voll und ganz in den Händen von Juden, Oesterreichern, Griechen und Bulgaren. Mit einem Worte, eine National-Industrie im buchstäblichen Sinne dieses Wortes ist, wenn überhaupt, nur im dürftigsten Umfange vorhanden.

Dieser materiellen Kultur entsprechend ist auch das geistige Leben des Landes sehr unentwickelt. Auf eine Bevölkerung von fünf Millionen, Menschen gibt es im Ganzen zwei Universitäten – in Bukarest und Jassy – mit einem mangelhaften Lehrerpersonal. Das niedrige Niveau der geistigen Bedürfnisse charakterisirt sich dadurch, dass von den wissenschaftlichen Werken der berühmtesten Autoren etwa 60 Exemplare während einiger Jahre verkauft wurden. Es existiren keine periodischen wissenschaftlichen Zeitschriften, und nicht einmal in den beiden Residenzstädten finden wir eine öffentliche Bibliothek. Unter den Professoren giebt es keinen einzigen ächten Repräsentanten der fortgeschrittenen Wissenschaft.

Bei dieser inneren Rückständigkeit des Landes gewinnt die gefährliche Nachbarschaft des absolutistischen Reiches Alexander II. und Oesterreichs eine besondere Bedeutung. Der rumänische Staat kann gegenüber der Erringung politischer Selbstständigkeit seitens der benachbarten slawischen Stämme und deren Organisation zu Staatseinheiten nicht gleichgiltig bleiben. Die grösste Gefahr droht ihm selbstverständlich von Seiten Russlands, das sich bereits Bessarabien einzuverleiben wusste und seine eisernen Klauen stets bereit hält, um eines Tages ganz Rumänien an sich zu reissen. Theilweise zu diesem Zwecke, theilweise aus Furcht vor freiheitlichen Einrichtungen im benachbarten Staate, gibt sich die Regierung Alexander II. alle Mühe, jede geistige und politische Fortschrittsbewegung hier im Keime zu ersticken und organisirte zu diesem Behufe ein ganzes Spionagesystem mit dem russischen Botschafter an der Spitze. Der Konsul in Jassy unterhält sogar geheime Verbindungen mit der gestürzten Dynastie (Fürst Sturdza) und ihren reaktionären Anhängern, augenscheinlich in der Hoffnung, mit Hülfe eines Staatsstreichs Rumänien in ein grösseres Abhängigkeitsverhältniss zur russischen Regierung zu bringen.

Wenn wir nun die eben erwähnten Thatsachen in Betracht ziehen, so wird es uns nicht schwer fallen, im Voraus eine allgemeine Vorstellung vom Charakter der sozialistischen Bewegung in Rumänien zu gewinnen. Der ausschliesslich ländliche Charakter der Produktion, das Fehlen jeder Form des gemeinschaftlichen Besitzes an Grund und Boden und die unerhört niedrige Kultur, Alles das stellt einer rein volksthümlich-revolutionären, auf Ideale des modernen Sozialismus abzielenden Bewegung ausserordentliche Schwierigkeiten entgegen. Der Masse der rumänischen Bauernschaft wäre kaum etwas Anderes zugänglich, als die Parole eines Kampfes für eine neue Vertheilung des Bodens auf Grundlage des Privateigenthums. Ferner zwingt das Fehlen einer nationalen Intelligenz mit höheren geistigen Bedürfnissen, der Mangel einer Literatur, sowie der Bekanntschaft mit dem intellektuellen und sozial-politischen Leben der vorgeschrittenen Völker, die Sozialisten dazu, die Initiative in Angelegenheiten zu ergreifen, für welche westeuropäische Sozialisten nicht zu sorgen brauchen, da sie theils schon von früheren Generationen besorgt wurden, theils heute noch Gegenstand der Aufmerksamkeit einer Masse anderer Elemente sind. So müssen z. B. die rumänischen Sozialisten – um einen intellektuellen Boden zu schaffen, der überzeugungstreue Anhänger des Sozialismus zu erzeugen fähig wäre – sowohl in der Gesellschaft als auch besonders unter der Jugend, das Interesse am Wissen überhaupt anzuregen suchen, ein kritisches Verhalten zu den umgebenden Erscheinungen erwecken, die Aufmerksamkeit der Jagend auf ideale Ziele richten und rege erhalten. Die Sozialisten in Rumänien müssen daher besondere Mühe darauf verwenden, um der Jugend in populärer Form die naturwissenschaftlichen und sozialistischen Lehren der modernen Wissenschaft zugänglich zu machen; sie müssen, fast ähnlich wie die serbischen und ruthenischen Sozialisten, zur Schaffung einer vielseitigen nationalen Literatur die Initiative ergreifen. Wie man sieht, eine sehr komplizirte Arbeit.

