Viktor Adler

Der Weg nach Hainfeld

(1. Jänner 1909)


Der Kampf, Jg. 2 Heft 4, 1 Jänner 1909, S. 145–154.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Am Silvesterabend wird es genau zwanzig Jahre her sein, seit in "einem Wirtshaussaale in Hainfeld die Neugründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in Oesterreich vollzogen wurde. Seit dem 31. Dezember 1888 hat die kämpfende Arbeiterschaft aller Zungen in Oesterreich ein gemeinsames Programm und eine einheitliche Organisation. Dieser Geburtstag verdient es immerhin, dass wir ihm einen Moment der rückschauenden Betrachtung widmen.

Eine Flut von Erinnerungen stürmt auf uns ein, wenn wir jener schicksalsschweren, unvergesslichen Stunde gedenken. Was seither, in diesen zwanzig Jahren, die österreichische Sozialdemokratie geworden ist, steht lebendig und deutlich genug vor aller Augen. Aber wie sie den ersten Schritt, den schwersten, den entscheidenden gemacht, das wissen heute nur mehr wenige und Jahr um Jahr wird die Zahl derer geringer, die sich ein Bild jener merkwürdigen Zeit vor Hainfeld machen können. Denn Hainfeld war nicht nur ein Anfang, sondern auch ein Abschluss. Beendigt wurde doch am Hainfelder Parteitag nicht nur jene bitter traurige Periode der Spaltung der Partei, der völligen Ohnmacht des Proletariats, sondern auch die schwere Arbeit der Sammlung, des mühseligen Wiederaufbauens kam in jenen Tagen zu ihrem ersten grossen Erfolg. Es war ein Gleichenfest.

Um der heute lebenden Generation ganz deutlich zu machen, was vor zwanzig Jahren die Herzen aller Genossen mit Jubel erfüllte, müsste man eigentlich die Geschichte der Spaltung der Partei schreiben und müsste jenen Zustand der Lähmung darstellen, der das österreichische Proletariat von 1884 bis 1887 niederhielt. Das ist freilich ganz unmöglich, aber vielleicht kann versucht werden, an einzelnen Zügen zu zeigen, welches die ganz eigenartige politische Arbeit war, die geleistet werden musste, um die Einigung der Partei herbeizuführen, die in Hainfeld besiegelt wurde.

Seit der Verhängung des Ausnahmszustandes über Wien und einen grossen Teil von Niederösterreich war der letzte Rest der bereits sehr gelockerten Organisation fast gänzlich zertrümmert. In der Nacht des 30. Jänner 1884 wurden einige hundert Genossen von Polizisten aus den Betten geholt und aus dem Ausnahmsgebiet ausgewiesen. Der österreichische Ausnahmszustand wirkte vielfach brutaler als sein Muster, der kleine Belagerungszustand unter dem deutschen Sozialistengesetz. Allerdings konnten Zuständige nicht ausgewiesen werden, aber dafür war die Wirkung der Ausweisung nicht durch die Geltung der Ausnahms-verfügungen befristet; wer ausgewiesen wurde, war für immer heimatlos gemacht. Gegen die Ausweisung gab es kein Recht des Rekurses, die Polizei entschied in erster und letzter Instanz und brauchte ihren Ukas nicht zu begründen. Diese furchtbare Massregel wirkte weit schlimmer, als die schwersten Strafen es tun können. Denn sie zwang unwiderstehlich alle, die nicht zuständig waren, sich aus der öffentlichen Tätigkeit zurückzuziehen. Nicht die bescheidenste Funktion in dem harmlosesten Bildungsverein konnte gewissenhafterweise einem Nichtzuständigen überlassen werden und soweit es noch Versammlungen gab, konnten nur Zuständige es wagen, auf die Tribüne zu steigen. Aber die Polizei sorgte dafür, dass es auch sonst dazu wenig Gelegenheit gab. Die Fachvereine wurden aufgelöst, ihre Zeitungen eingestellt, Versammlungen entweder, weil öffentlich, prinzipiell nicht geduldet, oder, wenn von Vereinen veranstaltet, verboten. Alle diese Massregeln wurden allerdings vor allem und mit voller Wucht nur gegen die radikale Fraktion gerichtet. Aber für die gemässigte Fraktion war es fast ebenso furchtbar, dass sie geschont wurde. Denn es war beinahe beschämend geworden, kein Objekt der polizeilichen Brutalität zu sein, und die Radikalen versäumten nicht, bitteren Hohn und schimpfliche Verdächtigung gegen die Gemässigten zu richten, die unter den grössten Opfern ihr Blatt und ihren politischen Verein sowie einige kleinere Organisationen aufrecht hielten. Das Blatt Die Wahrheit wurde auch bald freiwillig eingestellt; der politische Verein „Wahrheit“ sollte wenige Jahre später der unentbehrliche, eifrig ausgenützte Boden der politischen Arbeit beider Fraktionen werden.

