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Aus Jahrbuch für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, II.
Jg., Zürich 1881, S. 261–306.
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Die geringe Zeit, die mir für den Bericht über die sozial-revolutionäre Bewegung in Russland zur Verfügung steht, und der Raum, auf welchen ich diesen Bericht nothwendigerweise zu beschränken habe, veranlassen mich, nur einige wenige charakteristische Züge derselben anzuführen, nur auf diejenigen Seiten im modernen ökonomischen und politischen Leben Russlands Bezug zu nehmen, die von der Umgebung, welche den Charakter der Thätigkeit der sozialistischen Partei in Russland bedingt, ein Bild zu geben im Stande sind. – Aber selbst bei dieser Einschränkung fürchte ich, dass der Bericht unverhältnissmässig lang werden dürfte gegenüber den Berichten über die soziale Bewegung in Ländern, die bei weitem zivilisirter sind als Russland, und in denen der Sozialismus bei weitem festeren Boden gefasst hat. Indessen dürften es einige besondere Umstände rechtfertigen, dass der sozialistischen Bewegung in Russland besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Vor Allem ist in Betracht zu ziehen, dass ein militärisch-despotischer Staat, wie das Reich der Romanows, die fortschrittliche Bewegung der westeuropäischen Nationen gewaltig hemmen muss, dass somit die Vernichtung des Absolutismus in diesem Reiche und das Hineinziehen der von demselben unterdrückten Völkerschaften in die sozial-revolutionäre Bewegung der fortgeschritteneren Länder für die weitere Kulturentwicklung der Letzteren von äusserster Wichtigkeit ist. Von diesem Gesichtspunkte aus ist es für die Sozialisten anderer Länder gewiss von Bedeutung, die Ansichten und die Taktik der russischen Revolutionäre und die Bedingungen, die diese Ansichten und diese Taktik bestimmen, genauer kennen zu lernen.
Die russische sozial-revolutionäre Bewegung ist erst sehr kurze Zeit bekannt, so dass infolge der mannigfachen Lebensäusserungen derselben ihre eigentlichen Grundzüge bisher nur leicht angedeutet werden konnten. Da aber die eigenthümlichen Verhältnisse, unter welchen die russischen Sozialisten zu wirken hatten, ihr einen besonderen Charakter beilegen mussten, der den Sozialisten Deutschlands, Frankreichs etc. fremd und unbegreiflich ist, so konnten solche beiläufige Andeutungen über einige originelle Erscheinungen in der sozial-revolutionären Bewegung Russlands bei unseren westeuropäischen Genossen eher Missverständnisse bezüglich des wahrhaften Charakters unserer Bewegung erregen, als Aufklärung schaffen. Aus diesem Grunde halte ich es daher für unbedingt nothwendig, wenigstens in allgemeinen Umrissen, das Wesen und die Ursachen der besonders charakteristischen Züge unserer Bewegung zu erläutern, sowie die Anschauungen der bestehenden, oder richtiger, der gegenwärtig agirenden sozialistischen Fraktionen und deren Entstehung besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Es sind das Fragen, die von den Berichterstattern über die sozial-revolutionäre Bewegung anderer Länder eher umgangen werden dürfen, die aber eine Darstellung der russischen Bewegung innerhalb eines grösseren Zeitraumes nicht unbeachtet lassen darf. Eine Aenderung in den prinzipiellen und taktischen Ansichten vollzieht sich nämlich in den sozialistischen Fraktionen der fortgeschritteneren Länder aus naheliegenden Gründen nur sehr allmählig.
Anders dagegen in Russland. Wenn man unter dem Worte „Partei“ eine Kollektivität versteht, die auf Grund eines in prinzipieller und praktischer Beziehung vereinbarten einheitlichen Programms zusammengeht, so wäre die Bezeichnung für die sozialistischen Gruppen in Russland vorläufig kaum anwendbar, unsere Partei befindet sich im Prozesse der Bildung. Die Elemente, aus denen sie sich zusammensetzt, sind sehr beweglich und noch immer beschäftigt, aus Extremen und Widersprüchen heraus zu einem Programm zu gelangen, das vermöge seiner inneren Einheitlichkeit und seiner Uebereinstimmung sowohl mit den Ergebnissen des wissenschaftlichen Sozialismus, als auch mit den sozialen Verhältnissen Russlands der Propaganda und Agitation als fester Stützpunkt dienen könnte. Seit der Veröffentlichung des Artikels des Herrn P. L. im ersten Bande dieses Jahrbuches sind in den damals dominirenden Fraktionen so wesentliche Veränderungen sowohl in Betreff ihrer Zusammensetzung, als auch in den Programmfragen vor sich gegangen, dass wenn man diese Erscheinungen umgehen und die Hauptaufmerksamkeit auf die einfache Aufzählung hervorragender Ereignisse konzentriren wollte, dies nichts anderes hiesse, als die Leser in Bezug auf eine der wesenlichsten Seiten der sozial-revolutionären Bewegung Russlands in Unkenntniss zu lassen.
Um Missverständnissen vorzubeugen, will ich schon jetzt einer Gruppe Erwähnung thun, auf deren Betrachtung mein Bericht nicht eingehen wird. Diese Gruppe ist die der ukrajner Sozialisten, deren Organ die von M. Dragomanow redigirte Hromada ist. Die Motive, weshalb ich die Ansichten und die Thätigkeit dieser Gruppe nicht zu berühren gedenke, sind folgende: erstens unterrichten Dragomanow und seine Genossen das europäische Publikum selbst über ihre Anschauungen und ihre Thätigkeit (siehe Jahrbuch für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik und Révue Socialiste); zweitens müsste ich angesichts des Antagonismus eines Theiles der russischen und polnischen Sozialisten gegenüber dieser Gruppe auf die Untersuchung der differirenden Ansichten eingehen, was meinen Artikel bedeutend ausdehnen würde; drittens, und das ist der Hauptgrund, muss ich gestehen, dass ich mich nicht für kompetent halte, die streitigen Punkte zu entscheiden, da ich infolge sehr geringer Kenntniss der ethnographischen und ökonomischen Eigentümlichkeiten der Ukrajner den eigenartigen Standpunkt der ukrajnischen sozialistischen Gruppe weder kontroliren noch sorgfältig durchdenken kann. Indessen darf ich jetzt schon die Thatsache konstatiren, dass die meisten Gegner der Gründung einer speziell ukrajnischen sozialistischen Partei einzugestehen beginnen, dass wenigstens für die Bauernschaft die Schaffung einer kleinrussischen Presse nothwendig ist. Ebenso beginnt die Mehrzahl der russischen Sozialisten, die entschiedensten Gegner der Gruppe der Hromada nicht ausgenommen, anzuerkennen, dass für diejenigen Gebiete, die nach der ökonomischen Lage, den ethnographischen Eigenheiten und den Traditionen der Mehrzahl ihrer Bevölkerung sich unterscheiden, die Gründung besonderer Organisationen nothwendig ist. Was die ihr zugeschriebenen eng nationalistischen Tendenzen anbetrifft, die für sie von höherem Interesse sein sollen als die ökonomischen Fragen des Sozialismus, so wird der Richtigkeit oder Unrichtigkeit dieses Vorwurfs sich, wie nur scheint, erst nach dem Sturz des Absolutismus erweisen, sobald das Verbot einer Presse in kleinrussischer Sprache aufhören und ein regelmässigerer und offener Parteikampf ermöglicht sein wird. Ich persönlich glaube auf Grund dessen, was ich in den Veröffentlichungen der Hromada zu lesen und mündlich von den Repräsentanten dieser Gruppe zu hören bekam, dass diese Vorwürfe theilweise auf Missverständnissen, theilweise aber auch auf einigen Stellen der betreffenden Schriften beruhen, die wirklich die Bedeutung der nationalen Fragen zu hoch anschlagen. [1] Dieses Letztere ist aber einerseits durch die Polemik gegen Sozialisten anderer Richtung bedingt, andererseits wohl dem Eintritt solcher Elemente in die Reihen der ukrajnischen Sozialisten, die wirklich zu nationalistischen Tendenzen hinneigen. In dieser Beziehung theilen die ukrajnischen Sozialisten das Loob anderer Gruppen in Russland, die nolens volens mit dem Absolutismus rechnen und in ihren Reihen oder wenigstens um sich herum Leute dulden müssen, die eher zum politischen Radikalismus, als zum Sozialismus neigen.
Das ist Alles, was ich über die Gruppe der ukrajnischen Sozialisten sagen kann.
Wenn ich also im Berichte von der sozial-revolutionären Bewegung
in Russland spreche, werde ich damit diejenigen Elemente meinen,
welche zwar den verschiedensten Nationalitäten des Reiches
entstammen, nichtsdestoweniger aber aus verschiedenen Gründen ihre
Mitwirkung bei der Organisation der Presse nur der in grossrussischer
Sprache gehaltenen gewidmet und sich unter dem Namen der „russischen
sozial-revolutionären Partei“ in ein Ganzes vereinigt haben.
Eine der Haupteigenthümlichkeiten des modernen Russland besteht darin, dass es eine Uebergangsform aus der leibeigenschaftlich-absolutistischen Ordnung in eine neue Organisation des ökonomischen und politischen Lebens des Landes darstellt, ein buntes Gemisch von abgelebten, anwachsenden und solchen Elementen, von denen noch nicht genau gesagt werden kann, ob sie fähig sind, die weitere Entwicklung des Volkswohls zu fördern oder ob sie den baldigen Uebergang zu einer höheren Zivilisationsform nur hemmen. Jede Partei, die unter solchen Umständen wirkt, wird bewusst oder unbewusst, die mannigfachen sich einander durchkreuzenden Einflüsse einer solchen Umgebung in sich wiederspiegeln. Hier ist auch die Erklärung der unvermittelten Gegensätze bei Aufstellung von Programmen zu suchen, die wir in den Elementen der russischen sozialistischen Partei bemerken, sowie der auf den ersten Blick sonderbaren Erscheinungen, welche die Herren P. L. (erster Band des Jahrbuchs) und Pawlik (Bericht über die soziale Bewegung in der Ukrajne) erwähnen. [2] Da wir ausser Stande sind, diese Bedingungen hier ausführlich zu betrachten, so wollen wir uns nur mit der Aufzählung derselben begnügen.
Vor Allem darf der Umstand nicht vergessen werden, dass die thätigen und organisirten sozialistischen Gruppen sich bisher hauptsächlich aus Mitgliedern der privilegirten Klasse zusammensetzten und zwar grösstentheils aus der Studentenschaft. Im Anfange der siebziger Jahre aber bestand die sozialistische Avantgarde, wenn man sich so ausdrücken darf, im Ganzen aus einigen Dutzenden von Mitgliedern, die entweder den privilegirten Klassen schon angehörten oder sich verbreiteten, mittelst Universitäts- und anderer Diplome in diese Klasse einzutreten, und daher ihrer eigenen demokratischen Atmosphäre schon fremd waren. Diese Eigenthümlichkeit in der Zusammensetzung der sozialistischen Kontingente in Verbindung mit den sozial-politischen Bedingungen des Landes drückten der ganzen Bewegung einen eigenartigen Stempel auf.
Um sich herum einerseits nur die schrankenlose Willkür der Regierung, das zügellose Spiel der räuberischen Instinkte der Repräsentanten des alten Adels, sowie der ans Advokaten-, Industrie- und bäuerlichen Wuchererkreisen hervorwachsenden Bourgeoisie, andererseits aber in vollständiger Demoralisation begriffen, die Universitäten, die Semstwos (Landesvertretungen), die Gerichte, Städteverwaltungen, die Presse – kurzum eine ganze vom Streberthum, von knechtischster Unterwürfigkeit vor den Regierenden durchdrungene Gesellschaft; umgeben, sagen wir, von einer so dumpfen und verpestenden Atmosphäre, musste diese nicht zahlreiche und dazu zerstreute Jugend einen unüberwindlichen Hang empfinden, jedes Band mit dieser demoralisirenden Umgebung, mit allen ihren Verführungen und Privilegien zu zerreissen. Der Charakter ihrer Weltanschauung, sowie die an sie gelangten fragmentarischen Kenntnisse von der Internationale wiesen direkt auf die Bauern- und Arbeiterwelt, als auf die für ihre Ideen günstigste Sphäre hin. Angesichts der Bedingungen, unter welchen in Russland eine Propaganda im Volke stattfinden kann, bei dem Misstrauen, welches das Volk gegenüber den „Herren“ hegt, musste alsdann die Idee einer innigeren Vereinigung mit dem Volke nicht nur dahin führen, den Universitätssaal überhaupt zu verlassen, sondern auch der Befriedigung der einem entwickelten Menschen fast unentbehrlichen Bedürfnisse, der geistigen Vervollkommnung, die in den Augen des russischen Bauern ebenfalls ein Attribut „des Herrenstandes“ ist, zu entsagen. Von vornherein wurde aber diese Verzichtleistung auf die Wissenschaft nicht als ein für alle neubekehrten Genossen obligatorisches Prinzip betrachtet. Als aber die seitens der Pissarev’schen Propaganda der individuellen geistigen Selbstvervollkommnung, als des rationellsten Mittels zur Vervollkommnung Aller, auferzogenen Elemente begannen, dieses Schlagwort zum Deckmantel zu gebrauchen für ihren Indifferentismus gegenüber den unnatürlichen Missbildungen der umgebenden Wirklichkeit, sowie für ihre Bestrebungen, mittelst Diplomen eine glänzende Karriere zu machen, als sich ferner gegenüber dem Ruf, die Universität zu verlassen und in die Volksreihen zu treten, selbst sozialistische Stimmen zu Gunsten einer vorhergehenden streng-wissenschaftlichen Vorbereitung erhoben, da nahm das erwähnte negative Verhalten zur theoretischen Selbstvervollkommnung die extreme Form an, welche Herr P. L. erwähnt. Wie dürftig unser Wissen auch sein mag, sagten die Repräsentanten dieser Richtung, dem Volke wird Niemand auch nur soviel mittheilen. Es ist Zeit, in den Massen wenigstens diejenige Summe von Ideen und Begriffen zu verbreiten, die wir auf Kosten des Volkes erworben haben. Unter den modernen sozialen Verhältnissen dient die Wissenschaft hauptsächlich als Werkzeug zur Ausbeutung der Massen, und bei ihrer Unzugänglichkeit für die Letzteren wird die Erwerbung vieler Kenntnisse die geschichtlich entstandene unabsehbare Kluft zwischen uns und dem Volke nur noch vergrössern. Unsere Schuld gegenüber den Millionen der ausgebeuteten Masse ist so ungeheuer, und ihre Abzahlung so dringend, dass wir unmöglich länger säumen dürfen. Dieses Gefühl der Verantwortlichkeit für die Ungerechtigkeiten, welche die unterdrückten Massen im Verlaufe von Jahrhunderten erlitten, und das Bedürfniss, die Stunden der Väter am Volke zu sühnen, waren Ende der sechsziger und Anfang der siebenziger Jahre den besten Leuten Russlands so eigen, dass sie sich sogar in der damaligen leitenden legalen Presse wiederspiegelten. In den bekannten Historischen Briefen Mirtow’s, die, so viel ich mich erinnere, im Jahre 1868 erschienen und die Jugend seiner Zeit im besten Sinne des Wortes aufregten, sind eine grosse Anzahl von Seiten der Schilderung dieser unzählbaren Stunden der privilegirten Minorität am unterdrückten Volke gewidmet.
Einerseits also die Abneigung gegen die privilegirte Gesellschaft und das Verlangen, in dem Kreise, der den Idealen mehr entsprach, einen Halt zu finden, andererseits das leidenschaftliche Streben, dem Volke, dessen Unterdrückung die Grundlage der ganzen modernen Zivilisation bildet, zu helfen – das sind die Ursachen, welche im Verein mit dem Misstrauen des Volkes gegen die „Herren“ und den speziellen politischen Bedingungen der Propaganda in Russland zu Anfang der Bewegung grade im besten Theile der Studentenschaft das negative Verhalten zur ernsten wissenschaftlichen Selbstentwicklung hervorrufen musste.
Die gleichen sozial-ökonomischen Ursachen und die Ausnahmestellung dieser Handvoll, in dem umfangreichen Sumpf, der russische Gesellschaft heisst, zerstreuten Menschen erzeugten noch ein weiteres Extrem in der sozial-revolutionären Bewegung Russlands. Die unnatürlichen Lebensbedingungen in diesem Staate und das vollständige Fehlen energischer und organisirter Proteste seitens der Gesellschaft und des Volkes, die allgemeine knechtische Gesinnung der Ersteren und die schreckliche Stumpfsinnigkeit des Letzteren – das Alles musste das Bedürfniss in’s Leben rufen, einen neuen Typus von Leuten zu bilden und zu sammeln, eine Anzahl von Kämpfern, die vor keinerlei Hindernissen, vor keinerlei Opfern stehen bleiben, – von unerschrockenen Leuten, die nicht nur den Quälereien in den Händen des Feindes Stand zu halten (wozu Rachmetow im Roman Tschernischewsky’s sich vorbereitete), sondern auch zum offensiven Kampfe fähig sind. Dieses Bedürfniss war nun auch eine der Ursachen, welche die Extreme der sogenannten aufrührerischen Richtung erzeugten. Wenn sich die Leser nur einen Augenblick in die Lage der Handvoll russischer Sozialisten im ungeheueren Reiche Alexander II. hineindenken, so werden sie es begreifen, dass sich unter den Sozialisten das Bedürfniss fühlbar machte, eine solche Avantgarde von Kämpfern zu schaffen, die sich nicht fürchten würde gegen schreckliche Uebel – schreckliche Mittel anzuwenden, die fähig wäre, durch völliges Aufgehen ihres eigenen Daseins im Kampfe für die Volksinteressen und durch ihre unerschrockene Kühnheit eine Bresche in den gesellschaftlichen Indifferentismus zu legen und die Massen nach sich zu ziehen.
Die bekannte Begeisterung eines kleinen Theiles der russischen Sozialisten für den Krieg im Orient erklärt sich allerdings vor Allem dadurch, dass man durch persönliches Eintreten für die Freiheit der Slaven das Band zwischen den russischen Sozialisten und den besten Repräsentanten der betreffenden Nationen zu bekräftigen und auf diese Weise den Liebäugeleien Alexander II. und der Slavophilen mit den verwandten Völkern ein Gegengewicht zu verleihen suchte. Ebenso richtig ist aber auch, dass ein weiteres Motiv dieser Begeisterung das erwähnte Bestreben war, für Russland ein Kontingent unternehmender Organisatoren unmittelbar revolutionärer Handlungen zu schaffen. Die sozialistische Jugend, die nach der Herzegowina und Montenegro (wohlbemerkt, nur bis zur Theilnahme der Regierung am Kriege mit der Türkei) zog, glaubte, dass der Unabhängigkeitskampf auf dem Balkan dieses Kontingent ausarbeiten werde. Die Ursachen des eigenartigen Charakters der modernen sozial-revolutionären Bewegung in Russland werden noch deutlicher ausgesprochen werden, wenn wir von der Darstellung der Zusammensetzung der sozialistischen Gruppen zu der der sozial-politischen Bedingungen übergehen werden, unter welchen sie zu arbeiten hatten.