Endlich muss die schon erwähnte Gefahr, welche Rumänien seitens der benachbarten Staaten, besonders seitens Russlands, droht, das Gefühl der nationalen Selbsterhaltung beständig in gespanntem Zustand erhalten, welches Gefühl von der Furcht vor den ins Land eindringenden ausländischen Elementen, die als Kaufleute und Industrielle die einheimische Bevölkerung auszubeuten wissen, unterstützt wird. Die durch eine solche Lage der Dinge in den Gemüthern erzeugten Extreme, wie Chauvinismus, rohe nationale Vorurtheile etc., stossen selbstverständlich bei den rumänischen Sozialisten auf lebhafte Opposition, aber auch diese werden kaum bald im Stande sein, sich selbst vollständig von dem Einflüsse der Verhältnisse, in denen das rumänische Volk zu anderen Völkern steht, unabhängig an machen.

* * *

Wir wollen nunmehr die Entwickelung und den gegenwärtigen Stand der sozialistischen Bewegung in Rumänien kurz darlegen. Auch hier, wie in Serbien, ist der Sozialismus von Russland aus importirt worden, und zwar hauptsächlich durch Vermittlung von Bessarabiern, die in den russischen Mittel- und Hochschulen ihre Bildung genossen hatten. Die erste Propaganda des Sozialismus in Rumänien wurde um das Jahr 1875 von einem Bessarabier, Subko-Kodreanu, Student der Petersburger medizinischen Akademie, in Angriff genommen.

Von der sozialistischen Gruppe, die den Wperjod (Vorwärts) herausgab, zur Herstellung eines regelmässigen Bücherimportes an die rumänische Grenze gesandt, weilte Kodreanu einige Zeit in Jassy, wo er mit einigen jungen Leuten Bekanntschaft schloss. Als er später von der russischen Regierung verfolgt wurde, siedelte er vollständig nach Rumänien über und liess sich in Bukarest nieder, indem er hoffte, dass es ihm infolge seiner rumänischen Abkunft und der Kenntniss der rumänischen Sprache gelingen werde, für die Lehre, der er sein ganzes Leben gewidmet, erfolgreich Propagaoda zu machen. Nachdem er in die medizinische Fakultät der Universität Jassy eingetreten, suchte er in der Studentenschaft Bekanntschaften anzuknüpfen, in der Hoffnung, eine Anzahl aus derselben auf seine Seite heranzuziehen. Bald aber wurde er mit Schrecken inne, dass es ungemein schwierig war, die Aufmerkaamkeit auch nur der Minderzahl seiner Kollegen nicht nur für sozialistische Ideen, sondern sogar blos für die geistige Bewegung der fortgeschrittenen Länder überhaupt zu gewinnen. Vottständiger Indifferentismus gegen Alles, was über den Kreis der materiellen Genüsse hinausgeht, ausschliessliches Trachten und Sorgen für eine glänzende Karriere – das war die Signatur der Studentenschaft, in deren Mitte der edle Subko-Kodreanu sich aufhielt. Ein schweres Stück Arbeit lag vor ihm. Und zu Alledem kamen noch beständige Entbehrungen und Nahrungssorgen. Nichtsdestoweniger gelang es ihm doch, unter der Masse der Bukarester und Jassy’er Studenten einige Personen zu finden, die, wenn sie sich auch die sozialistische Weltanschauung nicht voll und ganz aneigneten, doch wenigstens mit ihr sympathisirten und sich mit der sozialistischen Literatur bekannt zu machen anfingen. Unter diesen Wenigen gehörte einer noch zu denen, mit welchen Subko schon in den Jahren 1874–1875, während seines Aufenthaltes in Jassy, Bekanntschaft geschlossen hatte.