Was in Wien durch Ausnahmsverfügungen bewirkt wurde, besorgte man in den böhmischen Industriegebieten ohne diesen verfassungsmässig vorgesehenen Deckmantel. Auch dort wurde mit den Organisationen aufgeräumt, die Arbeiterpresse vernichtet und den Rest besorgte ein in Prag wider alles Gesetz eingerichteter Strafsenat, vor den aus ganz Böhmen die angeblichen „Geheimbündler“ geschleppt wurden, und zwar in Ketten.

Das Schlimmste aber war nicht die Tollwut der Bureaukratie, weit verhängnisvoller war für die Bewegung der in unversöhnliche Gehässigkeit ausgeartete Zwist der Fraktionen. Die Radikalen erschienen den Gemässigten als Räuberbande, die Gemässigten wurden von den Radikalen als Ordnungssozialisten, Wassersuppler, Polizeisozialisten verhöhnt. Josef Peukert, der später als Affiliierter der Polizei entlarvte böse Geist der Radikalen, verstand es vortrefflich zu verleumden und seine systematischen Verdächtigungen der Gemässigten übten ihre Wirkung noch lange nachdem er – merkwürdig prompt – am Vorabend der Verhängung des Ausnahmszustandes über die Grenze verduftet war. Die Gemässigten waren unstreitig die Minderheit, hatten aber eine verhältnismässig grosse Zahl von durchgebildeten, redegewandten und geschulten Genossen zur Verfügung. Bei den Radikalen überwog das Temperament, die Tatenlust und vor allem die Phantasie. Während die Gemässigten in Grundanschauung, Organisation und Taktik den Typus der deutschen Sozialdemokratie aufwiesen, war bei den Radikalen allmählich die Öffentliche Organisation ganz zurückgetreten und an ihrer Stelle war eine Geheimorganisation ausgebildet worden, die grosse Opfer kostete, mit erstaunlicher Hingebung ausgebaut wurde, aber freilich versagen musste, als sie sich im entscheidenden Moment erproben sollte. Nach dem Gedankengang, den Peukert plausibel machen wollte, hätte nämlich in dem Augenblick, da alle die verhassten „Sicherheitsventile“ und verdächtigen „Palliativmittel“, als welche alle Möglichkeit öffentlicher Betätigung dargestellt wurde, durch den Ausnahmszustand beseitigt waren, nun die erhoffte Explosion erfolgen sollen. Statt dessen trat eine furchtbare Kirchhofsruhe ein. Die Geheimorganisation zerfiel zwar nicht sofort, sie wurde vielfach mit bewundernswerter Zähigkeit und Mut aufrechterhalten, aber sie brachte es nirgends zu nennenswertem Funktionieren. Nicht viel mehr konnte geleistet werden, und das war anerkennenswert genug, als die Unterstützung der Inhaftierten und Ausgewiesenen. Allerdings tauchten von Zeit zu Zeit kleine, unbeholfen hergestellte Flugblätter auf, aber ihre Verbreitung kostete schwere Opfer und sie konnten an Agitation gar nichts leisten. Die aus England importierten Flugblätter, meist aus der Polizeiwerkstatt der „Autonomie“ stammend, waren in vielen Fällen nur dazu bestimmt, den oft ganz unbeteiligten Adressaten der Polizei ans Messer zu liefern. Aber die Wiener Polizei begnügte sich nicht mit diesen einfachen Methoden. Sie benutzte die Geheimorganisation, um sie durch ihre Lockspitzel zu verseuchen, verleitete arme, unerfahrene Menschen dazu, sich an den läppischesten Unternehmungen zu beteiligen, an Herstellung von „Bomben“, die nie losgehen konnten, von „Brandflaschen“, die absolut feuersicher waren, an „Falschmünzerei“, wobei Guldenstücke erzeugt wurden, die kein Kind täuschen konnten. Die Opfer dieser Polizeischurkereien, deren Grossmeister der Oberschurke Polizeirat Frankl war, wurden dann vor den Ausnahmsrichter Holzinger geschleppt und unbarmherzig zu schweren Kerkerstrafen verurteilt. Das schürte den Grimm der Arbeiterschaft, aber der Grimm blieb ohnmächtig ... Eine wirkliche terroristische Organisation hat es in Oesterreich nie gegeben. Gewiss wurden phantastische Pläne genug gesponnen, aber es blieb bei der Phantasie, die sich nirgends über eine gewisse Kindlichkeit erhob und nie zu geordneter Absicht verdichtete.