Nach der Zusammensetzung der Bevölkerung und nach der Beschäftigungsart derselben ist Russland vorwiegend ein Ackerbaustaat. Gegen neunzig Prozent der Einwohner gehören der ländlichen Bevölkerung an. Bei diesem Ueberwiegen der Bauernschaft und der Landarbeit ist es natürlich, dass der Schwerpunkt sozialer Reformen in Russland nur in den Agrarverhältnissen liegen kann. Die Majorität der russischen Bevölkerung (inklusive der Weiss- und Kleinrussen) besitzt das Land in Form von Gemeindeeigenthum oder hat sich wenigstens die Traditionen dieser Besitzform lebhaft bewahrt, ihr gilt nur die Arbeit für die rechtmässige Quelle des Eigenthums, und sie sieht daher einer baldigen Neuvertheilung des gesammten Grund und Bodens mit Ungeduld entgegen, indem sie die Privatgutsbesitzer als Usurpatoren des öffentlichen Eigenthums betrachtet. Wieder ein neues, sehr schwer wiegendes Motiv für die Verlegung des wesentlichsten Theiles der revolutionären Thätigkeit auf das Land. Hier stösst man aber auf neue Faktoren, die den revolutionären Gedanken nach einer ganz entgegengesetzten Seite hinlenken. Alle Völker haben nämlich die Phase des Gemeineigenthums an Grund und Boden durchgemacht; sie alle haben seinerzeit den Verzweiflungskampf für die Beibehaltung desselben gekämpft; trotzdem ist es überall schliesslich doch zu Grunde gegangen. Ja Karl Marx beweist ausserdem auf Grund der Theorie der organischen Entwicklung der menschlichen Gemeinwesen die innere Nothwendigkeit des schrecklichen Prozesses der Expropriation des Grund und Bodens der Massen, um der Bourgeoiszivilisation den Weg zu ebnen. Das russische Leben selbst bietet Erscheinungen genug, die auf die Unvermeidlichkeit der Vernichtung der Agrargemeinde und der Expropriation der Bauernschaft hinweisen. Angesichts aller dieser Thatsachen entsteht die für den aufrichtigen Menschen qualvolle Frage: Wenn dem so ist, wozu lebendige Kräfte für etwas einsetzen, das dem sicherem Untergang geweiht ist? Ist es nicht rationeller, sich auf andere, günstigere Elemente zu stützen? Der revolutionäre Gedanke wendet sich den Industriearbeitern zu. Zwar ist diese Klasse noch zu klein an Zahl für einen erfolgreichen Kampf, ihre Existenzbedingungen sind ihr selbst nicht klar, und es ist schwerlich darauf zu rechnen, dass sie unter solchen Bedingungen schon jetzt zum Mittelpunkt der sozial-revolutionären Bewegung werden könnte. Aber die westeuropäische Arbeiterbewegung mit ihren in steter Entwicklung begriffenen Theorien und Ideen, Alles kommt der lebhaften Einbildungskraft zu Hülfe, um ihr schon für die nächste Zukunft eine auf sozialistische Prinzipien sich stützende Arbeiter-Massenbewegung in Russland auszumalen. Und selbst wenn keine Hoffnung vorhanden sein sollte, von der Verlegung des Schwerpunktes der revolutionären Thätigkeit in die Kreise der Industriearbeiter schon in nächster Zukunft ernsthafte Resultate zu erringen, so ist sie doch immer noch besser, als die Sisyphusarbeit einer Agitation unter der Bauernschaft, deren ökonomische Existenzbedingungen der Vernichtung geweiht sind, und die infolge ihres Festhaltens an den alten Gewohnheiten und der Beschränktheit ihrer Begriffs unfähig ist, die sozialistische Weltanschauung sich zu eigen zu machen.
Man wird sich unschwer vorstellen können, dass eine solche Fragestellung in einem Lande, wo auf 95 Millionen Einwohner kaum eine Million eigentlicher Industriearbeiter angenommen werden darf, dass die Befürwortung eines solchen Indifferentismus in Bezug auf die vielen Millionen Bauern eine Opposition hervorrufen muss, und zwar eine um so leidenschaftlichere, je schärfer der ebenbezeichnete Standpunkt formulirt wird. ―
Endlich wollen wir noch einen Umstand andeuten, der die sozialistische Bewegung in Russland beeinflussen und die verschiedenen Elemente derselben von einem Extrem zum anderen verleiten musste. Es ist dies das unnatürliche politische System Alexander II., ein Absolutismus, der ein Gemisch von einer nach Zivilisation aussehenden Politur und rein barbarischer Eigenmacht in Bezug auf Alles, was mit Menschenwürde und Liebe zur Freiheit verwandt ist, darstellt. Wenn sich die Sozialisten im Anfange – einerseits unter dem Einflüsse der Ideen der westeuropäischen sozialistischen Bewegung, andererseits in der Hoffnung auf eine bevorstehende grossartige, auf eine radikale, ökonomische und politische Umwälzung abzielende Volksbewegung – zu den Fragen der politischen Freiheit im liberalen Sinne indifferent erklärten, so haben doch die späteren blutigen Verfolgungen der sozialistischen Jugend und ihrer Beschützer nothwendigerweise eine Reaktion nach der entgegengesetzten Richtung hin hervorrufen müssen. – Diese Reaktion zeigt sich mit besonderer Schärfe erst seit dem Erscheinen der „Narodnaja Wolja“; thatsächlich war sie aber viel früher eingetreten.
Mit Rücksicht auf den uns zur Verfügung
stehenden Raum wollen wir es bei diesen wenigen Andeutungen auf die
aussergewöhnlichen Verhältnisse, die eine Reihe von Gegensätzen
und Schwankungen in den sozial-revolutionären Gruppen unvermeidlich
erzeugen mussten, bewenden lassen, und nunmehr zur Charakterisirung
der beiden gegenwärtig wirkenden Fraktionen übergehen.
Es mag wohl sonderbar erscheinen, dass diese beiden Fraktionen, deren Ansichten über die gegenwärtigen Aufgaben der sozialistischen Partei Russlands so schroff auseinandergehen, in gerader Linie von ein und demselben Gruppe – zu der sich nur einige wenige andere Elemente gesellten, die aber ihrer bisherigen Richtung entsagten – abstammen. Wir meinen die Gruppe der unter dem Namen Narodniky (Narodnik – Volksthümler) bekannten Revolutionäre. Wir konzentriren aber unsere Hauptaufmerksamkeit nicht nur deshalb auf sie, weil die gegenwärtig noch aktiven Elemente hauptsächlich aus ihr hervorgegangen sind, sondern auch weil sie seit ungefähr 1876 als der Sammelpunkt der lebendigen Kräfte der sozialistischen Partei erscheint.
Soweit es sich nach einigen Bemerkungen P. L.’s beurtheilen lässt, identifizirt derselbe die Ansichten der Gruppe der Narodniky mit den Ansichten Bakunins (dargelegt in der Beilage zu Bakunin’s Staat und Anarchie) und nimmt augenscheinlich an, dass gerade die Propaganda Bakunin’s den Grund zur Richtung der Narodniky legte. Zweifelsohne haben einige sehr wesentliche Grundzüge seiner Propaganda auf die revolutionäre „Volksthümlerei“ Einfluss ausgeübt, aber der Einfluss Bakunin’s äusserte sich auch bei anderen Gruppen, die sich zur Volksthümlerei durchaus ablehnend verhielten, wie z. B. der Redaktion des Radbotnik (Arbeiter) [3], die P. L. aus Missverständniss zur genannten Fraktion zählt. Dasselbe kann von der Obschtschina gesagt werden, deren Redaktion sich aus einigen Resten der in den Jahren 1873–1874 bestandenen Federation von in den Städten Kiew, Odessa, Moskau und Petersburg wirkenden Zirkeln und der Gruppe „Rabotnik“ zusammensetzte. Die erwähnte Federation stellte in den Jahren 1873–1874 eine Uebergangsfraktion dar und verhielt sich zu den praktischen Ansichten Bakunin’s noch ablehnender, als Einige aus der Gruppe des „Rabotnik“. Trotz dieser Zusammensetzung ihrer Redaktion fand sich aber auch in der Obschtschina in prinzipieller Beziehung der Einfluss der Ideen Bakunin’s wieder. In eben solcher Weise nahm auch die Volksthümlerei einige Ideen Bakunin’s auf, und zwar Diejenigen, welche sich auf die revolutionär-pädagogische Bedeutung der kleinen Aufstände beziehen, im Uebrigen aber entwickelte sie sich hauptsächlich unter dem Einflüsse besonderer, rein lokaler Verhältnisse und unterschied sich in sehr wesentlichen Punkten von der Bakunistischen Richtung.
Die Volksthümlerei (Narodnitschestwo) ist vor Allem eine Reaktion gegen das zu abstrakte Verhalten zur umgebenden konkreten Wirklichkeit, gegen die einseitige Beurtheilung der Erscheinungen des russischen Lebens, lediglich auf Grund von Theorien und Ansichten, die sich organisch aus den Verhältnissen des westeuropäischen Lebens entwickelten, welche letztere in Rnssland sich vorläufig erst im embryonalen Zustande befinden. Die Jugend, welche in den Jahren 1873–1874 den Hörsaal verliess, um die sozialistischen Ideen im Volke zu verbreiten, hatte sich die neueren Ideen der Philosophie, der Naturkunde und der Soziologie mehr oder weniger gut angeeignet, es war eine Seltenheit, dass Jemand die Werke von St. Mill – besonders seine politische Oekonomie mit den Bemerkungen Tschernyschewsky’s – von Lassalle, Marx, Darwin, Spencer, Häckel, Vogt, Büchner und Buckle nicht gelesen hätte. Aeusserst gering aber war die Zahl derjenigen, die mit den Lebensbedingungen, mit der Geschichte, den Ansichten und Sitten des Volkes oder richtiger der Völker, unter welchen Propaganda oder Agitation zu entfalten beabsichtigt wurde, genau bekannt gewesen wären. Da aber neben der theoretischen Kenntniss des Landes auch die praktische Verbindung mit der Volksmasse fehlte, so konnten die unmittelbaren Resultate des „In’s Volk Gehen“ in vielen Beziehungen keineswegs erfreuliche sein; die allmälige Anpassung an den neuen Boden wurde noch dazu durch die politischen Verhältnisse der despotischen Monarchie äusserst erschwert, so dass eine sofortige Verbesserung der gemachten Fehler in vielen Fällen unmöglich war. Dank dieser Unkenntniss des eigenen Landes, begab sich die ungeheuere Mehrzahl der sozialistischen Jugend in’s Dorf, ohne klare Vorstellung sowohl über die Bedingungen und Mittel einer revolutionären Thätigkeit im Volke, als auch darüber, von welcher Art die von dieser Thätigkeit zunächst zu erwartenden Besultate überhaupt sein konnten.
Thatsächlich glaubten, mit wenigen Ausnahmen, sowohl die Anhänger der reinen Propaganda, als auch die ausschliesslichen Anhänger der Aufstände – an das Bevorstehen einer Revolution. Die Einen wie die Anderen zweifelten nicht daran, dass das noch bestehende Gemeineigenthum an Grund und Boden die Einführung der sozialistischen Ordnung unter Vermeidung des bitteren Reiches der kapitalistischen Produktion ermöglichen werde. Wenigstens hatten die Letzteren das unklare Gefühl, dass wenn einmal im Lande eine solche ökonomische Organisation bestehen blieb, welche nach Befreiung vom staatlichen Drucke sich allmälig in eine sozialistische Ordnung umzuwandeln fähig wäre, dass wenn einmal im Volksbewusstsein ein ökonomisches Ideal existirt, das zum Ausgangspunkt für die Einbürgerung der sozialistischen Ideen im Volke dienen kann, die Thätigkeit der Revolutionäre hauptsächlich auf die Organisation der Massen im Namen dieses volksthümlichen, in ein klares, konkretes Programm formulirten Ideals gerichtet sein müsse. Ihre Gegner indessen, die das Gemeineigenthum an Grund und Boden und die Ansichten des Bauernstandes über das Gemeineigenthum ebenfalls als den Eckstein der modernen revolutionären Bewegung Russlands betrachteten, hielten nichtsdestoweniger die Konzentration aller Kräfte der sozialistischen Jugend auf die Verbreitung sozialistischer Ideen unter den Bauern für die allein zweckmässige Handlungsweise. Das war ein Extrem und zwar ein solches, das sich zu den damals herrschenden Ansichten über die sozial-revolutionäre Bedeutung des in Russland beibehaltenen Gemeineigenthums an Grund und Boden im schroffen Gegensatze befand. – Die damaligen „Buntary“ (Anhänger der kleinen Aufstände) waren konsequenter; aber auch sie hatten bei Weitem keine klare Vorstellung von all den logischen und praktischen Konsequenzen ihrer Ansichten über das Gemeineigenthum, wie ihre Anschauungen von den dem Volke innewohnenden sozialistischen Instinkten und dergleichen Tugenden beweisen. – Als Lassalle die Forderungen des allgemeinen und direkten Wahlrechtes und der Staatshilfe für Produktivassoziationen als Basis für soziale Reformen aufstellte, hielt er sich ausschliesslich an die ökonomische Seite der Frage, ohne dieselbe durch Kombinationen mit anderen Ideen, z. B. von den Volkstugenden, Volksinstinkten etc. ihrer bestimmten Form zu entkleiden, und obwohl der Boden durchaus nicht durch eine vorhergegangene allseitige theoretische Propaganda vorbereitet war, obwohl die vorgeschlagenen Reformen dem Volksbewusstsein durchaus neu waren, hat Lassalle doch, seiner Ansicht von der sozial-politischen Bedeutung dieser Reformen getreu, den Weg der agitatorisch-organisatorischen Thätigkeit eingeschlagen.
Wie dem auch sei, beide Fraktionen hatten, obwohl in verschiedenem Grade, nur eine unklare Vorstellung von all den Folgen, die sich aus ihrer Ansicht von der sozial-revolutionären Bedeutung des in Russland noch bestehenden Gemeineigenthums an Grund und Boden und der Ansicht des Volkes vom Letzteren, als seinem rechtmässigen Eigenthnm, das die „Pany“ (Herrn) ihm weggenommen, ergeben. Ungeachtet des vollständig verschiedenen Verhaltens beider Gruppen zur Propaganda und zu den Aufständen, glaubte dagegen die Mehrzahl ihrer Mitglieder an das Bevorstehen einer Revolution, die eine vollständige Umwälzung der ökonomischen und politischen Einrichtungen Russlands, die endgültige Abschaffung des Staates und den Uebergang nicht nur des ganzen Grund und Bodens, sondern auch aller Fabriken in die Hände der sich in weitverzweigte Vereine federirenden Bauerngemeinden und Arbeiter-Produktivassoziationen zur Folge wohl haben würde. Nicht minder charakteristisch ist auch der Umstand, dass sogar die erbittertsten Gegner der Propaganda doch nichts als letztere getrieben haben, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil das nöthige Kontingent organisatorischer und agitatorischer Leute noch nicht herangebildet worden war. Sie predigten eine ganz neue Art von Thätigkeit, für welche die geeigneten Leute noch nicht vorhanden waren, und auch noch nicht vorhanden sein konnten.
Die Periode der Enttäuschung, die Herr P. L. erwähnt, liess nicht auf sich warten. Die Propagandisten wurden in den Erwartungen über die Erfolge ihrer Propaganda, die Buntary in ihren Plänen, beide Richtungen in ihrer idealistischen Auffassung des Volkscharakters enttäuscht. Die Propagandisten stiessen im Volke auf Unwissenheit und eine Menge von Vorurtheilen, welche sein Verständniss für die Ideen des wissenschaftlichen Sozialismus aufs Aeusserste erschwerten. An eine baldige Verbreitung dieser Ideen in der Masse der Bauernschaft konnte nicht mehr gedacht werden, und die Hoffnungen auf eine allgemeine Revolution auf Grund der Ideen der „Internationalen Arbeiter- Assoziation“ erwiesen sich als Hirngespinste. Andererseits sahen die „Buntary“ eine so eingeschüchterte, abgestumpfte und immer nur von aussen – vom Czaren oder überhaupt irgend einem Wunder – Hilfe erwartende, ihren eigenen Kräften so wenig vertrauende Masse vor sich, dass die Angabe, sie mit einem Schlage zur bewaffneten Erhebung behufs Konfiskation des in Staats- und Privatbesitz befindlichen Grund und Bodens und zur Bildung freier Gemeindeverbände hinzureissen, sich als ein bei Weitem schwierigeres Ding herausstellte, als es von vornherein schien, namentlich da Viele auf Erscheinungen, wie der Zerfall des Gemeindeeigenthums, Zwistigkeiten in den Gemeinden selbst und Antagonismus zwischen Dörfern und Bezirken stiessen. Unter dem Einfluss aller dieser Thatsachen machte sich die Nothwendigkeit geltend, die Thätigkeit der sozialistischen Gruppen den realen Bedingungen des Volkslebens genauer anzupassen, ein auf konkrete Thatsachen beruhendes Programm auszuarbeiten. Die Beantwortung dieser von den sozialistischen Gruppen selbst aufgestellten Fragen hing davon ab, welchen Gründen jede der Gruppen ihre Misserfolge und Enttäuschungen zuschrieb.
Nach einer langen Reihe innerer Kämpfe in jedem einzeln Kreise und zwischen den Kreisen unter einander bilden sich endlich zwei, von allen möglichen Schattirungen umgebene Fraktionen: die Narodnitschesskaja (dem Volke ergebene, volksthümliche) und eine Zweite, die keinen bestimmten Namen führt, deren Anhänger aber nach dem Redakteur des Wperjod (Vorwärts), Herrn Lawrow, Lawristy genannt werden, was übrigens, wie wir unten sehen werden, auf einem Missverständniss beruht. Die Erstere erklärte den geringen Einfluss der Partei auf das Volk aus dem Umstand, dass sie sieh ihm mit Theorien nahte, welche Verhältnisse zur Voraussetzung haben, die von den Lebensbedingungen der ungeheuren Mehrzahl der Bevölkerung des russischen Reichs wesentlich verschieden sind, Wir seien gewöhnt, unser Volk ausschliesslich durch das Prisma der westeuropäischen Zivilisation zu betrachten, denn unsere Erziehung beruhe hauptsächlich auf Anschauungen, welche die europäischen Gelehrten aus dem Studium der Geschichte und der Gegenwart der fortgeschrittenen Nationen gewonnen haben. Wir müssen uns vom Einflüsse dieser Theorien des Westens befreien und unsere Handlungsweise ausschliesslich den Ansichten und Gewohnheiten unseres Volkes anpassen, die in Folge eines langen geschichtlichen Prozesses tief bei ihm eingewurzelt sind, und denen gegenüber jede Propaganda so lange machtlos ist, so lange die ihnen zu Grunde liegenden ökonomischen und politischen Bedingungen nicht beseitigt sind. Vor Allem sei nothwendig, den Muth des Volkes, sein Vertrauen zu seinen eigenen Kräften zu heben, es zu aktivem, solidarischem Kampfe zu erziehen; zu diesem Zwecke aber müsse man sich vorläufig mit den Vorurtheilen des Volkes aussöhnen und, ohne sich von Theorien, der Anarchie z. B., binden zu lassen, die Fahne der Bewegung äussersten Falles sogar im Namen eines mythischen Wohlthäter-Zaren aufpflanzen. Im Jahre 1876 brachte auch wirklich ein Delegirter südrussischer Gruppen eine Broschüre zum Abdruck nach Genf, in welcher der Gedanke entwickelt wurde, dass man die Pseudonymität (ssamoswanstwo, fälschliche Annahme des Namens des Zaren), als ersten Impuls einer Volksbewegung in Anwendung bringen müsse. Da die Geschichte unserer Volksbewegungen an Beispielen erregenden Einflusses falschnamiger Agitatoren auf die Volksmasse reich ist, da andererseits eine sich einmal entladende Volksbewegung ein weites Feld für eine offenere und radikalere Propaganda eröffne, so sei darauf zu rechnen, dass die Bewegung schliesslich bis zur vollständigen Negation des Zarenthums gebracht werden würde. Die Redaktion des Rabotnik weigerte sich, in ihrer Druckerei die Broschüre herzustellen, und letztere ist daher auch nicht erschienen.
Während die einen Gruppen also zu solchen Ergebnissen gelangten, kam man in den Reihen der anderen Gruppen zu Schlussfolgerungen ganz anderer Art, die zwar in wissenschaftlicher Hinsicht sich sehr schön ausnahmen, sich aber vom ursprünglichen Standpunkt der Partei noch weiter entfernten, als die der neuen Fraktion der „Narodniky“. Das Gemeineigenthum an Grund und Boden müsse unvermeidlich in Russland vernichtet werden und der Bourgeois-Wirthschaftsordnung Platz machen. Die Unvermeidlichkeit dieses Vorganges werde durch Thatsachen aus der Geschichte anderer Völker und aus dem Leben unseres eigenen Volkes bewiesen. Die Wissenschaft selbst beweise endlich die innere Nothwendigkeit der Vernichtung der patriarchalischen Gemeinden, welche Nothwendigkeit daraus hervorgeht, dass Letztere (einerseits infolge der gegenseitigen Zwietracht, andererseits infolge der eingewurzelten Gewohnheiten und der patriarchalischen Lebensweise jeder Gemeinde für sich) unfähig seien, ein umfangreich organisirtes Gemeinwesen einzurichten. Die bäuerliche Gemeinde kann also nicht zum Ansgangspunkt der sozialen Bewegung in Russland dienen, und zwar aus zwei Gründen: Erstens ist sie eine schon im Zerfall begriffene Einrichtung, die unvermeidlich unter dem Andrang einer Masse ihrem Fortbestehen ungünstiger Umstände, untergehen wird, und zweitens ist sie eine reaktionäre Einrichtung, deren Grundlagen auf Gewohnheiten und Anschauungen beruhen, die mit den modernen wissenschaftlichen Ausführungen über Fortschritt und Zivilisation in direktem Widerspruche stehen. Für die Revolutionäre ist also in der Bauernwelt keine Arbeit vorhanden.