Einen wirklichen Wendepunkt im intellektuellen Leben der rumänischen Jugend bildete Subko’s Tod, der im Herbst 1878 erfolgte. Vor seinem Tode ersuchte Subko in Gegenwart von Zeugen seinen Freund und Gesinnungsgenossen, den Dr. Russel, man solle ihn ohne Assistenz eines Geistlichen begraben, um diesem Wunsche zu entsprechen, waren am Begräbnisstag die wenigen Freunde und Verehrer des Verstorbenen zusammengekommen, als kurz vor dem Leichenbegängniss einige Priester erschienen und verlangte, dass man es ihnen überlasse, die christlichen Zeremonien zu vollziehen. Dr. Russel, gestützt auf das Testament des Freundes, drohte ihnen ein wenig mit der Flinte, falls sie versuchen sollten, gewaltsamer Weise die Zeremonie zu verrichten. Die Priester entfernten sich, und die Freunde des Verstorbenen trugen selbst den Sarg nach dem Kirchhof. Kaum hatten sie ihn aber in’s Grab gesenkt, als die Priester in Begleitung eines Polizeibeamten und zweier Gensdarmen erschienen und, von diesen unterstützt, ihr Verlangen wiederholten, infolge dessen den Freunden des Verstorbenen nichts übrig blieb, als sich zu entfernen. Der Bischof des Jassy’er Kreises wusste den damaligen Senatsdeputirten Boeresku (gegenwärtig Minister der äusseren Angelegenheiten) durch ein Geschenk von 18,000 Franken zu veranlassen, dass dieser das Ministerium wegen des „Skandals“ interpellirte und forderte, dass Dr. Russel in Anklagezustand versetzt werde. Obwohl die Verfassung absolute Gewissensfreiheit garantirt, wusste Boeresku nichtsdestoweniger den Beweis herauszuklügeln, dass Vorgänge, wie das Begräbniss von Kodreanu, als Beleidigung des religiösen Gefühls zu betrachten seien und daher der Verfolgung unterliegen. Da aber der Ministerpräsident, Bratiano, erklärte, dass er seine Entlassung einreiche, falls man Russel gerichtlich verfolgen werde, so hatte die Sache keinen direkten Erfolg, dagegen wurde Russel das Recht entzogen, im Staatsdienst als Arzt zu füngiren.

Diese Angelegenheit, welche während eines ganzen Monats in den Zeitungen hin und her besprochen wurde, musste auch die Aufnerksamkeit der Jugend auf die Person und die Anschauungen des Verstorbenen lenken und rief in der Bukarester Jugend eine Art geistiger Gährung hervor. Was den Kraftanstrengungen des lebendigen Kodreanu nicht gelingen wollte, das brachten der Tod dieses überzeugungstreuen Sozialisten und die Vorgänge an seinem Grabe zu Stande: die geistige Apathie der Studentenschaft begann in merkbarer Weise einer geistigen Aufregung Platz zu machen. Eine von einem bessarabischen Emigranten verfasste Biographie Kodreanus, in welcher die feurige Liebe des Verstorbenen zum rumänischen Volke, seine rückhaltlose Ergebenheit für den Sozialismus, sein sympathischer Charakter, sowie der Eindruck der Manifestation am Grabe auf Freunde und Feinde seiner Ueberzeugungen geschildert wurden, vergrösserte noch diese Aufregung. In Bukarest allein wurden in wenigen Tagen 700 Exemplare der Biographie verkauft.

Diese Stimmung wurde von den Freunden Subko-Kodreanu’s (insbesondere von einem Bessarabier, der seine Ueberzeugungen durch den Kampf für dieselben in Russland und durch den Einfluss des direkten Verkehrs in der internationalen Arbeiter-Assoziation gestählt hatte) in Bukarest weiter unterhalten. Auch in Jassy benutzten Kodreanus Freunde die Sympathien für dessen Person zu propagandistischen Zwecken. Im Jahre 1879 beginnt man unter den Studenten eine Reihe von Vorträgen über verschiedene Fragen der Philosophie und des gesellschaftlichen Lebens mit vollständig sozialistischer Tendenz zu halten. Es bildet sich eine Art leitender Gruppe, eine Kasse wird gegründet, um französische and deutsche sozialistische Zeitschriften zu abonniren, die dann unter der lernenden Jugend verbreitet werden; für diejenigen, die der fremden Sprachen nicht kundig sind, werden Fragmente aus den interessanteren Artikeln oder letztere voll und ganz übersetzt.