Die radikale oder, wenn man will, anarchistische Theorie und die polizeiliche Praxis wirkten zusammen, um den österreichischen Arbeitern jeden Gedanken an Ausnützung der politischen Rechte zu verekeln und ihnen jede Tätigkeit in gesetzlichem Rahmen als lächerlich erscheinen zu lassen. Dem Anarchismus des Peukert ist die Anarchie der Behörden vorausgegangen, und die wenigen terroristischen Akte, die den Vorwand für den Ausnahmszustand bieten mussten, wiegen federleicht im Vergleich zu den furchtbaren Verbrechen, die die Staatsbehörden gehäuft haben. Es war eine plumpe Nachäffung und Vergröberung des verruchten Systems, durch das Bismarck und sein Scherge Puttkamer die deutsche Sozialdemokratie niederwerfen wollten. Es war in Oesterreich schlimmer als drüben, weil hier sofort schrankenlose Zügellosigkeit jedes einzelnen Bezirkspaschas eintrat, während in Deutschland die Brutalität und Grausamkeit doch mit einer gewissen Pedanterie funktionierte und man ihre Wirkungen ungefähr berechnen konnte.

Diese absolute Rechtsunsicherheit, diese Verwilderung der Bureaukratie hat am meisten dazu beigetragen, jene radikale Strömung in der Arbeiterschaft hervorzurufen. Sie war vor allem bedingt durch die furchtbar niedrige Lebenshaltung der Arbeiterschaft, der jedes Kampfmittel fehlte, um sich aus dem Elend einigermassen zu erheben. Das Koalitionsrecht existierte in der Praxis nicht, die Gewerkschaften wurden vernichtet, so wie sie sich rühren wollten. Dazu kam als zweiter Faktor der Mangel an Betätigungsmöglichkeit für ein lebendiges, tatkräftiges und tatendurstiges Proletariat. Und drittens die Verzweiflung an allem, was gesetzliche Ordnung heisst. Dass durch Gesetze etwas gebessert werden könnte, konnte zuletzt einem Oesterreicher einfallen. Der Kampf um das politische Recht wurde so durch die österreichischen Behörden kompromittiert und konnte als eine gänzlich wertlose Sache erscheinen. Es konnte so weit kommen, dass Peukert noch in der vorletzten Nummer der Zukunft, unmittelbar vor dem Ausnahmszustand, es wagen durfte, zu schreiben: „Einem Vereinsrecht, wie wir es in Oesterreich besessen haben, wird von keinem Arbeiter eine Träne nachgeweint werden ... Bereits längst haben sich die Arbeiter gewöhnt, sich auch ohne Vereine zu behelfen, und wie die Erfahrung lehrt, sind sie auch nicht schlechter gefahren. Ein stummer Händedruck, ein flammender, vielsagender Blick werden dieselbe Wirkung machen als die stundenlangen Salbadereien einer gewissen Wassersuppentheorie, bis endlich doch die Morgenstrahlen der aufsteigenden Freiheitssonne das aus finsterer Nacht erwachende Volk bescheinen werden etc.“ Die Sätze sind sehr bezeichnend; Herr Peukert und Graf Taaffe waren ganz einig in der Ueberzeugung, dass die Arbeiter kein Vereinsrecht brauchen.