Ausser den Fragen des urwüchsigen, primitivsten Grundbesitzes, sei Nichts im Stande, die Bauern zur Thätigkeit zu begeistern. Da der Bauerschaft ökonomische, politische und geistige Gewohnheiten innewohnen, die von der patriarchalischen Ordnung des Gemeineigenthums unzertrennlich sind, so ist sie ausser Stande, die neue, sozialistische, auf dem Boden der kapitalistischen Produktion entwickelte Weltanschauung sich anzueignen. Es bleibt folglich nichts Anderes übrig, als das Zentrum der sozial-revolutionären Thätigkeit gleich den westeuropäischen Sozialisten in die Kreise der Industriearbeiter zu verlegen und die Interessen der Bauernschaft dem natürlichen Gange der Geschichte zu überlassen. [4] Der Wperjod indessen wies unermüdlich auf die der Gemeinde von Seiten des Staates und der jungen Bourgeoisie drohenden Gefahren hin, als auf einen Beweis, dass es nothwendig und die Pflicht und Schuldigkeit der Sozialisten sei, so energisch und so schnell wie möglich die Bauernschaft zu organisiren, um diesen Gefahren vorbeugen. Die oben charakterisirte Fraktion erhielt somit den Namen „Lawristi“ augenscheinlich nur deshalb, weil einige ihrer angesehenen Vertreter früher dem Zirkel angehört hatten, der die Zeitschrift Wperjod herausgab und verbreitete.
Der praktische Einfluss dieser Gruppe wurde ungefähr vom Jahr 1877 an immer schwächer und schwächer, und die Zahl ihrer Mitglieder ging – soweit es sich übersehen lässt – bedeutend zurück. Ein bedeutender Bruchtheil der Industriearbeiter steht in zu enger Beziehung mit dem Dorfe, als dass er für eine solche Propaganda Sympathie fassen könnte. Aber auch die besten Vertreter der rein industriellen Arbeiterkategorie würden es nicht vermögen, einen solchen Standpunkt gegenüber dem Schicksal so vieler Millionen Menschen einzunehmen.
Es muss auch noch hinzugefügt werden, dass sich die Gruppe der „Lawristen“ niemals durch Energie und Kühnheit ausgezeichnet hatte, sie war und bleibt in dieser Beziehung ein schwacher Konkurrent derjenigen Elemente, aus welchen die Fraktion der „Narodniki-Buntary“ hervorging. In der sozialistischen studentischen Jugend gelang es ihr nur sehr selten, Erfolge zu erzielen, weil das unmittelbare Gefühl derselben sich gegen die Propaganda des völligen Indifferentismus gegenüber der ungeheuren Mehrzahl einer Bevölkerung sträubte, die trotz dem mehrere Jahrhunderte wahrenden Drucke der Regierung und der Leibeigenschaft, trotz aller Unwissenheit doch von Zeit zu Zeit ihren Protest äussert und aus sich selbst eine Menge von Sekten in’s Leben ruft, von denen Viele in philosophischer Beziehung dem Rationalismus (der mit der materialistischen Richtung der modernen Wissenschaft nicht zu verwechseln ist) nahe stehen, und in sozialer Hinsicht die Unvereinbarkeit der bestehenden Ordnung mit den Ideen der Gerechtigkeit, der Brüderlichkeit und der Gleichheit proklamiren.
Die Reaktion gegen die einseitig kosmopolitische Beurtheilung der Erscheinungen des russischen Lebens wuchs und verbreitete sich gerade durch den Kampf mit der oben erwähnten Richtung immer mehr. Analog diesem Kampfe in revolutionären Kreisen entspinnt sich auch, nur unter anderer Form, in der legalen Presse ein Kampf um dieselben Fragen. Aus leicht begreiflichen Gründen kann ich hier die den revolutionären Fraktionen entsprechenden Richtungen in der legalen Presse nicht genauer angeben. Die Reaktion greift schliesslich so um sich, dass jede Tendenz, die praktischen Forderungen der speziell russischen Lebensbedingungen mit den Ideen des wissenschaftlichen Sozialismus und den Ergebnissen der westeuropäischen Arbeiterbewegung in Einklang zu bringen, als „Liebe zum Westen“ (Sapadnitschestwo = Westthum) verschrieen wird. Die Taktik Stjenka Rasins und Pugatschews, dieser bemerkenswerthen Volksagitatoren des 17. und 18. Jahrhunderts, wird den Revolutionären als nachahmungswürdiges Beispiel empfohlen. Als einziges Kriterium des revolutionären Werthes der Kampfesmittel wird das vollständige Uebereinstimmen derselben mit den volksthümlichen Idealen und Ansichten anerkannt. Das Interesse an der westeuropäischen sozialistischen Bewegung nimmt bedeutend ab, da die Erfahrungen der westeuropäischen Völker, sowie die aus ihrer Geschichte gezogenen Lehren gar keine praktische Anwendung für die sozialistische Bewegung in Russland haben können.
Gehen wir auf die Standpunkte beider Fraktionen genauer ein, so finden wir, dass dem der Ersten der Gedanke zu Grunde liegt, dass eine Anpassung der Thätigkeit der sozialistischen Partei an dem organisch sich vollziehenden objektiv-geschichtlichen Entwicklungsprozess überhaupt nothwendig ist; während die Andere von dem Gedanken ausgeht, dass das Programm der Sozialisten den historisch gewordenen Anschauungen und Idealen der ungeheuren Mehrzahl der Bevölkerung entsprechen müsse. Auf das gehörige Maass zurückgeführt und in weniger extremer Form ausgesprochen, erscheinen beide Standpunkte als sich gegenseitig ergänzende nothwendige Maassstäbe für jede Partei der Propaganda und des Kampfes.
Es ist gefährlich und auf die Dauer unmöglich, die unerbittliche Logik der Geschichte, die sich vom guten Willen einiger Hunderte von Leuten eben nicht lenken lässt, unbeachtet zu lassen; aber verfehlt wäre es auch, eine Organisation der Massen anzustreben, ohne das gegebene Niveau ihrer geistigen und moralischen Entwicklung, ohne ihre alltäglichen Interessen in Betracht zu ziehen. Aber bei den politischen Verhältnissen Russlands, bei dem Fehlen eines offenen Kampfes der Parteien, bei der Unmöglichkeit, die Streitpunkte in der Presse und in Versammlungen einer allseitigen Prüfung zu unterwerfen, war es schwierig, zu einem solchen synthetischen Schlüsse, wie der obenerwähnte, gleich von vornherein zu gelangen; die Periode des Schwankens zwischen den beiden Extremen musste länger dauern. In der ersten Nummer der Semlja i Wolja wird z. B. kategorisch behauptet, dass nur diejenige Partei eine Zukunft habe, welche die vom Volke gehegten Ideale zur Grundlage ihres Aktionsprogramm nimmt, wobei der Schreiber des Artikels augenscheinlich vergass, dass die Sozialisten Westeuropas anfangs (ja sogar jetzt noch) mit den republikanischen Idealen der verschiedenen Völker, mit den Sympathien des Volkes für alle möglichen sozialen Palliative – eiaNen erbitterten Kampf zu führen hatten. In den darauf folgenden Nummern desselben Blattes wurde übrigens eine andere Argumentationsweise gegen die ultra-westeuropäische Richtung in’s Feld geführt. Wir kommen darauf später noch zurück.
Während die Fraktion der „Narodniki-Buntary“ eine solche Macht erwarb, dass sie sogar im Stande war, ihre Richtung in Russland selbst sind vor den Augen des Gensdarmeriechefs durch Drucksachen zu propagagiren, beginnt sich in ihren Reihen ganz unbeabsichtigter Weise ein neues Element herauszubilden, das sich bald zu einer ganz selbstständigen Richtung entwickeln sollte.
Der organisirte Theil der Fraktion zerfiel in zwei Gruppen: in eine ländliche und eine städtische. Die Erstere bestand aus Leuten, die sich in irgend einem (übrigens umfangreichen) Distrikt in verschiedenen Berufsarten unter den Bauern niederliessen. Die städtische Gruppe setzte sich theils aus Leuten, die administrative Funktionen erfüllten, theils aus Propagandisten unter der privilegirten Jugend und den städtischen Arbeitern zusammen. Wie verächtlich sich auch viele Narodniki darüber äusserten, dass sich Sozialisten in den Städten aufhielten – die thatsächlichen Verhältnisse waren doch ausschlaggebend: das Bedürfniss nach einem besonderen Personale, das Pässe, Geldmittel, Zufluchtsorte und dergleichen zu besorgen hat; das Bedürfniss, die Reihen der Partei aus studentischen und Arbeiterkreisen zu verstärken, brachte es mit sich, dass ein gewisser Theil der Kräfte in den städtischen Zentren thätig sein musste. Und eben diese Organisationsmassregel, diese Eintheilung der Narodniki in zwei Gruppen, (der Verschiedenheit der Thätigkeitssphäre gemäss), wurde unter dem Einfluss verschiedener Umstände schliesslich zum Ausgangspunkt des Zerfalls dieser Organisation in zwei verschiedene Fraktionen.
Die städtische Gruppe, mit dem Regierungsmechanismus Alexander II. in viel näherer und unmittelbarerer Berührung, fortwährend unter den unmittelbaren Einflüssen der barbarischen Handlungsweise der Agenten der höheren Administration – sowohl gegenüber den schon Verhafteten, – den in den Gefängnissen, in den Zuchthäusern, in Sibirien sich befindenden, als auch gegenüber den sich bildenden Studenten- und Arbeiter-Zirkeln, kurz gesagt, unter den beständigen unmittelbaren Einflüssen der Regierungswillkür, – begann, den Regierungsagenten gegenüber aus der Defensive in die Offensive überzugehen. Die Gereiztheit gegen die Regierung und ihr weitverzweigtes Spionagesystem wuchs fast mit jeder Stunde, und geht, mit der Ermordung von Spionen beginnend, stufenweise in das System des sogenannten „rothen Schreckens“ über. Sich immer mehr für den Kampf mit Regierungsagenten und höheren Repäsentanten der Administration begeisternd, beginnt die städtische Gruppe der Nairodniki, ohne es selbst zu merken, die speziellen Bedürfnisse und die Nothlage der ländlichen Gruppe zu ignoriren; die Mittel and Kräfte werden immer mehr und mehr dazu verwendet, einen speziell regierungsfeindlichen Kampf zu organisiren, von der Terrorisirung ihrer Agenten anfangend bis zur Organisirung von Demonstrationen und Studentenunruhen. Diese ausschliessliche Begeisterung der städtischen Gruppe für den Kampf mit der Regierung auf Kosten der Thätigkeit der ländlichen Gruppe rief in den Reihen der Letzteren bald Unzufriedenheit hervor, welche Unzufriedenheit aber, genau genommeu, anfangs nicht in prinzipiellen Motiven wurzelte. Die städtiische Gruppe war mit einem eigenen politischen Programm noch nicht angetreten und hatte selbst noch kaum eine Ahnung von diesem Ausgange ihrer Taktik. Sogar in der Broschüre Tod für Tod waren dem politischen Radikalismus noch nicht, wie Herr P. L. meint, Konzessionen gemacht worden. Diese bei Gelegenheit der Ermordung Mesenzows veröffentlichte Broschüre erfuhr seitens Vieler, besonders der Emigranten, ganz falsche Deutungen und Vorwürfe. Genau genommen entwickelte sie indessen einen ganz rationellen Standpunkt über das Verhältniss der russischen Sozialisten zum modernen Regierungssystem.
Sie resumirt darin, dass es einer so barbarischen Regierung gegenüber, wie es die russische ist, keine anderen Kampfesmittel gibt, als die Terrorisirung ihrer Repräsentanten. So lange die Sozialisten, so zu sagen, keine bürgerlichen Rechte im russischen Staate besitzen, solange keine Einrichtungen getroffen werden, welche die Existenz der Bürger vor der zügellosen Willkür der Administration wenigstens einigermassen sichern, so lange werden die Sozialisten ihre Schläge gegen die höheren Würdenträger des Reichs, wie gegen eine Bande alleinherrschender Räuber, richten. Die in dieser Broschüre aufgestellten Forderungen hatten die Bedeutung von Vertragspunkten, die eine kämpfende Seite der anderen vorschlägt, nicht um die Feindseligkeiten einzustellen, sondern um ihren barbarischen, unmenschlichen Charakter abzuändern.
Freilich hatten sich in derselben Broschüre, infolge der Furcht, sie könne im liberalen Sinne gedeutet werden, auch Ausdrücke eingeschlichen, die eben zu fälschen Erklärungen Veranlassung gaben.
Im Leitartikel der ersten Nummer der Semlja i Wolja warnt aber derselbe Autor die Jugend, dass sie sich vom Terrorismus nicht zu weit hinreisen lassen möge, da Letzterer mit der sozialen Revolution, die ein Klassenkampf ist und die Organisation der unterdrückten Klassen voraussetzt, Nichts gemein habe.
Sei dem, wie ihm wolle, der weitere Verlauf des Kampfes in dieser Richtung brachte die städtische Gruppe schliesslich doch dahin, die Frage rein politisch aufzufassen. Allmälig tritt aus ihrer Mitte ein Element hervor, das sich dem System der Terrorisirung der Regierung am Meisten angepasst hat und sich, indem es die Leitung dieser Funktion nach und nach in seinen Hände konzentrirt, als „Exekutiv-Komite der russischen sozial-revolutionären Partei“ proklamirt. Die Prozesse des Jahres 1877 (der der „Fünfzig“ zu Moskau und der der „Hundertdreiundneunzig“ zu Petersburg) und der Prozess der Wjera Sassulitsch erregten in liberalen Kreisen besondere Sympathie für die Sozialisten, wie die Ermordung Mesenzows und Krapotkins, dieser zwei allgemein verhassten Petsönlichkeiten (der Erste als Gendarmeriechef, der Zweite als Organisator des Anfalls auf die Studirenden an Charkow [5]), die Neigung der erwähnten Kreise, mit den kühnen sozialistischen Terroristen in nähere Beziehungen antreten, noch yerstärkten. Das Exekutiv-Komite, das sich ausschliesslich in der Führung des gegen die Regierung gerichteten Kampfes übte und danach trachtete, diesen Kampf auf breitester Grundlage zu führen, durfte wiederum die Sympathien der Gesellschaft nicht gering schätzen; dazu war es noch einerseits materieller Mittel bedürftig, andererseits fühlte es sich, einer isolirten Regierung gegenüber, viel mächtiger. Die allmälige Annäherung des Exekutiv-Komites an die liberalen Elemente musste auch schliesslich in seinem Programm Ausdruck finden, um sich die Sympathien und die Mitwirkung der Letzteren noch besser zu sichern, musste man die Frage der liberal-politischen Reformen noch schärfer präzisiren. Obgleich nun die Semlja i Wolja thatsächlich in den Händen des Exekutiv-Komites sich befand, sah sich Letzteres schliesslich doch genöthigt, da sie einer ganzen Gruppe, in welcher Viele die Ansichten des Komites nicht theilten, als Organ diente, ein besonderes Blättchen des Exekutiv-Komites herauszugeben (dieses Blättchen war bereits rein politischer Tendenz, was nach dem Attentate Solowjows auf das Leben Alexander II. ganz klar zu Tage trat). Aber in dem Maasse, als sich daa Exekutiv-Komite immer mehr auf einen Kampf für liberal-politische Reformen einlässt, wachsen auch innerhalb der Organisation der „Narodniki“ die Meinungsdifferenzen ihm gegenüber, steigert sich in den sozialistischen Kreisen der Studentenschaft und der Städtearbeiter die Unzufriedenheit mit ihm. Im Frühling 1879 haben sich diese inneren Meinungsversehiedenheiten schon bedeutend zugespitzt, im Verlauf desselben Jahres werden einige Versuche gemacht, einen modus vivendi zwischen dem Exekutiy-Komite und der ländlichen Gruppe herzustellen und einer Zersplitterung durch gegenseitige Zugeständnisse vorzubeugen; zu Anfang des Herbstes aber wird auf dem zweiten Kongress dieser Fraktion (der erste hatte bereits im Sommer stattgefunden) die unvermeidliche Spaltung vollzogen – das Exekutiv-Komite schafft mit den sich ihm anschliessenden Elementen ein besonders Organ Narodnaja Wolja, deren Gegner – das Organ Tschornii Peredjel.
Den Lesern des Jahrbuches ist das Programm der Narodnaja Wolja bereits bekannt. [6] Sie werden sich erinnern, dass darin die Propaganda au Gunsten des Sozialismus und überhaupt die Verfolgung speziell sozialistischer Ziele in der Gegenwart als schädliche Vergeudung der Parteikräfte erklärt wurden. (Siehe erste Nummer der Narodnija Wolja.) Die Redaktion richtete deshalb an alle sozial-revolutionären Elemente den Ruf, ihre ganze Energie, alle ihre Kräfte auf einen Punkt hin zu sammeln, nämlich auf die Niederreissung der gegenwärtigen Regierungsorganisation und auf die Ersetzung derselben durch eine solche, welche die elementaren bürgerlichen Rechte, wie Rede-, Assoziationsfreiheit etc., garantiren würde. In den folgenden Nnmmem stellt sie ein vollständig konkretes Programm auf, in welchem die Einberufung des „Semskji ssobor“ (Versammlung der Landesvertretungen) die Hanptstelle einnimmt. Dabei wird in das Programm auch der Pnnkt wieder aufgenommen, dass die Propaganda und die Agitation unter den städtischen Arbeitern und der Bauernschaft zweckmässig und nothwendig sei. Der Einberufung des Semskji ssobor wird nicht nur eine politische, sondern auch eine sozial-revolutionäre Bedeutung zugeschrieben, da die Bauernschaft allein, infolge ihres numerischen Uebergewichts 90 % der Delegirten in die National-Versammlung schicken werde. Eine derartige Zusammensetzung der National-Versammlung würde den althergebrachten, vom russischen Staate, resp. von der russischen Regierung bisher unterdrückten Volksidealen den Triumph sichern. Noch einige Generationen und unsere Bourgeoisie ist so weit organisirt, dass sie im Stande sein wird, mit den Parteien des Volkes erfolgreicher zu kämpfen als die moderne Regierung, die vorläufig die einzige Ausbeuterin der Volksmassen bildet, ohne irgend eine beträchtliche Stütze in der Gesellschaft zu haben.