Ein Hektograph wird benutzt, um Uebersetzungen von Lassalles Ueber Verfassungswesen und noch einiger anderer ausländischer Broschüren zu vervielfältigen. In gleicher Weise wurde ein Auszug aus Marx’s Kapital veröffentlicht. Ausserdem waren freie Uebersetzungen der Schlauen Mechanik und des Mährchens von den vier Brüdern [1] druckfertig gemacht worden. Endlich unternahm man im Herbst 1879 sogar die Herausgabe einer Zeitung Bessarabia.

Dieser Name sollte die Jugend an die Rumänien entrissenen Theile erinnern und macht somit den nationalen Gefühlen eine Art Konzession, um der neuen Zeitschrift gehörige Aufmerksamkeit zu verschaffen.

Schon im ersten Leitartikel wurde darauf hingewiesen, dass die Bessarabier sich trotz der russischen Regierung mit ihren Stammesgenossen wieder vereinigen wollten, wenn die Lage des Volkes in Rumänien in radikaler Weise gebessert werde. Die Redaktion erklärte es als ihre Aufgabe, nach und nach Aufschluss darüber zu geben, wie eigentlich diese Besserung des Volkswohlstandes zu verwirklichen sei.

Erschien nun schon der Name der Zeitung der russischen Regierung verdächtig, so gaben ihr die regelmässigen Artikel über Russland, die selbstverständlich für die Herrscher des benachbarten Reiches wenig schmeichelhaft lauteten, Veranlassung, auf dem Verbot der Bessarabia zu bestehen, was auch mit Hilfe der reaktionären Elemente in Rumänien vollständig gelang.

Die Bessarabia hatte im Ganzen nur drei Monate existirt, dennoch hat sie ihre Wirkung nicht verfehlt. Nicht nur in der Studentenschaft, sondern auch in der lernenden Jugend aller Mittelschulen begann es zu gähren.

Jetzt existirt, nach der Aussage der leitenden Gruppe, in jeder Lehranstalt ein Kreis von Leuten, die deutsche und französische sozialistische Schriften lesen und ihrerseits Propaganda machen. Ausserdem bestehen auch schon einige Verbindungen mit Personen aus Bauern- und Arbeiterkreisen. In Jassy besteht ferner ein polnischer sozialistischer Zirkel, der sich, da er in nahem Verkehr mit der dortigen Bevölkerung steht, einen gewissen Einfluss auf letztere ausübt. Wenn unsere Genossen in Jassy nicht zu rosig sehen, so gibt es daselbst, laut ihren Aussagen, über 100 tüchtige Sozialisten. In vielen Provinzialstädten sollen sich gleichfalls sozialistische Zirkel gebildet haben.

Ich bin in letzter Zeit nicht nach Bukarest gekommen; es wird aber von dort berichtet, dass die Zahl der sozialistischen Proselyten in merkbarem Maasse gestiegen ist. Vor wenigen Tagen ist unter dem Titel: Ein Brief an die Studenten eine Broschüre erschienen, in welcher der Jugend auseinandergesetzt wird, dass ausser der sozialischen Reorganisation jede andere Hilfe für das Volk bedeutungslos ist, bedeutungslos sein muss. Welcher Berufsthätigkeit der Mensch sich auch widmen möge, – der Medizin, der Jurisprudenz etc., ja sogar der wissenschaftlichen Forschung – dem Volke werde er direkt von keinem Nutzen sein, wenn er nicht voll und ganz zum Verkünder der Ideen des Sozialismus werde. Diese Broschüre hat einen tiefen Eindruck gemacht.

In Bükarest existirt ein Verein der Buchdrucker und die dortige sozialistische Gruppe trat mit einigen Mitgliedern desselben in Verbindung. Im Grossen und Ganzen aber stehen er und sein Organ vorläufig unter dem Einfluss einiger Arbeiter.

In etwa vierzehn Tagen soll in Bukarest eine sozialistische Rundschau wissenschatflichen Charakters: Das zukünftige Rumänien, erscheinen.