Wenn die Radikalen alle politischen Rechte für Schwindel hielten, so war ihnen das Wahlrecht geradezu ein Greuel und die Wertung des Wahlrechtes wurde geradezu zum Schiboleth der beiden Fraktionen. Es war begreiflich, dass die Gemässigten, genötigt, den Wert der politischen Betätigung und insbesondere des Wahlrechtes zu verteidigen, ihm gelegentlich Eigenschaften zuschrieben, die es nicht besitzt. Sie konnten aber mit gutem Fug darauf hinweisen, wie die deutsche Sozialdemokratie dank dem Wahlrecht alle Schändlichkeiten des Sozialistengesetzes überdauern konnte. Aber das blieb vergebens; die Radikalen verhöhnten das Wahlrecht als einen Schwindel, ja in der Hitze des Gefechtes verstiegen sie sich dazu, es für die schlimmste Gefahr für die Arbeiter zu erklären. Peukert durfte übrigens so weit gehen, auch den Arbeiterschutz in Bausch und Bogen als Schwindel zu erklären, ein Beweis, wie arg bei den Radikalen die Leidenschaft jede Ueberlegung unterjocht hatte.

Während der Jahre 1884 und 1885 war es von den Kämpfen der Fraktionen stiller geworden, weil es überhaupt keine Bewegung gab. Nur unter der Asche glimmte es weiter, die Gemässigten hielten ihren Verein „Wahrheit“ zusammen, hatten noch ein Blatt, den Volksfreund in Brünn, das Genosse Hannich redigierte, und hatten allerdings spärliche Förderer der Organisation, insbesondere in Nordböhmen, zu erhalten gewusst. Von den Radikalen war nicht viel zu sehen, aber sie hielten sich, soweit es ging, in ihren Wiener Gruppen aufrecht und hatten insbesondere in Steiermark und Kärnten einige gute Verbindungen. Beiden Resten der ehemaligen Fraktionen war die Ruhe und Untätigkeit unerträglich geworden und diese erste Gemeinsamkeit konnte zu einer gemeinsamen Aktion benützt werden. Graf Taaffe gab dazu Gelegenheit. Im April 1886 legte er dem Abgeordnetenhaus den Entwurf eines Sozialistengesetzes vor. Warum er sich diesen Luxus gönnen wollte, ist bis auf den heutigen Tag nicht zu erforschen gewesen. Das Ding war eine Potenzierung und Karikierung des deutschen Sozialistengesetzes, war natürlich nicht schlimmer als der faktische, durch die Polizei geschaffene Zustand, aber freilich seine Festlegung für eine lange Zukunft. Der Protest gegen diesen Plan musste versucht werden. Eine von Arbeitern einberufene Versammlung wäre ohne Gnade verboten worden. Darum wurden Leute zur Einberufung veranlasst, denen man nicht leicht was verbietet. Die Abgeordneten Kronawetter, Pernerstorfer, Äusserer, dazu der Fabriksdirektor Paul Pacher, erklärten sich bereit dazu, zusammen mit mir für den 9. Mai in Schwenders Kolosseum eine Volksversammlung einzuberufen mit der Tagesordnung: Das österreichische Sozialistengesetz. Zur Vorbereitung dieser Versammlung kamen am 6. Mai in einem kleinen Wirtshaus in der Laudongasse die führenden Genossen radikaler und gemässigter Richtung zusammen. Zum erstenmal nach langen Jahren blutigsten Zwistes sassen die streitenden Brüder wieder an einem Tisch und berieten eine gemeinsame Aktion. Das war eine ganz unscheinbare, kleine Sache; aber es war der erste Schritt, und damit war der entfernte Beginn einer blassen Möglichkeit gegeben, nach und nach zu einer Aussprache zu kommen: In derselben Nacht wurde noch die Resolution verfasst, am Morgen fuhren zwei Genossen nach Pressburg, liessen sie dort drucken und in der Versammlung, die massenhaft besucht war, flatterten plötzlich fünftausend Flugzettel unter die Menge. Vielleicht ist es von Interesse, den Text hier abzudrucken, weil er charakteristisch ist für die Sprache, die wir damals führten:

Resolution

In Erwägung, dass das geplante Sozialistengesetz nur ein Ausdruck der Ratlosigkeit und Angst der herrschenden Klassen gegenüber der grossen historischen Tatsache der Entstehung und des imposanten Anschwellens der sozialdemokratischen Arbeiterpartei ist;

in Erwägung, dass ebensowenig irgend ein Ausnahmsgesetz als irgendwelche Zwangsmassregeln imstande sind, eine mächtige Kulturbewegung zu unterdrücken oder auch nur zu hemmen;

in weiterer Erwägung, dass durch das in Rede stehende Gesetz zu der absoluten politischen Rechtlosigkeit der Arbeiter noch hinzugefügt werden soll, dass sie von der im Staatsgrundgesetz gewährleisteten Gleichheit vor dem Gesetz prinzipiell ausgeschlossen werden, dass insbesondere ihre pflichtmässigen Bestrebungen im Interesse der Partei als gemeine Verbrechen gebrandmarkt werden sollen; in schliesslicher Erwägung, dass das heute bestehende Vereins-, Press- und Versammlungsgesetz derart elastisch und engherzig ist und so gehandhabt wird, dass jede Organisation der Arbeiter zu politischen oder ökonomischen Zwecken gehindert und verfolgt wird:

protestieren die heute, Sonntag den 9. Mai 1886, in Schwenders Kolosseum versammelten Arbeiter gegen dieses Gesetz als eine schädliche und unnütze Massregel und erklären, dass es den Lehren der Wissenschaft ebenso wie den Grundsätzen freien Menschentums ins Gesicht schlägt, erklären weiter, dass sie nach wie vor für ihr Parteiprogramm treu, einig und fest einstehen werden, in dem Bewusstsein, dass der Sieg des Proletariats das notwendige Resultat des Ganges der Geschichte ist, und fordern schliesslich die Abgeordneten aller Nationen, deren Rechtsgefühl noch nicht vollständig vom Klassenegoismus oder Byzantinismus erstickt ist, auf, nicht nur gegen dieses Gesetz zu stimmen, sondern auch dahin zu wirken, dass den Arbeitern ihre bisher vorenthaltenen politischen Rechte endlich zuerkannt werden.

Der letzte Satz dieser Resolution war bereits eine schwer erkämpfte Konzession von radikaler Seite. Bezeichnend ist übrigens für das herrschende Misstrauen, dass sonst sehr vernünftige Genossen des radikalen Flügels fest über-zeugt waren, dass die Versammlung „Polizeimache“ sei; wie wäre sie denn sonst erlaubt worden?!