Die ersten drei Nummern der Narodnaja Wolja lassen bei sorgfältiger Lektüre folgende charakteristische Züge erkennen:
Die erste der erwähnten Eigenthümlichkeiten der Narodnaja Wolja findet ihren Grund darin, dass es ihr selbst unklar war, welche Stütze sie lieber wählen sollte. Sie möchte gern die liberalen Elemente der russischen Gesellschaft auf ihre Seite ziehen, fürchtet aber dadurch die sozialistische Jugend und die städtischen Arbeiter von sich zu stossen. Den Ersteren zu Liebe mnss das rothe Gespenst der sozialen Revolution aus dem Programm beseitigt werden; den Letzteren muss der Wink gegeben werden, dass die Fraktion der „Narodnaja Wolja“ keineswegs von der sozialen Revolution Abstand nimmt. Würden die Liberalen der neuen Fraktion hinlängliche Unterstützung leisten können, so wäre es auch möglich, die Tendenzen der sozial-revolutionären Gruppen ausser Frage zu lassen; aber unsere Liberalen sind mit seltenen Ausnahmen zu feig, es ist ihnen zu sehr um ihre Ruhe, Bequemlichkeit und um ihren Beutel zu thun, als dass sie für einen unerschrockenen Kampf, wie ihn das Exekutiv-Komite organisirt hatte, eine genügend feste Stütze abgeben könnten. Sowohl in der Bereitwilligkeit, Geldopfer zu bringen, als auch in der Hintenansetzung der eigenen persönlichen Sicherheit sind nun einmal die sozialistischen Elemente bisher unübertroffen; deshalb eben müssen ihre Sympathien und Tendenzen, die im Wesentlichen die der „Narodniki“ sind, in Rechnung gezogen werden. Daher kam es, dass in der zweiten und dritten Nummer der Narodnaja Wolja das Vernunftgemässe einer Thätigkeit im Volke, wenn auch nur einer auf Einberufung einer konstituirenden Versammlang abzielenden, anerkannt wird, und dass ferner Versuche gemacht werden, die liberal-politischen Forderungen mit den Anschauungen der „Naredniki“ über die sozial-revolutionäre Bedeutung der Bauern und ihrer Ideale, in einen logischen Zusammenhang zu bringen. Die ganze Taktik trägt den Stempel des äussersten Opportunismus; aber es wäre ungerecht, zu glauben, dass dieses System der Opportunität vorsätzlich und mit vollem Bewusstsein angenommen und gelhandhabt worden sei.
Die unter Ignorirung der in Westeuropa gemachten Erfahrungen in dem Glauben an einen unausbleiblichen Triumph der Volksideale wurzelnden Ansichten der „Narodniki“ steckten augenscheinlich noch stark in den Köpfen der meisten Mitglieder der Gruppe der „Narodniga Wolja“ und sind mit politisch-liberalen Bestrebungen verquickt worden. Die eingewurzelte Gewohnheit, mit Nachdruck unaufhörlich darauf hinzuweisen, dass die Entwickelungsverhältnisse Westeuropas und Russlands vollständig verschieden seien, erwies sich als ein sehr bequemer Ausgangspunkt für den Beweis, dass die Verlegung des Zentrums der sozialistischen Bewegung in die Sphäre der liberalen Politik – unter dem Namen der Staatsumwälzung – nützlich und nothwendig sei. Es habe sich herausgestellt, dass bei uns zwischen dem Volke und der Regierung keine gesellschaftlichen Zwischenschichten vorhanden seien, die zum organisirten Kampfe mit den sozial-revolutionären Elementen fähig wären, unsere Bourgeoisie werde nur vom Staate erzeugt und würde beim Untergang desselben (d. h. des modernen Regierungssystems) ohnmächtig die Herrschaft dem Volke überlassen. Demzufolge müsse auch von nun an die Parole des russischen Sozialismus die sein: Uebergabe der Herrschaft aas den Händen der jetzigen Regierung in die Leitung einer konstituirenden Versammlung, welche unbedingt volksthümlich sein werde. ―
Verweilen wir nunmehr ein wenig beim Programm des Tschornii Peredjel, soweit es in der ersten Nummer seinen Ausdruck fand. Die wesentlichen charakteristischen Punkte desselben sind in drei Artikeln enthalten, von denen einer Tschornii Peredjel betitelt ist. In demselben wird der Sinn dieser zwei Worte – die die leidenschaftliche Sehnsucht des Volkes nach einer neuen Vertheilung des ganzen Grund und Bodens auf gerechten Grundlagen ausdrücken – und das Verhältniss der sozialen Ideale des Volkes zu den sozialistischen oder kollektivistischen Idealen gründlich klargelegt. Der Verfasser erkennt die letzteren als das A und O des Fortschrittes in ökonomischen Dingen an, glaubt aber, dass die Anfänge einer Entwickelung nach der Richtung des vollen Kollektivismus im Gemeineigenthum gegeben seien. Deshalb sollten die russischen Sozialisten mit allen ihren Kräften dahin wirken, dass die dem Gemeineigenthum feindlichen Elemente beseitigt werden und eine naturgemässe Entwickelung desselben angebahnt werde. Das Maximum der gegenwärtig möglichen ökonomischen und folglich auch der sich ihnen wie Folge zur Ursache verhaltenden politischen Reformen sei darin gegeben. Nur indem wir die Institution des Gemeineigenthums in allen ihren Formen vertheidigen, können wir einen festen Boden auch unter den Bauern gewinneo, und diese Erkenntniss macht uns von selbst zu „Revolutionären – Narodniki“. Von diesem Satze ausgehend, formulirt der Artikel die Aufgaben mid Pflichten der sozial-revolutionären Partei in folgender Weise:
Möglichst baldige Zerstörung der im Volke allgemein verbreiteten Idealisirung des Zarenthums, Aufklärung des Volkes über die nothwendigen Folgen der vom ihm erwarteten agrarischen Umwälzung. Jede Gelegenheit benutzend, um das Volk zur selbständigen Thätigkeit zu erziehen, um es mittelst Propaganda durch Wort und That über den wahren Werth sowohl der gegenwärtig bestehenden als der von der Zukunft erhofften sozialen Verhältnisse aufzuklären, muss die sozial-revolutionäre Partei das Volk dahin bringen, dass das passive Erwarten des Tschornii Peredjel (schwarze Vertheilung, Vertheilung des Bodens) von oben in die active Forderung von „Land und Freiheit“ (Semlja i Wolja) von unten umgewandelt werde.
Dieselben Gedanken drückt auch der andere Artikel aus. Nur dass hier zwei Fragen kategorisch gestellt werden:
Die Erläuterung dieser beiden Fragen müsse eine der wesentichsten Aufgaben des Tschornii Peredjel sein. Der Artikel befasst sich hauptsächlich mit der zweiten Frage. Der Verfasser entwickelt zunächst, dass jeder Partei, welche die soziale Revolution im Interesse des Volkes und im Einklang mit den Ansichten und Idealen der Volksmasse auf ihre Fahne schreibt, die Bezeichnung des Narodnitschestwo (Volksthümlichkeit) beigelegt werden könne, welcher Name aber an und für sich noch absolut keine Vorstellung vom Charakter der bevorstehenden Umwälzung gäbe. So würde beispielsweise, wie s. Z. im alten Rom, heute im modernen Irland eine agrarische Umwälzung im Sinne der Volksansichten nur zu einer Wiedervertheilung des Eigenthums führen, ohne aber ein neues Prinzip in die Bewirthschaftung des Bodens hineinzutragen. In Russland aber, wo die Obschtschina (das Gemeindeeigenthum) die weitestverbreitete Form der bäuerlichen Eigenthumsinstitutionen bildet, würde eine agrarische Umwälzung zum Triumphe des höchsten Prinzipes der Eigenthumsverhältnisse führen, nämlich zur vollständigen Beseitigung der individuellen Ausbeutung den Bodens zu Gunsten der kollektiven. Infolge dessen sind die Sozialisten, wenigstens in dem Programmabschnitt, der die Grund- und Bodenfrage betrifft, die ächten Vertreter und Vorkämpfer der Volksbestrebungen und können sich mit vollem Rechte, ohne auf ihre wissenschaftliche Weltanschauung zu verzichten, revolutionäre Narodniki nennen, Narodniki in der besten Bedeutung dieses Wortes, d. h. ohne jegliche Beimischung reaktionärer Tendenzen. Die Gesellschaften, in denen Privateigenthum an Grund und Boden und industrielle Produktion herrschen, mit denjenigen vergleichend, wo (wie in Russland und, wenigstens bis zur Eroberung durch die Engländer in Indien) Gemeineigenthum an Grund und Boden überwiegt, kommt der Verfasser zu dem Schlusse, dass, um zum Kollektivismus überzugehen, die Ersteren das Fegefeuer der kapitalistischen Produktion passiren müssen, während die Letzteren sich unter günstigen Umständen organisch zu einer kollektivistischen Organisation entwickeln können. Schon der Charakter des Bodenbesitzes und der Arbeitsinstrumente verhindert die Ersteren, die Produktion auf kollektivistischer, die Sozialisirung der Produktionswerkzeuge voraussetzender Grundlage zu organisiren; während bei den Gesellschaften letzterer Art das Prinzip der Assoziation aus der Sphäre des Bodenbesitzes auf die Industrie übergeht, wie es die Beispiele Russlands and Indiens zu der Zeit bewiesen, wo es einzelnen Personen noch nicht gelangen war, mit Hülfe des Staates Ländereien, Wälder, Bergwerke, Fischereien u. Dgl. m. zu monopolisiren. Allerdings ist der gegenwärtige Zustand des Ackerbaues in Russland angesichts seiner noch in Anwendung kommenden Arbeitswerkzeuge der Entwicklung einer gemeinschaftlichen Exploitation der Aecker nicht günstig. Allein wenn die Bauern jetzt schon bei dem Heuen der Wiesen, bei Abholzung der Wälder, bei dem Bau von Kanälen and bei der Trockenlegung von Sümpfen Kollektivarbeit in Anwendung bringen, so unterliegt es keinem Zweifel, dass mit dem Grade der Zunahme der Bevölkerung und des Bedürfnisses nach intensiverer Wirthschaft die nothwendige Folge des Prinzips des Gemeineigenthams an Grand und Boden, die Sozialisirung des Ackerbaaes unter Zuhilfenahme vervollkommneter Geräthe eintreten werde. Das auf den gesammten Grund und Boden ausgedehnte und dem zerstörenden Einflüsse des Staates entzogene Gemeineigenthum liefert an sich bereits den Keim, aus welchem sich die sozialistische Ordnung organisch entwickeln werde; die russischen Sozialisten können daher die ökonomischen Forderungen des Volkes mit ruhigem Gewissen zum Losungswort ihrer eigenen Agitation bestimmen.
Es entsteht nunmehr die Frage, wie diese Forderungen zu verwirklichen? Die Narodnaja Wolja schlägt vor, die Kräfte darauf zu konzentriren, dass eine Staatsumwälzung vorbereitet und durchgeführt, und die Regierung einer konstituirenden Versammlung übergeben werde.
Was stellt der Tschornii Peredjel diesem Vorschlag gegenüber? Wenden wir uns zum Briefe an die früheren Freunde:
„Das ganze System der politischen Verschwörungen, der Erlangung der Regierungsmacht, das von den Jakobinern im Jahre 1789 in Gang gebracht wurde kann als Beispiel dafür dienen, wie schwankend, von wie wenig Bestand die politischen Umwälzungen sind, die sich von oben ‚im Namen des Volkes‘, aber ohne Initiative desselben vollziehen ...
„Die besten Männer Westeuropas haben den Sozialismus, in dessen Namen sie die Massen organisiren und vorbereiten, zur Losung genommen; sie erstreben die Organisirung der ökonomischen und sozialen Verhältnisse mit Hülfe des Volkes und durch das Volk selbst.
„Die politische Freiheit verdammen wir nicht absolut, machen sie aber von einer vorausgegangen revolutionären Thätigkeit im Volke abhängig.“
Die Richtigkeit dieses Satzes in Bezug auf Russland geht daraus hervor, dass es in demselben keine Gesellschaftsklassen gibt, die ein leidenschaftliches Interesse an der politischen Freiheit hätten und dieselbe energisch sa erringen befähigt wären. Unter solchen Verhältnissen würde sogar eine militärische Verschwörung ohne durchgreifendes Resultat bleiben.
„Die politische Freiheit ist für den Mann des Volkes ein ebenso nothwendiges Bedürfniss, wie für den intelligenten Mann, nur mit dem Unterschiede, dass sie bei Ersterem mit anderen Bedürfnissen ökonomischen Charakters verwachsen ist. Diese Letzteren eben müsse jede sozial-revolutionäre Partei in Betracht ziehen, wenn sie wirklich wünscht, dass die politische Freiheit vollständig garantirt and vor Usurpation seitens feindlicher Elemente geschützt werde. Das kann aber nur durch die Organisirung einer Kämpferpartei im Volke auf dem Boden der ökonomischen Verhältnisse, wie sie das Volk versteht, erreicht werden.“ –
Raumersparniss halber wollen wir auf die weitere Zitirung des im höchsten Grade interessanten Artikels verzichten. Der Verfasser deutet ferner die verschiedenen Phasen jeder revolutionären Bewegung und die charakteristischen Kardinalzeichen jeder dieser Phasen an und kommt zuletzt zu dem Schlusse, dass Russland gegenwärtig diejenige Epoche durchmache, welche der Revolution im engeren Sinne vorausgehe, es „müsse daher die nächste Aufgabe der Sozialisten die Organisirung der Kämpferpartei im Volke sein, deren Bedeutung wir schon oben erläutert haben.“
Aus den wenigen von uns zitirten Stellen dürfte der Leser ersehen, wie ausgesprochen der Tschornii Peredjel in seinen Grundsätzen sowohl, wie in der Argumentationsweise von den in den Gruppen der Narodniki früher tonangebend gewesenen Tendenzen abweicht. Die Redaktion stellt sich vor Allem die Aufgabe, das Verhältniss des russischen Narodnitschestwo zum wissenschaftlichen Sozialismus festzustellen und erklärt den Letzteren als das souveräne Kriterium der Taktik und Ansichten jeder sozial-revolutionären Partei. Nicht deshalb müssen die russischen Sozialisten Narodniki sein, weil die Volksideale an und für sich heilig und unantastbar seien, sondern deshalb, weil Letztere in ökonomischer Beziehung wenigstens fähig sind, die Vorstufen des Sozialismus zu werden. Um ihre innige geistige Verwandtschaft mit der sozialistischen Bewegung im Westen zu dokumentiren, wurde beschlossen, der Zeitschrift den Namen Organ der föderalistischen Sozialisten zu geben, anstatt sie Organ der revolutionären Narodniki zu taufen.
Ferner stützt sich der Nachweis von der Zweckmässigkeit einer volksthüm-lichen, auf die das Gemeineigenthum betreffenden Bauernideale basirten Be-wegung nicht auf die wunderbare Macht der Volkstugenden und -Instinkte, sondern auf Thatsachen rein ökonomischer Natur: die Form des gemeinschaftlichen Bodenbesitzes müsse – nach Ansicht des Verfassers der ersten zwei Artikel – unter günstigen Umständen und bei einem gewissen Grade der Bevölkerungsdichtigkeit und der Intensität der Ackerwirthschaft, sich organisch in die gemeinschaftliche Bewirthschaftung des Bodens umwandeln; sie werde auf die übrigen Produktionszweige einwirken, unvermeidlich zur allgemeinen Sozialisirung der Volkswirthschaft führen, was aber seinerseits eine radikale Umwälzung in den Sitten und Begriffen des Volkes – im Sinne der Ideen der modernen fortgeschrittenen Wissenschaft über die Natur und den Fortschritt der Individuen und der Gesellschaften – zur Folge haben werde.
Wenn man auch die Ansichten des Verfassers über die organische Eigenschaft des Gemeinbesitzes an Grund und Boden, die sozialistische Ordnung zu schaffen, nicht theilt, so kann seine Argnmentirung ein wissenschaftlicher Werth doch nicht abgesprochen werden: sie trägt die ausgesprochenen Merkmale der von Marx, Engels u. s. w. entwickelten Theorie des geschichtlichen Fortschritts. Die mystischen Vorstellungen von den Volksinstinkten sind hier durch eine Reihe von Folgerungen verdrängt, die der wissenschaftlich materialistischen Weltanschaung in ihrer Anwendung auf die gesellschaftliche Entwicklung entnommen sind. Das ist jedenfalls ein äusserst wichtiger Schritt nach vorwärts seitens der Richtung der Narodniki. Ferner ist auch die Mehrzahl der im Briefe an die früheren Freunde entwickelten Argumente gegen die Konzentrirung der Parteikräfte auf den politischen Kampf gleichfalls der Wissenschaft, der Geschichte und den Erfahrungen Westeuropas entnommen, die früher als für die Bestimmung der Handlungsweise der Sozialisten in Russland unmassgeblich erklärt wurden. Eine wesentliche Bedeutung hat schliesslich die Erklärung des Tschornii Peredjel, dass ausser der Agitation, d. h. dem unmittelbaren Kampfe für die Tagesinteressen, die Propaganda des gesammten Ideenkreises des Sozialismus auch betrieben werden müsse, obwohl er über die der gegenwärtigen ökonomischen Entwicklungsstufe Russlands unmittelbar entsprechenden Forderungen weit hinausgeht.
Wo sind nun die Ursachen für das Auftauchen dieses neuen Elementes mitten unter den Narodniki zu suchen?
Ich kann es nicht unternehmen, diese Frage vollständig zu lösen, und will mich nur auf Darlegung der nächsten und greifbarsten Ursachen dieser Erscheinung beschränken.
Erstens begann die Volksthümelei hier und da äusserst gefährliche Formen anzunehmen. Dasjenige, was die besten Vertreter dieser Richtung als ein unumgängliches Mittel, um im Volke die Initiative zum systematischen und organisirten Kampfe hervorzurufen, angenommen oder auch nur geduldet hatten, begannen Einige als Dogma, als etwas an sich Heiliges hinzustellen. So wurde z. B. der Satz von der Nothwendigkeit der Uebereinstimmung der Parteiprogramme mit den Volksansichten von Einigen in dem Sinne zu deuten versucht, dass die Sozialisten verpflichtet seien, sich dem Volke sogar in dem Falle anzuschliessen, wenn es aus seiner Mitte einen neuen demokratischen Zaren wählen wolle. Einer drückte sogar seine Unzufriedenheit damit aus, dass das Journal Organ der föderalistischen Sozialisten heisse, und zwar, weil es das Volk möglicherweise nicht wünschen werde, föderalistisch zu sein. Selbst die Beweise zu Gunsten des Gemeineigenthums begannen eine slavophile Schattirung zu bekommen. Derartigen Auswüchsen der Tendenzen der Narodniki gegenüber sahen sich die energischen und scharfsinnigen Vertreter dieser Richtung veranlasst, die allgemeine obligatorische Geltungskraft des modernen Sozialismus, als Richtschnur für die Sozialisten aller Länder, in nachdrücklicher Weise zu betonen.
Als zweite Ursache muss die Parteispaltung gelten. Um die undeutlich formulirten Jakobinistischen Tendenzen der Narodnaja Wolja zu bekämpfen, musste nolens-volens der Kreis der Ideen und Thatsachen überschritten werden, der den Narodniki als spezielle Grundlage diente und von der terroristischen Fraktion so leicht ausgebeutet werden konnte. So musste man unter Anderem, um die Beweisführung des Satzes zu liefern, dass das Volk nur durch eigene Kraftanstrengungen die Freiheit erobern könne, und dass die Letztere vor Allem durch die ökonomischen Verhältnisse bedingt werde, nothwendigerweise zu den Thatsachen und Argumenten der westeuropäischen Wissenschaft seine Zuflucht nehmen. [7]
Endlich hat zu dieser Abweichung des Narodnitschestwo von seiner ursprünglichen Richtung auch der Umstand beigetragen, dass der Kreis des Tschornii Peredjel das Bedürfniss nach neuen Bundesgenossen fühlte und sich dazu entschloss, der Richtung der früher isolirt stehenden Gruppe des Journal Obschtschina einige Konzessionen zu machen. Der aufmerkame Leier der ersten Nummer des Tschornii Peredjel dürfte aus einigen, undeutlichen und sich theilweise widersprechenden Stellen die Spuren des Kompromisses herausfinden.
Wie bekannt, war die erste Nummer des Tschornii Peredjel kaum im Drucke erschienen, als die Druckerei in die Hände der Gesetzeswächter fiel. Schon vorher hatten einige sehr hervorragende Genossen Russland verlassen müssen. Ebenso waren in der Provinz mehrere Mitglieder verhaftet worden, so dass die neue Organisation auf diese Weise fast ganz zerfiel. Den noch unbehelligten Mitgliedern blieb nichts Anderes übrig, als in den Reihen derjenigen Elemente Bundesgenossen zu suchen, die sich dem Tschornii Peredjel zwar angeschlossen hatten, aber ausserhalb der Organisation standen. Da ich es für unmöglich halte, auf die Elemente, aus welchen die neue Organisation entstand und auf die Geschichte ihrer Entstehung hier näher einzugehen, so will ich gleich zu der Frage übergehen, wie sich die weitere geistige Entwicklung der Fraktion gestaltete, deren unmittelbarer Begründer der Tschornii Peredjel ist.