* * *

Vergleichen wir nun die Stellung der rumänischen Jugend vor etwa fünf Jahren, nicht nur zum Sozialismus, sondern anch zu ideellen Interessen überhaupt, mit ihrem gegenwärtigen Verhalten, so sehen wir, dass die Bemühungen einiger weniger Sozialisten nicht resultatlos geblieben sind. Man darf sich aber von den quantitativen Erfolgen und der Aussenseite der Resultate nicht täuschen lassen. Es muss noch die innere, so zu sagen, die qualitative Seite der Resultate in Betracht gezogen werden. In dieser Beziehung unterliegt es keinem Zweifel, dass die rumänischen Sozialisten noch viel an sich selbst und an ihren jungen Anhängern zu arbeiten haben werden, bevor sie eine wirkliche, überzeugte und organisirte Armee zum Kampfe für die sozialistischen Ideen darstellen werden. Gegenwärtig aber verdient, mit einigen wenigen erfreulichen Ausnahmen, das Kontingent der Leute, die sich als Anhänger des Sozialismus betrachten, kaum wirklich den Namen von Sozialisten überhaupt, und noch weniger den von Vorkämpfern des Sozialismus. Im Sommer 1879 stiess ich in Bukarest auf Leute, die zu den Sozialisten gehören und sich dabei öfters dahin äusserten, dass als Prüfstein der Ehrenhaftigkeit des Ministers Bratiano sein Verhalten zur Judenemanzipation in Rumänien dienen werde. Ihrer Meinung nach darf man den Juden keine bürgerlichen und politischen Rechte gewähren. Man sieht also, wie die obenerwähnten Interessen der nationalen Selbsterhaltung die Vorstellungen sogar der fortgeschritteneren Jugend verwirren. In Bukarest soll überhaupt die Mehrzahl der Sozialisten noch jetzt von nationalen Tendenzen durchdrungen sein, während sieh in Jassy wenigstens die leitende Gruppe von diesen Tendenzen gänzlich frei gemacht hat und es als ihre Aufgabe betrachtet, durch Wort und That dieselben zu bekämpfen. Aber auch abgesehen von der nationalen Frage, bleibt noch genug zu arbeiten, bis der moderne Sozialismus zur festen Ueberzeugung auch der Minderzahl der Elemente, die sich jetzt den Sozialisten angeschlossen haben, geworden sein wird.

Wo die sozialistischen Ideen in die Arbeitermassen eingedrungen sind, da ist ihre weitere Entwicklung durch diese Thatsache allein schon garantirt. Die persönliche materielle Lage des Arbeiters und die der Masse seiner Mitgenossen weckt in ihm das Klassenbewusstsein und die Empfänglichkeit für Ideen, die allerdings sehr kompliziert, für ihn aber doch konkret sind, da sie sich mit seinen natürlichen Bestrebungen zur Besserung seiner Lage im vollen Einklange befinden. Ganz anders gestaltet sich die Sache, wenn die den privilegirten Klassen angehörende Jugend den Zentralpunkt der sozialistischen Bewegung bildet. In diesem Falle hängt der Erfolg der Bewegung hauptsächlich vom Grade der theoretischen Vorbereitung und der Begeisterungsfähigkeit für ideale Bestrebungen ab. Die erste Bedingung steht in direktem Zusammenhange mit dem allgemeinen wissenschaftlichen Niveau im betreffenden Lande. In Deutschland und Frankreich sind sogar die offiziellen Schulen reichlich mit tüchtigen Lehrern und Denkern versorgt; aber ausser den offiziellen Gelehrten sind noch eine Menge von Leuten für den Fortschritt auf wissenschaftlichem Gebiete thätig. Infolge dessen sind in diesen Ländern bis in die Arbeiterschaft hinein diejenigen elementaren Begriffs von der Welt, vom Leben der Individuen und der Gesellschaft etc. verbreitet, die dem Sozialismus theils als Ausgangspunkt dienen, theils Grundbestandtheile seiner Lehre bilden. Sogar in Russland existirt eine werthvolle wissenschaftliche und periodische Literatur, die seit langer Zeit als Grundpfeiler der Entwicklung sozialistischer Ideen in der Jugend dient. In Rumänien aber fehlt, wie wir schon im Anfange erwähnt haben, dieser geistige Boden voll und ganz.