Eine einzige und noch dazu wenig verbreitete Nummer konnte selbstverständlich auf die allgemeine Richtung der Narodniki, was die erstrebte Säuberung derselben von den zu Tage getretenen gefährlichen Tendenzen anbetrifft, nur sehr geringen Einfluss haben. Zudem hat die Zeitschrift viele Fragen unerörtert gelassen, die durch die Parteispaltuaiig angeregt worden waren und die Gemüther der Studentenschaft sowohl, wie auch der fortgeschritteneren Industriearbeiter erregt hatten. So musste zum Beispiel sogar der äusserste Gegner der Narodnaja Wolja angesichts der beständigen Verhaftungen und Konfiskationen doch zugeben, dass ein vollständig negatives Verhalten der Sozialisten gegenüber der politischen Freiheit undenkbar sei. Unzweifelhaft ist aber auch, dass angesichts der Desorganisation des Volkes ein konstitutionelles Regime ihm keinen wesentlichen Vortheil bringen wird. Was war also zu thun? – Ferner wurde seitens einiger nahestehender Personen, die zwar unter dem Einfluss der Gegner einer agrarischen Revolution standen, aber doch diesen Standpunkt nicht ganz acceptiren konnten, die Frage von der Abschaffung des gemeinsamen Bodenbesitzes, sowohl in der neu organisirten Gruppe, als auch ausserhalb derselben, mit neuer Macht aufgeworfen. Endlich nahm das obenerwähnte Auftreten reaktionär-gefärbter Tendenzen noch zu. Es tauchten in den sozialistischen Kreisen sogar Leute auf, die die Absicht äusserten, eine religiös-soziale Volksbewegung in’s Leben zu rufen. Diese Gährung der Geister machte es der neuen zentralisirten Gruppe der Narodniki zur Pflicht, ein Programm auszuarbeiten, das eflie deutliche Antwort auf diese brennenden Fragen enthielt. Nach Monate langen Diskussionen und Debatten wurde ein Programm der grossrussischen sozialistisch-föderalistischen Partei entworfen, das der Mehrzahl der bekannten Parteikreiae in Petersburg, Moskau und theilweise in Kasan [8], zur Berathung und Prüfung unterbreitet wurde. Von ihnen genehmigt, wurde es den seit Kurzem im Auslande wohnenden Genossen zugesandt, worauf nach einigen meist auf Missverständnissen beruhenden Auseinandersetzungen und nach einigen redaktionellen Aenderungen beschlossen wurde, dasselbe unter dem Namen Programm der russischen [9] föderalistischen Sozialisten, mit einem Erläuterungszirkular zu veröffentlichen. Gleichzeitig mit diesem Parteiprogramm arbeitete die Nachfolgerin der Organisation des „Tschornii Peredjel“, die Gruppe des „nordrussischen Bundes der Semlja i Wolja“ ihr eigenes Agitationsprogramm aus, welches vor einigen Tagen in der zweiten Nummer des Tschornii Peredjel erschienen ist. Obwohl das erste Programm noch nicht veröffentlicht ist, können wir doch, da die zweite Nummer des Tschornii Peredjel den Standpunkt desselben voll und ganz vertritt, einige Andeutungen über seinen Gesammtcharakter geben.
Mein Berieht hat derartige Dimensionen angenommen, dass ich auf die Motive, die den nordrussischen Bund der „Semlja i Wolja“ veranlassten, für seine Organisation ein besonderes Programm herauszugeben, auf die Ursachen des Zustandekommens von zwei Programmen ein und derselben Richtung, wie auch auf die Entstehung einer speziell nordrussischen Organi-sation nicht näher eingehen kann. Hier will ich mich auf die Bemerkung beschränken, dass es nothwendig war – angesichts der obenerwähnten Gährung der Geister und Verwirrung der Begriffe – ein Programm zu veröffentlichen, das nicht nur den ökonomischen, sondern auch den politischen und philosophischen Tendenzen der Partei Ausdruck gibt, um auf diese Weise den Strömungen slavophiler oder religiös-sozialistischer Färbung jeden Zutritt awr Partei zu verschliessen. Da aber in einem solchen Programm die praktischen Forderungen des Tages, die den Lebensnerv jeder kämpfenden Partei bilden, in den Hintergrund treten mussten, sah man sich veranlasst, diesen Forderungen in einem besonderen Programm vollen Ausdruck zu geben.
Dieses Programm des nordrussischen Bundes der „Semlja i Wolja“ lautet folgendermassen:
„Seinen Jahrhunderte lang dauernden Konflikt mit dem Staate und den höheren Klassen hat das russische Volk durch die revolutionäre Formel ‚Land und Freiheit‘ (Semlja i Wolja) ausgedrückt. Diese Formel sollte als Einigungsdevise der revolutionären Intelligenzen mit dem unterdrückten Volke dienen. Die nordrussische revolutionäre Organisation, welche diese Formel auf ihr Banner geschrieben hat, hält es laber für ihre Pflicht, sie auf Grund der thatsächlichen Vorgänge und der Lehrsätze des modernen Sozialismus zu beleuchten und zu erweitern. Der Bund ‚Semlja i Wolja‘ erklärt sich daher solidarisch mit dem Programm der russischen föderalistischen Sozialisten und damit zugleich mit den Prinzipien der internationalen Arbeiter-Assoziation.“
Vom Standpunkte der leitenden Prinzipien des Programms der russischen föderalistischen Sozialisten die verschiedenen Seiten der modernen gesellschaftlichen Verhältnisse in Nordrussland erwägend, hält der Bund „Semlja i Wolja“ für richtig:
so wäre auf Grund des Obengesagten ein möglichst baldiges Zustandekommen der vom Volke erwarteten agrarischen Revolution von wesentlicher Bedeutung, als Uebergangsstnfe zur vollen Reorganisation der Gesellschaft auf sozialistischer Grundlage. Daher betrachtet es der Bund der „Semlja i Wolja“ als eine seiner Hauptaufgaben, seine Kräfte hauptsächlich auf das Land zur Agitation im obengedachten Sinne, sowie zur revolutionären Organisation der Volkskräfte zu konzentriren. Ferner erklärt der Bund als eine nothwendige Ergänzung der Thätigkeit auf dem Lande die propagandistische, agitatorische und organisatorische Thätigkeit in den Reihen der Industriearbeiter; da aber in diesen Kreisen so allgemein verbreitete Forderungen, wie die der Bodenvertheilung an die Bauernschaft, nicht vorhanden sind, so sollen die Anlässe zur speziellen Unzufriedenheit, wie Bestrebungen auf Verminderung der Arbeitszeit, Vermehrung des Arbeitslohnes u. s. w., der Agitation zum Ausgangspunkt dienen.
Gleich seinem Hauptziele, der Agitation zu Gunsten der Bodenvertheilung, betrachtet der Bund die sozialistische Propaganda als ein äusserst wichtiges Mittel, um innerhalb der volksthümlich-revolutionären Organisation eine überzeugte, bewusste Minorität zu schaffen.
Da der heutige russische Staat die roheste und schamloseste Stütze der Ausbeutung der Massen ist, so hält der Bund den unmittelbaren Kampf mit dessen Vertretern, den sogenannten politischen Terrorismus, für eine Nothwendigkeit; glaubt aber, dass die Konzentrirung der Hauptkräfte auf diesen Kampf seinen Grundanschauungen widersprechen würde. Sollte endlich ein konstitutionelles Regime wirklich eintreten, so wird der Bund die Aufregungsperiode dazu benutzen, um bei den Wahlen Kandidaten mit sozial-revolationärem Programm anfzustellen, damit das Volk durch das Verhalten der Parlamentsminorität diesem Programm gegenüber anschaulich überzeugt werde, dass es nur von einer selbstständig durchgeführten Revolution etwas erwarten darf.
Das Programm des nordrussischen Bundes „Semlja i Wolja“ erscheint als ein beredter Ausdruck der zum Bewusstsein der Mitglieder gelangten Nothwendigkeit, dass die sozial-revolutionlfare Bewegung in Russland auf breiterer Basis beruhen müsse, als auf der der Bodenvertheilung. Indem er sich nur als einen Theil der sozialistischen Partei Russlands betrachtet und die Prinzipien der internationalen Arbeiter-Assoziation als für alle sozialistischen Gruppen ohne Ausnahme obligatorisch hinstellt, verzichtet der Verein auf die Prätention, die ganze revolutionäre Bewegung in den engen Rahmen seiner Angaben hineinzuzwängen, welche Bewegung in ihrer Gesammtheit eine sehr viel längere Zeitperiode beansprucht, als die aus der gegenwärtigen Lage der Bauernschaft folgenden Aufgaben. Diese Tendenz wird im Leitartikel der zweiten Nummer des Tschornii Peredjel in folgender Weise formulirt:
„Während wir unsere Arbeit verrichten, d. h. die Bauern organisiren, bleibt die russische Industrie auch nicht auf demselben Flecke stehen. Die Noth reisst den Bauer von der Scholle und treibt ihn in die Werkstätte, in die Fabrik. Parallel damit wird auch der Schwerpunkt der ökonomischen Fragen in die Industriezentren verlegt. Die Vertheilung unserer Kräfte muss sich nach diesem organischen Prozess richten. Haben wir sowohl in den Fabriken wie auf dem Lande feste Wurzel gefasst, so nehmen wir eine Position ein, die nicht allein der augenblicklichen Lage, sondern auch dem ganzen ökonomischen Entwicklungsgange Russlands entspricht. Auf unserer Fahne die Devise: ‚Arbeiter, bemächtige dich der Fabrik; Bauer des Grund und Bodens‘, die revolutionären Organisationen der Industrie- und Landarbeiter in ein gemeinsames Ganze vereinigt, können wir dann den ökonomischen Veränderungen in Russland ihren natürlichen Lauf lassen, ohne Schwankungen nach der einen oder der anderen Seite befürchten zu müssen.“
In demselben Artikel heisst es ferner:
„Die mündliche und schriftliche Propaganda muss die Ideen der sozialistischen Revolution mit allen ihren Schlussfolgerungen und Konsequenzen in das Bewusstsein des Volkes hineintragen ... Die agrarische Revolution, wie sie in den Volkswünschen formulirt ist, stellt an und für sich nur ein Minimum dar gegenüber den Aufgaben und Forderungen des Sozialismus.“
Was die Stellung zum politischen Aberglauben der Masse anbetrifft, so charakterisirt der Leitartikelschreiber der zweiten Nummer des Tschornii Peredjel die Ansicht der Redaktion in folgender Weise:
„In den Spalten des Tschornii Peredjel ist ein Programm unmöglich, das in den Vorurtheilen des Volkes eine Stütze der sozial-revolutionären Thätigkeit sucht, das in denselben das Fundament der Volksbefreiung erblickt. Je schneller und gründlicher die Zerstörung der politischen Götzen des Volkes sich vollzieht, um so eher schlägt die Stunde seiner ökonomischen Befreiung. Die sozialistische Agitation muss diesen Zusammenhang stets im Auge behalten und darf keine Mühe scheuen, die politischen Vorurtheile der Massen zu bekämpfen. Nur unter dieser Bedingung werden die revolutionären Organisationen im Volke, die zugleich mit dem Bewusstsein des Volkes und mit seiner politischen Reife zunehmen, Daueraftigkeit und Lebenskraft besitzen.“ ―
Der Artikel drückt dem Kampfe für die politische Freiheit zwar seine Sympathien aus, betrachtet aber auch die andere Seite der Medaille:
„Erörtern wir die Frage sogar vom Standpunkte unseres Einflusses auf den Gang der politischen Ereignisse in Russland, so müssen wir doch der Thätigkeit im Volke allen anderen Aufgaben gegenüber den Vorzug geben, da sie die Quelle unserer Macht, unserer Erfolge im Kampfe mit den Feinden ist, deren wir im konstitutionellen Russland wahrlich nicht weniger haben werden als jetzt, und die alle Kräfte aufbieten werden, unsere Thätigkeit zu lähmen, unserer Propaganda Hindernisse in den Weg zu legwi, wis ausserhalb des Gesetzes zu stellen.“
Begnügen wir uns mit diesen Zitaten, obgleich dieselben zur vollen Chanakteristik der neuen Strömung in der sozial-revolutionären Bewegung Russlands nicht ausreichen. Die charakteristischen Eigenthümlichkeiten dieser Strömung können in folgenden Sätzen zusammengefasst werden:
Für die Charakteristik der Fraktion der „russischen föderalistischen Sozialisten“ und des nordrussischen Bundes „Semlja i Wolja“ ist endlich der Beschluss von Bedeutung, dass für Distrikte, deren Bewohner in ökonomischen und anderen Existenzverhältnissen sich unterscheiden, die Bildung einer selbstständigen Organisation nothwendig ist. Der äusserste Zentralist muss zugeben, dass in einem Reiche, das Millionen Quadratkilometer umfast und sich ans den heterogensten Bestandtheilen zusammensetzt, eine solche Handlungsweise rationell ist.
Erwähnt sei noch, dass die bisher gebräuchliche Bezeichnung „volksthümlich revolutionär“ zur Bezeichnung der russischen sozial-revolutionären Partei weder in der zweiten Nummer des Tschornii Peredjel, noch in den obenerwähnten Programmen mehr zu finden ist.
Diese neue Strömung stellt sich also als Zusammenfassung verschiedener Elemente der sozialistischen Partei dar, die sich anfänglich gegenseitig bekämpfen, allmählig aber annähern und schliesslich verschmelzen.
Eine der wichtigsten Eigenthümlichkeiten dieser Richtung ist die bewusste Anwendung des Grundsatzes jeder sozialistischen Partei, dass es nothwendig sei, wenn auch die Taktik den Lebensbedingungen und der intellektuellen Entwicklungsstufe der Massen im gegebenen Moment angepasst sein muss, den organischen Entwicklungsprozess des gesellschaftlichen Lebens genau und scharf zu verfolgen und darnach zu streben, die Richtung im Voraus zu bestimmen, welche er einschlagen wird.
Im gegenwärtigen Moment stehen also zwei Fraktionen im Vordergrund. Die eine, welche sich um das „Ezekutiv-Komite“ gruppirt; die andere, die den Namen „russische föderalistische Sozialisten“ trägt, und deren Zentrum im Norden der Bund „Semlya i Wolja“ ist.
Es bleiben uns jetzt noch folgende Fragen zu beantworten:
Diese Fragen sind zu komplizirt, als das es schon gegenwärtig möglich wäre, dieselben entscheidend zu beantworten. Nur bei der ersten Frage ist dieses wenigstens annähernd möglich, und wollen wir denn auch damit beginnen.
Vor Allem muss die Thatsache konstatirt werden, dass das „Exekutiv-Komite“ unvergleichlich besser organisirt ist, als der nordrussische Bund „Semlja i Wolja“, und dass folglich die Fraktion der „Narodnaja Wolja“ sich in dieser Beziehung in einer viel günstigeren Lage befindet als die Fraktion, deren Zentrum der Bund „Semlja i Wolja“ bildet. Ferner sind auch im Exekutiv-Komite im Kampfe gestählte und in Konspirationen geübte Mitglieder in grösserer Zahl vertreten, als im Bunde „Semlja i Wolja“. – Diese Vorzüge des Ersteren über den Letzteren sind die nothwendige Frucht der Umstände, unter welchen diese beiden Gruppen sich gebildet haben. Die Städtegruppe der Narodniki, aus welcher in der Folge das Komite hervorging, besteht ungefähr seit dem Jahre 1876. Alle Bemühungen dieser Gruppe waren hauptsächlich daraufhin gerichtet, die konspirativen Kunstgriffe und den administrativen Mechanismus ihrer Organisation zu vervollkommnen. Da dieser Anpassungsprozess an die politischen Zustände Russlands in einer Zeitperiode begann, die in Bezug auf die Verfolgungen und die Ueberwachung seitens der Regierung eine vergleichsweise leichtere war, so zeigte die Organisation, die sich mit der Zeit verstärkte and der allmäligen Verstärkung der Reaktion entsprechend vervollkommnete, auch in schlimmerer Lage genügende Standhaftigkeit.
Längere Zeit hindurch das Zentrum der aktivsten Fraktion, haben die Leiter der Städtegruppe und, vom Jahre 1878 an, das Ezekutiy-Komite alle finanziellen Quellen und alle die Verbindungen in der Gesellschaft, die der Partei Dienste leisten konnten, naturgemäss in ihre Hände konzentrirt. In dem Maasse, als das terroristische Element in der sozial-revolutionären Bewegung zunahm, wurde die leitende Städtegruppe zugleich der Anziehungspunkt für die intelligentesten und talentvollsten Sozialisten, die sich der Verbannung und Polizeiaufsicht entzogen hatten, für die es also einerseits äusserst schwierig war, sich auf dem Lande niederzulassen, und die andererseits zu gereizt gegen die Regierung waren, als dass sie sich nicht zum System des Terrorismus hätten hinreissen lassen sollen. Selbstverständlich gab es auch solche darunter, deren Temperament die mühsame, prunk- und glanzlose Thätigkeit auf dem Lande nicht zusagte. Als im Herbst 1879 die Spaltung in der Fraktion der Narodniki vor sich ging, schlossen sich einige höchst tüchtige Mitglieder zeitweilig dem „Ezekutiv-Komite“ an, ohne mit dessen Programm einverstanden zu sein, ausschliesslich aus Hass gegen die Regierung und im Wunsche, an der Organisirung der terroristischen Thätigkeit Theil zu nehmen.
Unter solchen Verhältnissen war voraus zu sehen, dass bei einer Spaltung der Narodniki in zwei Gruppen das Ezekutiv-Komite gewinnen und die ländliche Gruppe verlieren werde. Dies ist denn auch der Fall gewesen. Ohne Mittel und dazu auch arm an tüchtigen Administratoren, mnsste sich die neu entstandene Gruppe zu einer Zeit und zwar kurzer Hand organisiren, als die Regierungsagenten im Ausspähen und Verfolgen der „Vaterlandsfeinde“ bedeutende Fortschritte gemacht hatten. Das Resultat dieser Uebereilung war eben die kurze Existenz der Druckerei; die nothgedrungene Abreise einiger hervorragender Mitglieder nach dem Auslande und die Verhaftung Anderer haben die Desorganisation der Gruppe des „Tschernii Peredjel“ vollständig gemacht.
Auf diese Weise hat der Bund „Semlja i Wolja“, die Fortsetzung des von der Gruppe „Tschornii Peredjel“ begonnenen Werkes, fast gar kein Erbtheil von ihr überkommen. Während das nach und nach ausgebildete Exekutiv-Komite so zu sagen der Erbe aller der moralischen und materiellen Reichthümer war, die durch die gemeinsamen Anstrengungen der früheren Fraktion der Narodniki angehäuft worden waren, musste der junge Bund „Semlja i Wolja“ nothwendigerweise ziemlich schnell formirt werden und dazu hauptsächlich aus Elementen, die vergleichsweise mit den Details der konspirativen Thätigkeit noch nicht so vertraut waren. Kein Wunder also, dass er, was die Organisation betrifft, vorläufig dem Ezekutiv-Komite bedeutend nachstehen musste.
Aber trotz der momentan verhältnissmässig schwachen Organisation des Bundes „Semlja i Wolja“, stellt doch die Fraktion, deren Zentrum im Norden er bildet, eine ziemlich bedeutende Kraft dar. Erstens schliesst sich ihr die grosse Mehrzahl der sozialistischen Jugend in Moskau, Petersburg und Kasan an; diese Jugend aber ist hauptsächlich aus der Provinz gebürtig und gibt sieh alle mögliche Mühe, dort die Reihen ihrer Fraktion zu vermehren. Ferner ist es unzweifelhaft, dass das durchschnittliche Niveau intellektueller Entwicklung und geistiger Selbstständigkeit in den Reihen dieser Jugend höher ist, als in den Reihen Derjenigen, welche der „Narodnaja Wolja“ folgt. Es ist kaum nöthig, dem europäischen Leser auseinanderzusetzen, wie bedeutongsvoll ein solcher Vorzug für den Bund „Semlja i Wolja“ ist, der mit dieser Jugend in möglichst inniger Verbindung steht. Ferner steht, obgleich einige Arbeiter sich auch in den Reihen der Gruppe Narodnaja Wolja befinden, doch die Mehrzahl derselben in Petersburg und in einigen anderen Grosszentren, die ich ungenannt lassen muss, dem Bunde „Semlja i Wolja“ näher als dem Exekutiv-Komite. Im Verlauf des letzten Winterhalbjahres wurden in Petersburg enge Beziehungen mit den Arbeitern unterhalten, und wenn nicht der plötzliche Unfall eingetreten wäre, so wäre eine Arbeiterzeitung unter gemeinsamer Redaktion der Vertreter des Bundes „Semlja i Wolja“ und der Arbeitergruppen erschienen. Wir müssen es uns indessen versagen, öffentlich über den Verlauf der Beziehungen und Unterredungen zu berichten, welche zwischen den Delegirten des Bundes „Semlja i Wolja“ und den Vertretern des „Nordischen Arbeiterbundes“ behufs Ausarbeitung eines gemeinsamen Organisationsplanes der sozialistischen Propaganda und Agitation gepflogen worden sind.
Endlich wird für die allernächste Zukunft der Umstand von wesentlicher Bedeutung sein, dass die Mehrzahl der zur Gruppe des „Tschornii Peredjel“ gehörenden Mitglieder [10] in der Bauernschaft Verbindungen erworben hat, die seiner Zeit zu Agitationszwecken ausgenutzt werden dürften. Wir treten damit aber schon über den Rahmen der Gegenwart hinaus und wollen daher einhalten.
Eines sei noch erwähnt: In Südrussland besitzen die Narodniki eine Druckerei, in welcher im vorigen Sommer vier Proklamationen gedruckt wurden. Eine der Letzteren, von sozialistischen Arbeitern abgefasst, formulirte die Forderungen der Strikenden in den Kiewer Eisenbahnwerkstätten. Diese Proklamation droht im Namen des südrussischen Arbeiterbundes der Regierung, dass, falls ihre Forderungen nicht in Erfüllung gehen, die Arbeiter beginnen werden, die Maschinen zu beschädigen und zu zerstören, und dass sie dann auch vor Mordthaten nicht zurückschrecken werden. Der genannte Bund [11] war im Herbste vorigen Jahres gegründet worden. Die zweite Proklamation erschien bei Gelegenheit der kurz vor den Gerichtsverhandlungen stattgehabten körperlichen Züchtigung der in Kiew Verhafteten, von denen einer infolge der Misshandlungen seitens der Gefängnissbehörden starb. (S. weiter unten.) Die dritte Proklamation hat die Lage der Deportirten, und endlich die vierte den letzten Kiewer politischen Prozess zum Gegenstand.
Wenn wir alles über die Lage der gegenwärtig thätigen Fraktionen Gesagte zusammenfassen, so können wir Folgendes aussprechen: dem Exekutiv-Komite, das unter günstigeren Verhältnissen entstand, sich allmälig entwickelte und vervollkommnete, gelang es, in Bezug auf Organisation eine Vollkommenheit sehr bedentenden Grades zu erreichen. Der Bund „Semlja i Wolja“ aber, der unter bedeutend schwierigeren Verhältnissen, zu einer Zeit, wo die reaktionären Orgien ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatten, verhältnissmässig hastig gestiftet wurde und Ziele im Auge hat, die viel komplizirter, wenn auch nicht so bestechend sind, wie diejenigen des Exekutiv-Komite, muss naturgemüss in Bezug auf Organisation dem Letzteren noch weit nachstehen. Nach der Zahl ihrer Anhänger in den Kreisen der sozialistischen Jugend und der Arbeiter, nach dem Mengenverhältniss der intellektuellen Kräfte und nach den in der Bauernschaft vorhandenen Verbindungen aber, repräsentirt die junge Organisation ein Element von bedeutender Stärke. Wir möchten noch hinzufügen, dass im Bunde „Semlja i Wolja“ die innere Ideeneinheit bedeutend grösser ist als in der Fraktion der „Narodnaja Wolja“, in deren Reihen ziemlich viele verschiedenartige Elemente vertreten sind. Ein grosser Theil selbst im Zentrum dieser Fraktion ist mit dem Programm der „Narodnaja Wolja“ nicht einverstanden und vereinigte sich mit dieser Gruppe nur auf dem speziellen Boden der Terrorisirung der Regierung durch alle nur möglichen und denkbaren Mittel.
Bevor wir auf die weiteren der oben von uns angestellten Fragen
eingehen, wird es von Nutzen sein, diejenigen Thatsachen und
Erscheinungen der letzten Zeit anzuführen, welche von der
ökonomischen Lage des Volkes, von der Stimmung des Letzteren, von
der der privilegirten Gesellschaft, sowie von den zur Besänftigung
der Einen und Abschreckung der Anderen unternommenen
Regierungsmassregeln eine deutliche Vorstellung geben können. Die
Gesammtsumme dieser Thatsachen, welche die Atmosphäre der modernen
sozial-revolutionären Bewegung in Russland kennzeichnen, wird zur
Erläuterung der Frage über die Resultate dieser Bewegung und ihre
Chancen in der nächsten Zukunft wesentlich beitragen.
„Auf Russland lastet der Fluch, welchen die Geschichte noch stets über jedes zurückgebliebene und im Verfall begriffene Land verhängt hat. Die Mutter Natur selbst scheint sich gegen unser unglückliches Vaterland verschworen zu haben und sucht es mit einer ganzen Reihe von Missgesehicken heim. Missernte, Dürre, Viehseuchen, Hungersnoth, Brände, Epidemieen, und dergleichen – das sind die Nachrichten, die uns die Presse tagein tagaus bringt, und die uns ein Bild vorführen, das an Mannigfaltigkeit dem der egyptischen Heimsuchungen nicht nachsteht. Das an all Diesem unschuldige Volk hungert und darbt, verarmt und verkommt in jeder Beziehung.“
Wir entnehmen das Angeführte der zweiten Nummer des Tschornii Peredjel. Allein wozu uns auf die revolutionäre Presse berufen – rufen wir lieber das Zeugniss der gemässigtsten legalen Zeitungen an, die schwerlich Jemand der absichtlichen Schwarzfärberei verdächtigen wird.
Die Nowoje Wremja (Die Neue Zeit), dieses erzbourgeoise, chauvinistische, liberalisirende Blatt, sagt in ihrem Leitartikel vom 29. Juni (Nr. 1544):
Der Herr Minister des Innern hat von seiner Inspektionsreise über die Lage der Landwirthschaft in den Gouvernements Ssaratow und Astrachan den Eindruck mitgenommen, dass es noch lange währen dürfte, ehe die Folgen des verflossenen Winters verschmerzt sein werden. Wir wollen die Nachrichten von Theuerung und Nothstand, die in den letzten Wochen die Seiten unserer Zeitung füllten, nicht wiederholen – der Leser kennt ja diese Annalen des Schmerzes und des Kummers.
Aber, sagt der Leitartikler weiter, wir wollen nur die Mittheilungen reproduziren, die die Moskowskija Wjedomosti bringen:
„Der Stadtrath von Koselsk hat bereits mit den Ankauf von Brod und Mehl begonnen, um es an die unbemittelten Bürger zu ermässigtem Preise zu verkaufen. In Jelez herrscht unter den armen Einwohnern infolge des gestiegenen Brodpreises grosse Noth. Dem Wolga-Gebiet droht wiederum Hungersnoth.“
In derselben Nummer heisst es weiter:
„Ueberhaupt müssen wir gestehen, dass die Mittheilungen, welche in der letzten Zeit sowohl im Regierungs-Anzeiger als in den Spalten der Privatpresse verlautbaren, eine traurige, düstere Melodie durchklingt ... Wir durchleben zur Zeit eine beunruhigende Epoche ... Heuschrecken, Hessenfliegen, sowie Brodkäfer verheeren unsere Saaten. Das Jahr 1878, in welchem in 18 südlichen Kreisen gegen eine Million Dessjätinen Brod vernichtet wurden, weist dadurch allein einen Verlust von 100 Millionen Rubel auf.“
In der Nummer 1586 der Nowoje Wremja wird in einer Depesche aus Ssaratow vom 27. Juni gemeldet, dass ausserordentliche landschaftliche Kreisversammlungen einberufen werden, um zu berathen, wie der nothleidenden Bevölkerung geholfen werden solle. In vier Kreisen herrscht völlige Hungersnoth, in der Mehrzahl der übrigen Kreise leiden sowohl Menschen als Vieh infolge des Nothstandes an grosser Entkräftung. Im ganzen Gouvernement mangelt es an Vorräthen. Endlich bewilligte die Regierung im Monat August den (Gouvernements Ssamara und Ssaratow aus dem Reichs-Verproviantirungs-Fonds eine Anleihe von 1½ Millionen Rubel. Aber sowohl die Semstwo’s wie die Presse behaupten einstimmig, dass der gesammte Verproviantirungs-Fonds, der nur einige Millionen beträgt, gegenüber der Ausdehnung des Nothstandes nur einen Tropfen im Meere darstellt. Die Distrikte von Ssamara, Ssimbirsk, Ssaratow, Orenburg und noch andere grosse Strecken des südlichen Russlands – ein Gebiet von mehr als 600.000 Quadratkilometern mit 12½ Millionen Einwohnern – haben unter Missernten zu leiden.
Angesichts dieser kolossalen Noth werden in der Presse und den Semstwo’s Stimmen laut, die für das Verbot der Brodausfuhr oder wenigstens für Erhöhung der Ausgangszölle eintreten. Die Semstwo von Ssysranj beschloss am 30. Juni, die Regierung um Besteuerung des nach dem Auslande auszuführenden Kornes anzugehen, die dadurch erzielten Einnahmen seien dem Verproviantirungs-Kapitale einzuverleiben.
Wie sehr aber auch unsere liberalen Philister sich abmühen, alle Noth und alles Elend momentanen Ursachen und elementaren Ereignissen zuzuschreiben, so entschlüpfen dennoch von Zeit zu Zeit auch ihnen schüchterne Hinweisungen auf innere, tiefere Ursachen. So verleiht z. B. die Nowoje Wremja in Nr. 1593 ihrem Missmuth Ausdruck über den allzu langsamen Gang der Ablösung der Bauerngüter, den sie den Gutsbesitzern zur Last legt, welche ihr Recht, den Ablösungsforderungen der Bauern ihre Zustimmung zu versageni missbrauchen. Die statistische Kommission der Semstwo von Tschemigow berechnet den Ertrag des Bodenantheils der einzelnen Bauern im Borsnischen Kreise, einem der fruchtbarsten in Kleinrussland, auf 72 Rubel, während der Bauer zur Bestreitung seiner allernothwendigsten Bedürfnisse jährlich 160 Rubel braucht. Die Ertragsfähigkeit des Bodens hat sich in den letzten achtzehn Jahren im die Hälfte vermindert. Diese Erschöpfung des Bodens beruht nach der Nowoje Wremja einerseits auf dem unzureichenden Landantheil der Bauern und andererseits auf der ungleichmässigen Besteuerung des Grundbesitzes der verschiedenen Klassen. Adel und Geistlichkeit zahlen an Einkommensteuern viermal weniger als die Bauern, welche letztere noch verschiedene Abgaben und Dienstleistungen nicht nur an den Staat, sondern auch an die Kreishauptleute und an die Gensdarmerie zu leisten haben: sie müssen ihnen Holz beschaffen, Wasser tragen, die Pferde reinigen, der hohen Obrigkeit Wild jagen helfen, und während sie all diese Dienstleistungen verrichten, sind sie auf ihr eigenes trockenes Brod angewiesen, welches sie mitbringen müssen, wenn sie nicht Hunger leiden wollen. Fast die Hälfte der Bauern dieses Kreises sind Proletarier, die dabei nicht einmal genügenden Nebenverdienst haben, da die industriellen Gewerbe dort wenig entwickelt sind. Nach den Ausführungen der erwähnten statistischen Kommission dürfte die gesammte Bauernbevölkerung dieses Kreises schon in allernächster Zukunft in’s ausgesprochene Proletariat herabsinken. Diese Charakteristik der Lage der Bauernschaft im Gouvernement Tschernigow hat in verschiedenem Grade auch für den grössten Theil des übrigen Russland Giltigkeit. Hand in Hand mit der Enteignung und Verarmung der Bauern infolge gewaltsamer Wegnahme des Viehes, oft sogar selbst der Strohdächer, seitens der Steuereintreiber geht ein grossartiger Raub an Gemeinde- und Staatsländereien zu Gunsten von Privatpersonen aus der Geld-, Geburts- und Beamten-Aristokratie vor sich. So schreibt die Nowoje Wremja in ihrer Nr. 1608 auf Grund von Mittheilungen eines früheren Friedensrichters in Dobrotworsk (Gouvernement Ufa), dass „dort sehr bedeutende Forstungen an Privatleute zu lächerlich geringem Preise veräussert werden; dass die Baschkiren landlos werden und die Auswanderungsfrage auf diese Weise zum ausschliesslichen Vortheil der einflussreichen neuen Eigenthümer zur Lösung gelangt.“ Ein ganz analoger schamloser Raub an Gemeindeländereien geht auf Grund direkter Verfügungen der Regierung am Don, Ural und Kuban (die s. g. Kosaken-Gebiete) vor sich. Aus Batum (dem im jüngsten Kriege von der Türkei erorberten Gebiete) fliehen die Einheimischen schaarenweise, da, wie sie behaupten, seit der Ankunft der Russen (d. h. wohl der Kreaturen der russischen Regierung) „die Erde schwarz, das Wasser bitter geworden sei, und Gott ihnen für ihre Sünden den Verstand geraubt habe.“ Aus allen Theilen des russischen Reiches kommen Nachrichten über die unerträgliche ökonomische Lage des Volkes. So schreibt man der Russkaja Prawda aus dem südwestlichen Gebiete, dass die Bauern in einigen Distrikten sich von einem Gemisch ernähren, „welches lebhaft an das Brod und den Zwieback erinnert, die während des jüngsten Feldzuges selbst die Pferde nicht fressen konnten“.
Epidemien und chronische Krankheiten, diese unvermeidlichen Begleiter derartiger ökonomischer Zustände, wüthen im grössten Theile des Reiches, während es um die medizinale Organisaüon in den Semstwo’s äusserst dürftig bestellt ist, da der grösste Theil der Einnahmen in das Danaiden-Fass der Regierung fliesst – „zur Bestreitung der Reichs-Bedürfnisse“. Aber auch mit den Mitteln, welche den Semstwo’s zur Verfügung stehen, würde das Mediainalwesen ungleich besser gestaltet sein, wenn sie – wie ein Correspondent der Ruskija Wjedomosti schreibt – mit den Heilgehülfen qualitativ und quantitativ besser daran wären, was seitens der Regierung wiederum dadurch unmöglich gemacht wird, dass sie Leuten, welche eine solide Bildung auf Mittel- und Hochschulen genossen haben, den Zutritt zu diesen Berufen verbietet.
Nicht genug, dass die Regierung das Volk bis aufs Aeusserste aussaugt, dass sie den besitsenden Klassen bei der Land-Enteignung der Bauern behilflich ist, überlässt sie das Volk ausserdem noch ganz und gar der Willkür ihrer zahllosen Agenten – den Kreishauptleuten (Isprawniki), Landhauptleuten (Pristavi), und Landjägern (Urjadniki). Lange Zeit hindurch war es sogar untersagt, irgend etwas über Ausschreitungen der Letzteren in die Oeffentlichkeit zu bringen; lediglich infolge verschiedener Gerichtsverhandlungen beginnt in der letzten Zeit Manches über ihre Schandthaten zu verlauten. Die Russk. Wjedom. veröffentlichen in Nr. 32 dieses Jahres eine Korrespondenz aus dem Grouvernement Jaroslaw, laut welcher daselbst ein Landjäger einen Bauern niederschiessen wollte, der sich geweigert hatte, dem Gutsverwalter des General Obreskow Dokumente auszuhändigen, welche bestätigten, dass der Bauer dem Verwalter eine gewisse Waldung abgekauft habe. Zum Glück hatte der Landjäger seinen Revolver nicht bei sich. Nr. 62 derselben Zeitung enthält die Mittheilung, dass ein Landjäger einen Bauern arretirte, weil er nicht rasch genug dem Befehle nachkam, noch in der Nacht eine vor seinem Hause befindliche Grube zuzuschütten. Gröbliche Gewaltthätigkeiten, Ausbeutung der Arbeit der Bauern für die persönlichen Bedürfnisse der Landjäger – „Natural-Abgaben“ benannt – gehören selbstverständlich zum System. Und derartige Stützen der „Grundlagen des Staates“, und zwar 72 Mann stark, will man den freiheitsliebenden Donischen Kosaken aufhalsen. Selbstverständlich rufen solche Zustände hier und da seitens des Volkes Proteste hervor, und zwar unter den verschiedensten Formen. Die Nowoje Wremja vom 17. Juni berichtet von einem Zusammenstoss, welcher am 29. April zwischen dem Gutsverwalter des Fürsten Galyzin (im Kreise Nowgorod-Ssewersk, Gouvernement Tschernigow) und dem dortigen Volke stattfand. Derselbe war seitens des Gutsherrn dadurch provozirt worden, dass er Weideland, welches bei der letzten Landvermessung den Bauern zugetheilt worden war, durch allerhand Machinationen und Kniffe in seinen Besitz gebracht hatte, und nun sein Gutsverwalter den Bauern, deren Vieh diesen Weideplatz passiren musste, das Vieh abpfänden wollte. Die Bauernweiber aber wollten diesen Spass nicht verstehen und drangen auf den Landjäger und seinen Gehülfen ein, der Landjäger zieht blank und haut ein Bauernweib zu Boden, worauf ein Haufe Bauern herbeieilt und sich ein verzweifelter Kampf entspinnt, bei welchen der Landjäger und sein Gehülfe halb todt geprügelt werden, während der Gutsverwalter in seinem Wagen das Weite sucht. Auf alle Ein- und Zureden des herbeigeeilten Kreishauptmanns hatten die Bauern nur die Antwort, dass sie es nicht länger aushalten können vor all der Bedrückung der Gutsverwaltung; ausserdem drückten sie den Wunsch energisch aus, aus ihrer Heimathsstätte auswandern zu können. Das Ende dieses Trauerspiels ist das nämliche, wie das aller derartigen in Russland: im Dorfe wurde auf Befehl des Gouverneurs ein Bataillon Soldaten einquartiert; die Rädelsführer wurden verhaftet, während zwei Bauern, darunter der Distriktsälteste (Wolostnoi Starschina), sich der rächenden Hand durch die Flucht entzogen. Wie die Russk. Wjedom. weiter berichten, kehrten die Truppen, welche gegen die aufständischen Bauern im Tschernigowschen Gouvernement ausgesandt worden sind – siegreich in ihre Garnison zurück. Aber im Borsni’schen Kreise (die Lage der dortigen Bauern haben wir oben besprochen) ist ein Theil der Truppen exekutionsweise zurückgeblieben, weil „der Ungehorsam dort einen hartnäckigen Charakter angenommen hat.“
Aehnliche Unruhen fanden auch in zwei anderen Kreisen des Gouvernements Kiew statt.
Sehr charakteristisch für die Stimmung der Bauern ist auch das fortwährende Auftauchen neuer Sekten. So ist erst jüngst im Gouvernement Twer wiederum eine neue Sekte – die „Ssletaewzi“ – entdeckt worden. Die Unruhen im Gebiete der Donischen Kosaken sind durchaus nicht beigelegt, sondern drohen vielmehr beim ersten günstigen Anlass mit neuer Kraft auszubrechen. Aber auch in den Städten zeigen die Arbeiter neuerdings immer häufiger ihre Unzufriedenheit mit der bestehenden Ordnung. In dem Städtchen St. Pawlowsk (Gouvernement Moskau) stellten im August 1.000 Arbeiter einer grossen Tapetenfabrik infolge von Lohnreduktion die Arbeit ein. „An diesem Konflikt nahmen auch die örtlichen Behörden thätigen Antheil (!)“ schreibt die Now. Wremja in ihrer Nr. 1592. „Den Arbeitern wurde angeboten, zu dem früheren (nicht reduzirten) Lohn die Arbeit wieder aufzunehmen; aber 200 derselben wollten auch unter diesen Bedingungen nicht fortarbeiten.“ Am 15. Februar legten 200 Arbeiter einer Wollen-Weberei die Arbeit nieder, indem sie Lohnerhöhung verlangten. Aber schon am 19. Februar kam es „unter Mitwirkung der administrativen Behörden zu einer Einigung mit der Fabrikleitung,“ berichten die Moskowk. Wjed. In Kiew brachen Ende Februar in der Eisenbahnwerkstätte infolge der Härte der Verwaltungsbehörden, sowie von Gerüchten über Lohnherabsetzungen Unruhen aus. Gegen 1.500 Arbeiter nahmen eine drohende Haltung ein. Im Frühjahr gährte es in den Petersburger Fabriken, und im Winter wurde einem Strike in einer Fabrik nur dadurch vorgebeugt, dass der Fabrikherr infolge eines Drohbriefes, dass er getödtet werde, falls er den Lohn reduzire, noch zeitig nachgegeben hatte.