Infolge dessen stützt sich die sozialistische Propaganda nur auf einige Personen und die von den sozialistischen Gruppen Westeuropas veröffentlichten populären Broschüren so dass bei Weitem die Mehrzahl der Jugend nur mehr oder weniger fragmentarische Vorstellungen über die sozialistischen Ideen hegt, von einem logischen Ideensystem, das sich auf die Gesammtresultate der modernen wissenschaftlichen Philosophie der Natur- und Sozialwissenschaft stützt, ist nur bei sehr Wenigen die Rede. Berücksichtigt man dann noch den Mangel einer ernstlichen sozialistischen Unterlage und die spezifischen Eigenthümlichkeiten des in ökonomischer Beziehung zurückgebliebenen Landes, so wird man begreifen, wie oberflächlich die Hunderte von jungen Leuten, die sich heute in Rumänien als Anhänger des Sozialismus bekennen, seine Lehre erst kennen gelernt haben. Mir persönlich gelang es nur einen rumänischen Sozialisten in Jassy kennen zu lernen, der sich Dank seiner hervorragenden theoretischen Befähigung durch eigenes Studium die Resultate der europäischen Philosophie und Wissenschaft wirklich angeeignet hatte, und für den der Sozialismus eine logische Folgerung dieser Resultate, eine einheitlich organische Weltanschauung ist.

Aller Wahrscheinlichkeit nach wird der Sozialismus in Rumänien noch einige Zeit lang die Rolle eines Sammelplatzes für alle Elemente spielen, welche eine geistige und sozial-politische Hebung des Landes erstreben. Wie beispielsweise in Russland beinahe für die Dauer eines Jahrzehnts der Nihilismus, theilweise sogar der Sozialismus als Synonym der geistigen und moralischen Unabhängigkeit auftrat, bis endlich aus dieser allgemeinen Bewegung wahrhaft sozialistische Gruppen hervorgingen, so erscheint auch der Sozialismus in Rumänien heute als die Losung zur Fortentwickelung der besten Elemente überhaupt. Zweifellos werden sich hier unter der begeisternden Wirkung der sozialistischen Fahne sowohl tüchtige Gelehrte wie gediegene Schriftsteller heranbilden. Alle energischen, für eine Idee begeisterungsfähigen Elemente werden sich in kurzer Zeit der sozialistischen Fahne anschliessen. Inwieweit letztere schon gegenwärtig in Rumänien ab die allseitig treibende Macht erscheint, ist aus der Gährung zu ersehen, die sich zur Zeit in den Mittel- und Hochschulen vollzieht. Vor Kurzem kam in Fokschany ein Kongress von Studenten beider Universitäten zusammen, auf welchem Boden zu Gunsten des Volkes, des wissenschaftlichen Fortschrittes und für die Nothwendigkeit, die abgelebten Einrichtungen der Hochschulen mit vereinten Kräften zu bekämpfen, gehalten wurden. In Jassy findet eine energische Agitation gegen die Universitätsobrigkeit statt. Vor wenigen Tagen wurde auf einer, mittelst einer gedruckten Proklamation einberufenen Studentenversammlung der Beschluss gefasst, die Vorlesungen so lange nicht zu besuchen, als der reaktionäre und talentlose Rektor nicht abgesetzt sein werde. Dieser Beschluss sollte dem Ministerium telegraphisch mitgetheilt werden. Aehnliche Unruhen fanden auch in anderen Schulen statt. Sogar im Jassy’er Lyceum gaben die Schüler unter dem Titel Libre Penseur ein kleines hektographirtes Blatt heraus, dessen Inhalt Artikel über die Gottheit, über Kapital und Arbeit, über die Arbeiterfragen bilden. Die Redaktion erklärt es als ihre Aufgabe, die bestehende Ordnung und die Vorurtheile der modernen Gesellschaft schonungsloser Kritik zu unterwerfen.

In allen diesen Vorgängen spiegelt sich der Einfluss der geistigen und moralischen Bewegung ab, welche die sozialistische Propaganda unter der Jugend hervorgerufen hat.

Der Umstand, dass die Fahne des Sozialismus als Impuls erscheint, welcher die Jugend zur Kritik der bestehenden Zustände in Rumänien bewegt, wird zweifellos eine wichtige Bedeutung auch für die Periode haben, welche der Differenzirung der sich um diese Fahne gegenwärtig gruppirenden Elemente nachfolgen wird.