Es stehen uns im Augenblick nur wenig Zeitungen zur Verfügung, weshalb unsere Aufzählung der Gährungen unter den Bauern und den städtischen Arbeitern nur sehr unvollständig sein kann. Auch ist nicht zu vergessen, dass die Zeitungen aus Furcht vor Massregelungen seitens der Censur, der sonstigen Behörden etc. sich veranlasst sehen, über die meisten dieser Vorkommnisse sich auszuschweigen. Viele Korrespondenzen werden von den Redaktionen wegen „oppositionellen Charakters“ unter den Tisch geworfen. Eine Menge von Volksprotesten bleiben wiederum den Zeitungskorrespondenten unbekannt, indem die Verwaltungsbehörden Stillschweigen darüber beobachten.
Reihen wir nun an die oben mitgetheilten Thatsachen, welche nur einen sehr kleinen Bruchtheil der ausbrechenden „Unruhen“ ausmachen, die bekannteren Unruhen des letzten Dezenniums, die Unruhen am Ural, unter den Kubanischen Kosaken, am Don und in Tschigirin, die jüngsten Arbeiter-Strikes in sserpuchow, im Gouvernement Kostromi, in Petersburg, Moskau, Kiew und Odessa; endlich die kolossalen Krawalle gegen die Polizei, die in Charkow, Rostow und Ssamara stattfanden; durchmustern wir diese Offenbarungen der Unzufriedenheit des russischen Volkes – und wir erhalten ein ziemlich getreues Bild von dem Groll, der sich in den unterdrückten Klassen in Russland anhäuft.
Wenden wir uns von den „niederen ungebildeten Klassen“ zu den intelligenteren Schichten der Gesellschaft, so begegnen wir wiederum durchaus unbefriedigtem Streben, unbefriedigten Wünschen; stossen wir wiederum auf augenscheinliche Zeichen der Unzufriedenheit, obwohl diese Unzufriedenheit, wie es „noblen“ Klassen zukommt, in äusserst gemässigter, wenn nicht gar knechtisch-unterthäniger Form sich offenbart.
Fast alle Zeitungen verlangen die Einberufung einer Landesversammlung (semski Ssobor [12]), oder geben wenigstens ziemlich deutlich die Nothwendigkeit einer solchen Einberufung zu verstehen. In einem Artikel, ironisch betitelt: Wir sind noch nicht reif genug, führt die Nowoje Wremja aus, dass es nur gewissenlose oder kurzsichtige Leute sein können, welche behaupten, dass die Gesellschaft zur Mitwirkung an den Staatsgeschäften noch nicht reif sei, und welche der Verwaltung mehr Verständniss für die gesellschaftlichen Bedürfnisse zutrauen, als der Gesellschaft selbst.
Was die Opposition betrifft, welche sieh seitens der Parteigänger der sogenannten gesellschaftlichen Selbstverwaltung kundgegeben hat, so sind darüber in den zwei Berichten des ersten Jahrganges des Jahrbuches genügend charakteristische Daten mitgetheilt worden. Ich will nur hinzufügen, dass als im vorigen Herbst die Professoren der Universität Odessa gegen die neuen Universitäts-Statuten protestiren wollten, Herr Panjutin, „die rechte Hand des Grafen Totleben“, des damaligen General-Gouverneurs von Odessa, jetzt von Wilna, die „Rädelsführer“ zu sich berief und ihnen erklärte, dass sie sich nicht erdreisten sollten, dem Willen des Kaisers entgegenzuarbeiten, wenn sie nicht unverzüglieh nach Ost-Sibirien transportirt zu werden wünschten. Zum Prorektor Postnikow sagt er: „Sie sind für die Ruhe der Studentenschaft verantwortlich!“ „Aber ich nehme meinen Abschied“ erwiderte der arme Prorektor, ein hochgeachteter akademischer Lehrer. „Das gibt es nicht, jetzt abzutreten! Oder Sie werden innerhalb 24 Stunden nach Ost-Sibirien transportirt!“
Nicht gewöhnt, in eine kräftige, offene Opposition zu treten, sucht die russische Gesellschaft ihre Missstimmung doch bei jeder günstigen Gelegenheit zu offenbaren. So gab man der Unzufriedenheit mit dem System des ehemaligen Ministers der Volksaufklärung (Graf Tolstoi) dadurch Ausdruck, dass man den Grafen fast einstimmig durchfallen liess, als er für die Landschafts-Versammlung kandidirte. Charakteristisch sind auch die Verurtheilungen der Angeber durch die Friedens-Gerichte, indem man dieselben zur Kategorie der „Verläumder“ zählt. Vor diesen Gerichten werden auch siegreiche Prozesse gegen die Landjäger – diese neu ausgeheckten „Beschirmer der Grundlagen“ – ausgefochten.
Uebrigens sind auch seitens der „Liberalen“ einige Versuche gemacht worden, eine geheime Opposition gegen die Regierung zu organisiren; es wurden sogar Verhandlungen mit den Sozialisten gepflogen. Allein die Letzteren, unter ihnen der später heroisch gestorbene Ossinski, wiesen jede Vereinbarung zurück, weil die Vertreter der Liberalen die Forderung aufstellten, dass die „Narodniki“ das platte Land nicht aufwiegeln sollten.
Und was thut die Regierung genttber der allgemeinen Unzufriedenheit und dem ungeduldigen Harren auf Reformen?
Wie bekannt, hängt und erschiesst sie schon seit Jahren die „Schuldigen“, oft ohne jeden juristischen Nachweis der Schuld; bekleidet sie mit hoher Machtbefugniss die Hausknechte, Schutzleute, Landjäger. Seit Jahren reizt sie die öffentliche Meinung gegen sich auf durch Bedrückung der Universitäten, der Semstwo’s, der städtischen Selbstverwaltungen, durch Beschränkungen des Wahlrechts für lokale öffentliche Aemter ... Neuerdings ist an die Spitze der Regierung ein Mann gelangt, der es während seiner Amtirung als Satrap einiger Gouvernements verstanden hatte, sich durch seine quasi liberale Politik in der Gesellschaft populär zu machen. Diese liberale Politik bestand aber darin, dass er nach „nicht allzu entfernten“ und sehr „entfernten Gegenden“ Leute verschickte, welche irgend wie politisch unzuverlässig waren; dass er Todesurtheile fällen liess, um alsdann demonstrativ „wegen vollständiger Reue“ zu begnadigen; auf diese Weise suchte er seine Mildherzigkeit herauszustreichen und die Revolutionäre in den Augen der Genossen auf Grund dieser angeblichen „Reue“ zu brandmarken. (Letzteres gelang ihm übrigens nicht, da seine Absicht rechtzeitig von den sozialistischen Kreisen erkannt wurde.) Alsdann verschickte er alle Verwandten der in den Zentral-Zuchthäusern inhaftirten politischen Gefangenen, welche in der Nähe der Gefängnisse wohnten, um so den Gefangenen jede Verbindung mit der Aussenwelt zu rauben. Indem er einerseits so bestialisch gegen die Sozialisten vorging, streichelte er andererseits, soviel er konnte, die wenig anspruchsvolle Gesellschaft: spielte den Anwalt der lernenden Jugend, namentlich der Real-Anstalten, bereiste die ihm unterstellten Provinzen und hielt dabei liberal angehauchte Speechs und der gleichen. Zweifelsohne ist dieser Armenier klüger oder vielmehr pfiffiger als die übrigen „Regierer“ der russischen Lande, er mag wohl spüren, dass Herr Alexander nicht lange auf „seiner Besitzung“ schalten und walten wird, und so hat er sieh denn vorgenommen, es mit keiner Partei zu verderben, weder mit den „Herren“ noch mit den „Knechten“. Loris-Melikow ist ein Charlatan sui generis, ein beschränkter Streber, nur etwas gewandter als die Mehrzahl seiner bornirten Kameraden in der Verwaltung der ausgedehnten Besitzungen Alexanders, des „Befreiers“.
Die Chalatanerie, die Loris-Melikow während seines Charkower Satvapenthums geübt hatte, wendet er nunmehr in noch ausgiebigerem Maasse an. Seinen Amtsantritt als Diktator verherrlichte er dnrch die Verurtheilung Mafaidezki’s, welcher ein Attentat auf seine heilige Person verübt hatte, zum Tode binnen 24 Stunden. Alsdann folgten während seiner Regierung die Strangulirungen Losinski’s and Rosowki’s in Kiew, – des Ersteren wegen „Zugehörigkeit zu einer geheimen Gesellschaft“ und „wegen Uebergabe eines Exemplars einer Proklamation an eine zweite Person behufs Weiterverbreitung“. Charakteristisch sind in diesem Prozesse einige Auslassungen des Staatsanwaltes: „In Anbetracht, dass Losinski ein Zögling des Podolskischen geistlichen Seminars war, welches bereits einige schon abgeurtheilte Mitglieder der sozial-revolutionären Partei geliefert hat; in Anbetracht, dass Losinski als Freiwilliger in Serbien war (demnach ist die freiwillige Unterstützung der Slaven ein Verbrechen!) ist der Ankläger überzeugt, dass der Angeklagte als der sozial-revolutionären Partei angehörend betrachtet werden muss, „wenn auch, wie im vorliegenden Falle, gar keine direkten Beweise existiren, welche auf irgend welche Bekanntschaft mit den Sozialisten hinweisen.“ „Es ist nothwendig, den Boden zu reinigen, aus welchem die Sozialisten hervorgehen: die Katorga (Zwangsarbeit) schreckt sie nicht ab, die einzig abschreckende Strafe bleibt also – die Todesstrafe.“
Und da Losinski Soldat war, so heisst es in den bezeichneten Auslassungen des Staatsanwalts an anderer Stelle: „Von der Milde der Bestrafung hängt die Existenz der Armee ab, und mit dieser steht und fällt auch der Staat selbst.“ ―
Der blutjunge Rosowski (er zählte, so viel ich weiss, nicht über 19 Jahre) wurde ebenfalls gehängt, weil er einem Zweiten eine Proklamation des Exekutiv-Komites eingehändigt hatte.
Als dann auf einander die Prozesse Weimar-Michailow-Ssaburow in Petersburg, Jurkowski-Popow-Iwanow in Kiew erfolgten, spielte Loris-Melikow wieder den Milden: es fallen Todesurtheile, die er in lebenslängliche Katorga umwandelt – den schnellen schmerzlosen Tod in das langsame Hinsiechen unter der Geissel der „humanen“ Zuchthausverwaltung der Zentral-Zuchthäuser und der Katorga. Wenn man alle Verurtheilungen (politische) der letzten neun Monate in Charkow, Odessa [13] und den anderen Städten zusammenrechnet, so ergeben sich 100 Verurtheilungen zur Katorga und zwangsweisen Transportation nach Sibirien.
Aber ausser Diesen gibt es noch eine nicht unbedeutende Zahl von auf „administrativem Wege“ (ohne Gerichtsspruch) Verbannten.
Die Behandlung, welcher die Angeklagten sogar in den Gefängnissen der Hauptstadt ausgesetzt werden, wird am besten illnstrirt durch den Selbstmord-Versuch der Sozialistin Malinowskija; dieselbe wollte sich nämlich erhängen, weil man sie einer Untersuchung seitens der Gensdarmen und der Gefängniss-Aufseher unterwarf, bei welcher sie gezwungen wurde, sich gänzlich zu entkleiden. Dieselbe schamlose Prozedur wurde den Frauen Kalenkina, Natanson und Witanjewa zu Theil, welche infolge dessen eine Zeitlang krank darniederlagen.
Augenblicklich stehen die Prozesse in Angelegenheiten der beiden geheimen Druckereien, des Tschornii Peredjel und der Narodnaja Wolja bevor, sowie die Prozesse wegen einer im Frühjahr entdeckten geheimen Arbeiter-Druckerei, bei welcher Gelegenheit 16 Arbeiter arretirt wurden. Ausser diesen befinden sich noch eine ganze Reihe von Arbeitern und Studenten in Untersuchungshaft, bei welchen man irgend einen Theil einer Presse oder sonst Etwas gefunden hatte, was als ein zu einer Druckerei gehöriges Instrument u. dergl. angesehen werden konnte.
Trotz des bestens Willens Loris-Melikows, einerseits die Sozialisten auszurotten, andererseits aber auch die Gesellschaft nicht zu reizen, will ihm gerade wegen des Ersteren das Letztere durchaus nicht gelingen – weil es zur Zeit einfach unvereinbar ist. Schon die Macht der Hausknechte und der Landjäger allein chokirt und reizt fortwährend; dieselbe aber aufzuheben ist angesichts der unaufhörlichen neuen Lebenszeichen, welche die hundertköpfige Hydra des Sozialismus von sich gibt, unmöglich. Unterdessen werden sogar in den legalen Blättern Klagen und Beschwerden friedlicher Bürger laut, dass es vor der Willkür der Hausknechte und Landjäger nicht zum Aushalten sei! „Wohlgesinnte“ Bürger werden oft von den Hausknechten angehalten und befragt: „Wohin gehen Sie?“
Ein Kaufmann aus Jekaterinburg (Gouvernementsstadt am Ural) fährt z. B. mit seiner Frau zum Jahrmarkt nach Kamenski Sawod. Dem Herrn Landjäger erscheint die Frau als „Nihilistin“ verdächtig; zum Unglück hat sie auch ihre Papiere nicht mitgenommen und wird also aufgehalten. Das Zeugniss vieler Landleute aus dem benachbarten Dorfe, dass sie die Frau gut kennen, hilft nichts, und nur fünf Rubel, die dem Landjäger von der Bedrängten in die Hand gedrückt wurden, gaben sie der Freiheit und ihrem Manne wieder, nachdem ihr vorher vom Landjäger ihre Bücher, nämlich die Romane Der englische Mylord und Die zwölf schlafenden Jungfrauen, welche dem Hüter des „Gesetzes und der Grundlagen“ verdächtig erschienen, abgenommen worden waren. Derselbe Landjäger konfiszirte um dieselbe Zeit die Waaren einiger Kramhändlerinnen unter dem Verwände, sie handelten mit Kupfer-Vitriol.
Was nun die Aufhebung der III. Abtheilung betrifft, so ist dieselbe nur fiktiv, denn de facto behalten die Gensdarmen ihre löbliche Funktion und haben nach wie vor „auf dem Posten zu sein“. So passirte es erst unlängst, dass ein dienstthuender Gensdarmerie-Kapitän einen geachteten, allbekannten Arzt aus Moskau bei seiner Rückkehr aus dem Auslande auf der Grenze aufhielt und insultirte. Aus Tichwin (Gouvernement Nowgorod) beschwert man sich, dass die Briefe daselbst oft nicht an die Adressaten gelangen. Ein Kaufmann kommt nach Moskau und steigt in einem Gasthause ab. Früh Morgens empfängt er eine Depesche; er liegt noch unangezogen im Bette, und bevor er noch Zeit hatte, die Depesche zu eröffnen, dringt ein ganzer Haufe Gensdarmen in sein Zimmer. „Haben Sie das Telegramm gelesen?“ fährt man ihn barsch an. „Noch nicht.“ „So lesen Sie!“ Das Telegramm lautete nämlich: „Senden Sie sofort Geld; 20,000 von der Garde sind bereit!“ Nachher stellte sich heraus, dass der Telegraphist „Nägel“ (russisch gwosdi) mit „Garde“ (gwardia) verwechselt hatte. – Aus Tschirnigow kommen Klagen, dass viele Lehrer der städtischen Schulen verabschiedet wurden, weil sie der „Bekanntschaft mit Bekannten und Verwandten einiger politisch Unzuverlässigen verdächtig sind.“
Gleichzeitig werden aufs Neue 20.000 Rubel behufs Verstärkung des Polizeipersonals in Petersburg und Umgebung angewiesen.
Während die Zeitungen nun nachdrücklichst die Nothwendigkeit der Pressfreiheit betonen, sieht sich der Herausgeber der Russkaja Prawda (in Petersburg) genöthigt, nachdem eine Verwarnung der anderen gefolgt war, sein Blatt eingehen zu lassen, weil, wie er in der Abschiedsnummer erklärt, „er zur Ueberzeugung gelangt sei, dass es unter den gegebenen Pressverhältnissen auch bei grösster Vorsicht rein unmöglich sei, das Blatt irgend wie gewissenhaft und sorgfältig fortzufahren.“
Um nun die Gesellschaft durch Scheinreformen zu täuschen, hat man den verhassten Minister der Volksaufklärung, Graf Tolstoi, verabschiedet; die III. Abtheilung als aufgehoben erklärt, thatsächlich aber nur dem Minister des Innern unterstellt; eine scheinbare Revision in Sachen der Verbannten eingeleitet, wobei man ganz unverblümt öffentlich erklärte, dass die Zahl der auf administrativem Wege Verbannten im Ganzen „nur“ 1.696 sei, worunter 115 „Reuige und sich Bessernde“; und von diesen wieder wurde nur 90 Jünglingen gestattet, Lehranstalten zu beziehen. Die Nasführung wird unter Loris-Melikow überhaupt sehr schwunghaft betrieben. So schlägt er dem Petersburger Stadtrathe vor, aus seiner Mitte einige Deputirte zu wählen, die „falls der Vorsitzende der höchsten Kommission (d. h. L.-M.) es für nöthig erachtet, zur Kommission herangezogen würden.“ Ferner wurde eine Kommission zur Revision der Pressgesetze eingesetzt, welche irgend wann irgend was in Vorschlag bringen soll. Weiter wurde auch dem armen Volke die famose „allerhöchste Gnade“ zu Theil: man erliess nämlich bei Gelegenheit des 25jährigen Jubiläums Alexander II. einige ausstehende Abgaben, und zwar solche, auf deren Eintreibung schon längst jede Hoffnung aufgegeben worden war, nachdem auch die strengsten Massregeln, wie Beschlagnahme des Viehes, der Hausgeräthe und sogar der Wohnhäuser, nichts gefruchtet hatten.
Nun fragt es sich, ob es möglich sei, durch solche Kunstgriffe die öffentliche Meinung auf die Dauer einzuschläfern? Jeder, der irgendwie mit der Geschichte der Monarchie am Vorabend der grossen Revolution von 1789 bekannt ist, weiss, wie gefährlich eine derartige Hintergehung des Volkes und der Gesellschaft werden kann. Der russische Absolutismus stürzt in seiner Agonie von einer Dummheit zur anderen.
Vor jeder wirklich liberalen Massregel scheut auch Loris-Melikow zurück, und so ist es denn begreiflich, dass schon nach den ersten Wochen seiner Amtirung hartnäckig von Neidern ausgehende Gerüchte über seinen bevorstehenden Fall zu kursiren begannen. Und sobald ein Ereigniss wie das vom 19. November 1879 (die Explosion auf der Eisenbahn in Moskau) oder vom 5. Februar 1880 (die Explosion im Winterpalais) eintreten sollte, sich Loris-Melikow kaum auf seinem Posten halten können und die Reaktion dann wiederum zu ihrer alten Methode zurückkehren. Aber diese Reaktion gegen das Liebäugeln mit den Liberalen wird auch in der Gesellschaft noch tieferen Groll hervorrufen, als den der Jahre 1878–1879. Was dann? Eine Landesversammlung (semski ssobor) einzuberufen, Pressfreiheit zu gewähren – das ist denn doch für Alexander II. und seine treuen Diener zu schrecklich! Man denke nur: schon jetzt zeihen die Zeitungen, unter ihnen die Nowoje Wremja, den Finanz-Minister der Lüge und der Widersprüche, und den Grafen Walujef den Vorsitzenden des Ministerraths, – des Raubes von Staatsländereien zu Gunsten von Privatpersonen! Was Wunder also, dass sogar die Freiheit der Diskussion auf den landwirthschaftlichen Versammlungen nur auf spezielle Fragen rein technischen Charakters beschränkt wird, aus Furcht, irgend ein ehrlicher Mensch könnte einen Bericht über die Nothlage der Bauern, über die unerschwinglichen Abgaben, über die Knappheit des Bodenantheils u. dgl. unerquicklichen Dinge mehr einreichen. Ausserdem ist vielleicht noch irgend ein Krieg in Aussicht und kein Geld vorhanden, so dass man zu Anleihen bei fremden Banquier’s greifen muss, – da kann man doch wahrhaftig nicht verlangen, dass der Ruin des Landes ausposaunt werden darf ...
Und nun gar eine Landesversammlung, Pressfreiheit!! ―
Im Schlussabschnitt wollen wir vor Allem versuchen, ein Gesammtbild der Resultate der sozial-revolutionären Bewegung in Russland im letzten Jahrzehnt zu gewinnen. Wir schicken dabei die Bemerkung voraus, dass wir keinen Anspruch darauf machen, dass unsere Schlüsse absolut genaue sein werden. Eine ganze genaue Abschätzung dieser Periode wird erst in der Zukunft möglich sein. Bei der ungeheuren Komplizirtheit der gesellschaftlichen Erscheinungen ist die Möglichkeit immer vorhanden, in der Beurtheüung des Einflusses dieses oder jenes Faktors auf das erhaltene Resultat Irrthümer zu begehen. Die Verhältnisse, welche eine bestimmte gesellschaftliche Erscheinung zeitigen, sind zu zahlreich, ihre Wechselwirkung auf einander ist viel zu mächtig, als dass es möglich wäre, eine genaue Abgrenzung derselben mit Sicherheit festzustellen. Nichtsdestoweniger darf uns dieser Umstand nicht abhalten, eine annäherungsweise Abschätzung der Bedeutung eines solchen Faktors im öffentlichen Leben Russlands, wie es die moderne sozial-revolutionäre Bewegung ist, zu versuchen. Der Einfluss derselben in Bezug auf einige Erscheinungen ist viel zu ersichtlich, als dass man ihn in Zweifel stellen könnte. Ein Irrthum kann nur daraus entstehen, dass noch einige andere, vielleicht nicht so augenscheinliche Faktoren ausser Acht gelassen werden, oder dass ihrer Einwirkung auf gewisse Erscheinungen zu grosse Bedeutung beigelegt wird, während sie nur eine indirekte Beziehung zu denselben hat. Die Sache späterer Geschichtsschreibung wird es sein, diese Irrthümer zu berichtigen. Wir Zeitgenossen können aber das Bedürfniss in uns nicht ersticken, bezüglich der Resultate unserer Thätigkeit uns selbst Rechnung abzulegen.
Wenn ich von der sozial-revolutionären Bewegung spreche, so verstehe ich darunter die Gesammtheit aller sozialiatischen Gruppen und Schattirungen, die im Verlauf dieses Jahrzehntes auftauchten und thätig waren. Nur theilweise wird es nothwendig sein, dasjenige Element ganz besonders hervorzuheben, welches in den letzten Jahren in vieler Beziehung den lebhaftesten Einfluss hatte. Beginnen wir mit den direkteren und fühlbareren Resultaten.
Wenn wir die sozialistische Avantgarde des Jahres 1880 betrachten, so finden wir, dass sie trotz der unaufhörlichen ungeheuren Kräfteverluste jetzt zahlreicher ist, als die Avantgarde Anfangs der 70er Jahre. Wird heute ein Mangel an Personen gefühlt, so ist es nur in Bezug auf die bedeutend gesteigerten Parteibedürfiiisse. In den Jahren 1878–79 sind aus Petersburg, Odessa und Kiew Hunderte sozialistischer Arbeiter deportirt worden. Dieselben stellen schon einen merkbaren Prozentsatz unter den Hingerichteten und den zur Zwangsarbeit nach Sibirien und in die Zentral-Gefängnisse Verschickten dar. Und trotz dieser Entziehung propagandistischer und agitatorischer Kräfte in Arbeiterkreisen, bestehen in den meisten Industriezentren sozialistische Arbeitergruppen, welche die Sache ihrer Vorgänger mit Eifer fortsetzen. Ohne Uebertreibung kann gesagt werden, dass in Petersburg, Odessa, Kiew und Rostow am Don einige Tausend Arbeiter in verschiedenem Grade von der sozialistischen Propaganda angeregt sind und einer organisirten Arbeiterpartei, im buchstäblichen Sinne des Wortes, als Grundlage dienen werden, sobald nur die konstitutionelle Richtung an’s Ruder gelangt ist. Der Einfluss der sozialistischen Elemente zeigt sich auch in den Strikes der letzten Jahre, ja sogar in den akuteren Aeusserungen der Volksunzufriedenheit in den Städten; doch müssen wir uns in letzterer Beziehung auf diese Andeutung beschränken. Was das Land anbetrifft, so treten hier die Resultate der sozialistischen Thätigkeit weniger zu Tage, und zwar hauptsächlich darum, weil die innerhalb der Bauernschaft von der Propaganda gewonnenen Personen und Gruppen auf einen ungeheuren Raum verstreut sind und innerhalb einer Bevölkerung die nach Dutzenden von Millionen zählt, einfach verschwinden. So sehen wir, dass während das leitende sozialistische Personal sich nicht nur an Mitgliedern aus den privilegirten Kreisen, sondern auch an solchen aus dem Volke, bedeutend vermehrt hat, die Zahl der sozialistischen Parteigänger, dieser Lebensluft und conditio sine qua non der kämpfenden Elemente, zu einer verhältnissmässig sehr grossen angewachsen ist. Und diese Kreise erzeugen aus sich selbst wie durch generatio aequivoca immer wieder neue Elemente zum Ersatz der zu Grunde gegangenen Vorposten. ―
Die grössere Stärke der sozialistischen Partei äussert sich aber nicht nur in quantitativer, sondern auch in qualitativer Beziehung. Das durchschnittliche Niveau der Tapferkeit und Beharrlichkeit im Kampfe ist nicht nur bei den Vorposten, sondern auch bei der sogenannten Reserve bedeutend gestiegen. Hunderte von Kämpfern gehen heldenmüthig mit Verachtung des Feindes allen möglichen Gefahren entgegen, ohne den Kampf auf einen Augenblick einzustellen. Und einen nicht unbedeutenden Theil derselben bilden die Arbeiter. Zu Anfang der Bewegung waren es die Arbeiter, welche mit wenigen Ausnahmen stets die Angeber spielten; in den letzten Jahren aber sind bereits Dutzende von Arbeitern aufgetreten, die nicht nur nichts verriethen, sondern auch gegenüber den allmächtigen Feinden, am Vorabende der Verschickung nach den Bergwerken oder in die Zentralgefängnisse, ihre Menschenwürde zu wahren wussten. Die Anfangs 1879 in Kiew gelegentlich von Arretirungen im Kampfe mit der Polizei schwer verwundeten Arbeiter haben in ihren Todesqualen, die durch die Amputationsoperationen der Aerzte und das von ihren Feinden angestellte Verhör noch verstärkt wurden, kein einziges Wort ausgesagt, das die Freunde und Genossen irgend wie hätte kompromittiren können. Obnorski und Petersen, die vor zirka einem Vierteljahre verurtheilt wurden, haben weder in der Voruntersuchung, die 1½ Jahre dauerte, noch vor Gericht ihre Ueberzeugungen verleugnet. Die im Sommer dieses Jahres in der von ihnen selbst eingerichteten Druckerei verhafteten Arbeiter (wie verlautet, 16) haben rundweg abgeschlagen, irgendwelche Aussagen zu machen.
Aber auch das allgemeine Niveau der theils sozialistischen theils den Sozialisten sich nur anschliessenden Masse ist in Bezug auf die Bereitwilligkeit, die eigenen Interessen der Förderung des Kampfes aufzuopfern, bedeutend gestiegen. Dasjenige, dessen früher nur Einzelne fähig waren, wird jetzt von Leuten geübt, die ausserhalb der leitenden sozialistischen Sphäre stehen. Viele Funktionen, die früher einen nothwendigen Bestandtheil der Thätigkeit der Zentralkreise bildeten, sind jetzt an Personen und Gruppen übergegangen, welche sich entweder zum rein sozialistischen Kampfe erst vorbereiten, oder sogar mit demselben nur sympathisiren.
Wenden wir uns nun zum öffentlichen Leben überhaupt, so bemerken wir auch hier den Einfluss der sozial-revolutionären Bewegung, wenn auch Einflüsse anderer Art, wie beispielsweise des letzten Krieges und der finanziellen Unordnung, unzweifelhaft mit ins Spiel kommen. Das Anwachsen des oppositionellen Geistes in der Presse, in den Semstwo’s und den übrigen Organen der kommunalen Selbstverwaltung, verdankt seine Entstehung, wenn nicht ganz, so doch in gewissem Grade unzweifelhaft der Beharrlichkeit und Tapferkeit der Sozialisten. Die Zunahme der Beschwerden „wohlgesinnter“ Vertreter der verschiedenen Gesellschaftsgruppen über die ökonomische Lage des Volkes, über die übermässigen Steuern, über den Mangel an Grund und Boden, sind gleichfalls unzweifelhaft in gewissem Grade das Resultat der sozialistischen Agitation. Dass die sozial-revolutionäre Bewegung auf die Hebung der öffentlichen Meinung und der öffentlichen Sittlichkeit von Einfluss war, ist aus verschieden nach den Prozessen im Jahre 1877 gemachten Aeusserungen einiger „wohlgesinnten“ Bürger deutlich zu sehen. „Wir sahen bedeutende Vertreter des russischen Volkes vor uns“ sagten die Einen; „Mit gebrochenen Herzen sind wir von dannen geschieden,“ sagten die Anderen; augenscheinlich mit Gewissensbissen, dass sie, Leute von ehrwürdigem Alter und bedeutender Bildung, für die Befreiung des Vaterlandes von der Satrapenwirthschaft Alexander II. bisher so wenig gethan hatten.
Es unterliegt keinem Zweifel, dass zu dieser Steigerung des Grundtones der Presse und zum Wachsen der Opposition überhaupt in den letzten Jahren die Gruppe des Exekutiv-Komites am allermeisten beigetragen hat. Wenn die Heldenthat Wjera Sassulitschs vor der russischen Gesellschaft, wie vor der ganzen zivilisirten Welt, die barbarische und grausame Willkür der Zarischen Diener enthüllte, so haben die nachfolgenden Attentate und politischen Mordanschläge der ganzen Welt gezeigt, wie korrumpirt und machtlos die Regierung ist, wie es derselben an jeder aufrichtigen Unterstützung seitens der Gesellschaft mangelt. Das Exekutiv-Komite hat zu den Preisschwankungen der russischen Banknoten an den Börsen und zur Diskreditirung der Regierung sicher nicht wenig beigetragen. Und je mehr die Aufmerksamkeit Europas auf die inneren Angelegenheiten Russlands gelenkt wurde, um so mehr regte sich der Geist der Opposition in den gebildeten Klassen dieses Landes. Ohne zu übertreiben, können wir die Behauptung aufstellen, dass in der Geschichte der Kämpfe für die politische Freiheit Russlands das Exekutiv-Komite einen tiefen unauslöschlischen Eindruck hinterlassen wird. Und könnte jemals die Anmassung der Liberalen so weit gehen, bestreiten zu wollen, dass das Blut der Sozialisten das Land vom barbarischen Absolutismus gereinigt hat, so wird es, nach dem kühnen und unerschrockenen Kampfe des Komites gegen die Regierung sonst Niemand zu bestreiten im Stande sein. Indem es den liberalen Elementen die Möglichkeit, jemals sich mit ihren Verdiensten zu brüsten, dadurch entzieht, dass es auch bei der Organisirung eines mehr politischen Kampfes die Initiative ergreift, leistet das Exekutiv-Komite den Sozialisten den grossen Dienst, dass in Zukunft die Vorstellung jeder neueren Kulturerrungenschaft in Russland stets mit der sozialistischen Partei in Verbindung gebracht werden wird – Errungenschaften, die durch unerschütterliche Tapferkeit, heldenmüthige Unerschrockenheit und unermüdlichen Widerstand erreicht worden sind. Die Sozialisten in Russland werden also zur Bekämpfung der erwähnten Parteien nicht so viel Kraft aufzuwenden haben, als z. B. zur Bekämpfung der Republikaner in Frankreich oder der Mazzinianer in Italien nothwendig ist. Wie man sich auch sonst den Irrthümem des Exekutiv-Komites gegenüber verhalten möge, die Tragweite dieses Verdienstes ist unbestreitbar.
Wenn der Leser diese flüchtigen Bemerkungen über die Resultate der sozialistischen Bewegung des letzten Dezenniums durchgeht, so möge er sich des eingangs dieses Artikels über die Lage der Sozialisten und den Zustand der Gesellschaft zu Anfang der 70er Jahre schon Gesagten erinnern, und er wird leicht begreifen, dass die in Rede stehenden Resultate noch viel bedeutender sind, als manche Genossen in Russland selbst vermuthen.
Was nun die Frage über die Chancen in der nächsten Zukunft anbetrifft, so sind wir in dieser Beziehung natürlich nur auf Vermuthungen angewiesen.
Bezüglich der Verwirklichung des Programmes ist es wohl am wahrscheinlichsten, dass die Sozialisten in Russland ein analoges Schicksal zu erdulden haben werden, wie die extremen revolutionären Fraktionen in anderen Ländern. Die direkte, nächste Folge ihrer Anstrengungen werden einige Palliativ-Reformen sozial-politischer Natur sein, wobei noch ein Theil derselben eine den sozialistischen Zielen gerade entgegengesetzte Bedeutung haben dürfte. So wird z. B. das bei uns bevorstehende Parlament durch Organisirung des Kredites und von Uebersiedelungen in schwachbevölkerte Distrikte den Bildungsprozess des Kleinbauernstandes und des ländlichen Kleinbürgerthnms, dieses bekanntlich reaktionärsten Elementes, noch bedeutend besehleunigen. Andereraeits aber wird die politische Sturm- und Drangperiode die Möglichkeit geben, eine Volkspartei im wahren Sinne des Wortes zu organisiren; sie wird auch eine grössere Masse des Volkes dem politischen Leben zuführen, was seinerseits auf die Entwicklung der sozialistischen Partei günstig zurückwirken dürfte. Zieht man überdies die Masse der von der Propaganda aufgerüttelten Arbeiter in Betracht, ferner die Elemente, die jetzt noch ihre Thätigkeit in den Dörfern fortsetzen, – so erscheint es als sehr wahrscheinlich, dass der Druck der sozialistischen Partei auf das Parlament so gross sein wird, dass die Verfassung der Existenz extremer Parteien einige politische Garantien gewähren wird. Was die Frage anbetrifft, in welchem Grade die Sozialisten dann auf die Massen überhaupt zu rechnen haben, so ist sie, nach den Thatsachen zu schliessen, folgendermassen zu beantworten: Schon heute treten in den Dörfern Bauern auf, die ihre Sympathien für den Kampf der Sozialisten mit der Regierung laut aussprechen. In Bezug auf das Zarenthum hat ein Dorfschreiber ein bezeichnendes Abstimmungsresultat zu Tage gefördert. Er liess plötzlich die Bauern zur Versammlung einladen und erklärte ihnen, dass man ihre Meinung zu wissen wünsche, ob ein erblicher oder ein gewählter Zar besser sei. Da der Erstere auf Grund seiner Unabsetzbarkeit schonungslos schinden werde, der gewählte aber auch, weil er auf alle Fälle sich schnell zu bereichern wünsche, so sei es besser – meinten die Bauern – ganz ohne Zaren auszukommen. Wenn ich nicht irre, geschah dies im Gouvernement Podolien, und haben es die Behörden erst längere Zeit nachher durch Zufall erfahren. Man kann sich leicht vorstellen, welche Forderungen manche Gegenden des Reiches später aufstellen werden, wenn schon in Friedenszeiten die Stimmung eine solche ist. Sollten sich aber möglicherweise die Ziele unserer Partei nicht so verwirklichen, wie wir es gewünscht hätten, so dürfte doch die energische Agitation unter der Parole: „Uebergabe des Grund und Bodens zur Nutzniessung an die Bauern,“ parallel mit der Agitation und Propaganda in den Städten zu Gunsten der ökonomischen Revolution, die ausgebeuteten Klassen in Stadt und Dorf vereinigen; und so würde die Partei, indem sie die Tradition, dass der Grund und Boden den Bauerngemeinden gehöre, nährt und unterstützt, im Stande sein, der heranwachsenden Bourgeoisie die Möglichkeit abzuschneiden, mittelst ihrer individualistischen Ideale das Volk zu demoralisiren.
Ende Oktober 1880 |
P. Axelrod |
1. Unzweifelhaft hat die Art der Polemik des Herrn Dragomanow nicht wenig dazu beigetragen, die Beziehungen der russischen und polnischen sozialistischen Gruppen ihm gegenüber zu verschärfen.
2. Der erste Autor erwähnt das Bestehen von Gruppen, die sich sowohl im Wissenschaft, als einer nothwendigen Grundlage der sozial-revolutionären Thätigkeit, als auch zur Propagirung des Sozialismus überhaupt negativ verhielten; der Zweite kritisirt die geheime Gesellschaft, die von Stephanowitsch unter den Tschigiriner Bauern im Namen der kaiserlichen Gewalt gegründet wurde, mit scharfen Worten.
3. Der Rabotnik war das Organ derjenigen Gruppe, die sich vor Gericht (Prozess der 50) mit der Internationale solidarisch erklärte. Bald nach der Vernichtung dieser, der Moskauer, Gruppe ging auch der Rabotnik ein. Beide, sowohl der Moskauer Kreis, als auch die Redaktion des Rabotnik hatten die Nothwendigkeit der Propaganda und Agitation anerkannt. Zur ausschliesslichen, insbesondere prinziplosen, Putschmacherei verhielt sich die Redaktion des Rabotnlk ablehnend, dagegen theilte sie die Ansichten Bakunin’s in Bezug auf die Anarchie.
4. Es ist bemerkenswerth, dass sich unter dem Einflüsse der Ansicht vom unvermeidlichen Siege der kapitalistischen Prinzipien in Russland schon in den Jahren 1871–1872 eine Gruppe bildete, die nach Amerika zu übersiedeln und dort eine sozialistische Ackerbaukolonie zu gründen beschloss.
5. Er war es auch, der die im Zentralgefängniss Schmachtenden so marterte, dass sie sich entschlossen, entweder Hungertodes zu sterben oder Gleichstellung mit den gemeinen Verbrechern zu erwirken.
6. S. I. Jahrg. 2. Hälfte, pag. 367 u. ff.
7. Gelegentlich sei erwähnt, dass die schon angeführte Argumentation zu Gunsten des gemeinsamen Bodenbesitzes in ihren wesentliohen Punkten schon in der Semlja i Wolja erschien, in den Artikeln nämlich, die aus der Feder desselben Verfassers herrührten.
8. Durch Vermittlung eines Delegirten.
9. Das heisst der gross-, klein- und weissrussischen.
10. Denn der neu organisirte Bund ist sowohl den Tendenzen, wie auch theilweise der Zusammensetzung nach, ein direkter Nachfolger dieser Gruppe.
11. Nicht zu verwechseln mit dem längst zu Grunde gegangenen „Südbunde“.
12. So wurden die Landesversammlungen genannt, die in früheren Jahrhunderten von den Grossfürsten, ja selbst von Zaren bei wichtigen Gelegenheiten einberufen wurden, und deren Vertreter aus allen Ständen gewählt wurden.
13. In Odessa wurde eine geheime Gesellschaft ausfindig gemacht, welche sich aus Knaben der jüdischen Handwerkerschule rekrutirte. Diesen gab man dann ein paar ältere Jünglinge, u. A. einen gewissen Rublew, der von den Uebrigen getrennt behandelt wurde und bei dem man nur eine einzige Broschüre theoretischen Charakters vorfand, zu „Führern“.
Zuletzt aktualisiert am 20. September 2016