In Russland trägt jetzt noch Alles, was nur in der Wissenschaft und Literatur schlechtweg dem Fortschritt huldigt, den sichtbaren Stempel der demokratischen Ideen des Lowremenik [2] und seiner Anhänger an sich. Es ist sehr wahrscheinlich, dass auch in Rumänien der Einfluss des Sozialismus auf die progressiven Elemente des Landes überhaupt ein nachhaltiger sein wird.

Ausser einer ernsthaften theoretischen Unterlage fehlt der rumänischen sozialistischen Jugend noch ein wesentlich nothwendiges Element, um eine energische Gruppe von Kämpfern für die Volksinteressen bilden zu können, nämlich der hinreissende Enthusiasmus, die leidenschaftliche Hingebung für das als gut und gerecht Erkannte. Es ist sehr wahrscheinlich, dass unter der Jugend Elemente vorhanden sind, aus denen ebenso aufopferungsvolle Kämpfer für die Volkssache entstehen werden wie der serbische von den Regierungsagenten vergiftete Bogosawljewitsch einer war (s. Jahrbuch, II. Bd.). Vorläufig aber ist von einer so aufopferungsvollen Begeisterung für den Sozialismus, wie sie sich beispielsweise in den Jahren 1873–74 in der russischen Jugend zeigte, hier nichts zu bemerken; doch gibt es wenigstens jetzt schon Persönlichkeiten, welchen die Propaganda unserer Lehre ein unentbehrliches Bedürfniss geworden ist. Aber das trifft nicht einmal bei der Mehrheit derjenigen zu, die den Leitern der Bewegung nahe stehen. Es bedarf noch einer ganzen Reihe von Erfahrungen, bis ein fester Stamm prinzipientreuer überzeugter Sozialisten geschaffen sein wird, die jeglicher Opfer – Verzicht auf Karriere, Komfort etc. etc. – fähig sind im Kampfe für ihr Ideal.

Man darf sich der Hoffnung hingeben, dass ein solcher Aufschwung in der sozialistischen Bewegung Rumäniens in nicht allzuferner Zukunft eintreten werde.

Zum Schluss sei noch bemerkt, dass die Thätigkeit der Sozialisten in Bukarest und in Jassy in einer Beziehung verschieden ist: in der Residenz wirken sie ganz offen; in Jassy dagegen mehr oder weniger geheim. Es ist dies augenscheinlich auf den Einfluss des liebenswürdigen Nachbarn, des russischen Absolutismus, zurückzuführen. Bukarest ist von der russischen Grenze weiter abgelegen, die Vorwände für eine Einmischung der russischen Regierung in die inneren Angelegenheiten lassen sich also auch weniger leicht ausfindig machen. Jassy aber liegt nur eine Eisenbahnstunde von der Grenze entfernt und bildet ausserdem den Mittelpunkt der reaktionären mit der russischen Regierung sympathisirenden Elemente Rumäniens; deshalb lauschen auch hier die russischen Agenten eifersüchtig auf jedes Lebenszeichen der intellektuellen und moralischen Kräfte der Bevölkerung, indem sie in denselben einen gefährlichen Gegner ihrer Pläne auf Annexion Rumäniens und gleichzeitig einen Bundesgenossen der russischen Revolutionäre erblicken. In allerunverschämtester Weise und unter allen möglichen Vorwänden äussert die russische Regierung unausgesetzt ihre Unzufriedenheit mit dem angeblich viel zu toleranten Verhalten der rumänischen Regierung gegenüber der russischen Emigration, die angeblich mit den einheimischen Sozialisten in Verbindung stehe, und fordert frech die Verletzung der Verfassung, um die ihrem absolutistischen Regime feindlichen Elemente verfolgen zu können. Infolge dessen sind die Sozialisten in Jassy gezwungen, sich vor den Argusaugen der russischen Spione zu hüten.


Fußnoten

1. Die zwei wirksamsten und geistreichsten agitatorischen Broschürchen der russischen sozial-revolutionären Literatur.

2. Monatsschrift, an deren Spitze Tschernischewsky und Dobroljubow standen, und welche die Allarmtrommel zur Befreiung im Innern repräsentirte. – Anm. des Uebers.


Zuletzt aktualisiert am 20. September 2016