Aus jenem Sozialistengesetz Taaffes ist, nebenbei gesagt, nichts geworden als eben dieser wichtige erste Schritt zur Reorganisierung der Partei. Die Vorlage blieb wesentlich dank dem Eingreifen Pernerstorfers in einem Ausschuss liegen und wurde bald vergessen.

Nun begann eine Agitationsarbeit, die, in so kleinem Rahmen sie geführt wurde, doch folgenreich und eigenartig war. Vor allem musste beiden Fraktionen zum Bewusstsein gebracht werden, dass der gegenwärtige Zustand der Partei die dauernde Lähmung der Arbeiterschaft bedinge, dass aber unmöglich eine der beiden Fraktionen die andere aufsaugen könne. Es musste unbedingt eine völlig neue Organisation, eine neue Partei geschaffen werden. Dann musste die Ueberzeugung geschaffen werden, dass diese Organisation und ihre Tätigkeit notwendig öffentlich sein müsse. Die absolute Unfruchtbarkeit der geheimen Organisation lag auf der Hand, aber dass öffentliche Tätigkeit in Oesterreich, in Wien, unter dem Ausnahmszustand möglich sei, dazu gehörte freilich ein starker Glaube, der sich nur aus der Erkenntnis gewinnen liess, dass die österreichische Bureaukratie unfähig ist zu irgend einer Ausdauer und Konsequenz, gewiss nicht im Guten, aber auch nicht im Bösen.

Für die Gemässigten war es sehr schwer, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass die mit ihnen seit Jahren kämpfenden Radikalen alles das, was ihnen als so' furchtbar widersinnig und parteischädlich erschien, in gutem Glauben getan hätten und dass sie insbesondere in ihrer Gesamtheit nicht verantwortlich seien für die Gewalttaten einzelner Individuen, deren Verdammung sie allerdings nicht als ihre Sache ansehen wollten. Im Kampfe mit den Radikalen hatte sich im Gegensatz zu ihnen bei den Gemässigten ein einigermassen philisterhafter Abscheu vor jeder Art und Form von Gewalt und eine übertriebene Vorliebe für das, was man damals den „gesetzlichen Weg“ nannte, eingestellt. Nicht etwa, dass das österreichische Gesetz ihnen imponiert hätte. Der Boden des Gesetzes ist eine vortreffliche Sache – aber er muss vorhanden sein. In Oesterreich war er eben nicht vorhanden und dass gerade die rechtlosen Proletarier die einzigen sein sollten, die das Gesetz, das zu ihrer Zuchtrute missbraucht wurde, respektieren, wäre gewiss zu viel verlangt gewesen. Aber es war auch ein Kern richtiger Empfindung in der Abneigung der Radikalen, Leute, die sich aus blinder Verzweiflung und Empörung über die damaligen Zustände zur Gewalt hatten hinreissen lassen, als Verbrecher zu verabscheuen. Sie mussten jedoch zur Erkenntnis kommen, dass solche Gewaltakte schädlich sind, weil sie den proletarischen Kampf erschweren und unsere Propaganda geradezu lähmen. Man muss sich nicht vorstellen, dass die Genossen, für die „Hoch Kammerer!“ förmlich ein Erkennungszeichen war, etwa sehr blutdürstige Leute gewesen wären. Ganz im Gegenteil! Ich habe hundertmal die Erfahrung gemacht, dass die sogenannten Anarchisten warmfühlende Menschen waren, deren Empfinden durch die sie umgebenden Greuel unheilbar verletzt wurde und denen die Schärfe und Energie des Denkens fehlte, um ihre Empfindungen zu zügeln. Die grosse Mehrzahl aber begnügte sich damit, für terroristische Taten Sympathie zu haben, eine ganz untätige, unfruchtbare und sehr genügsame Sympathie. Ihnen, die sich trotzdem als Helden fühlten und die von manchen ausserhalb der Arbeiterschaft stehenden gewissenlosen Leuten in ihrem Irrglauben bestärkt wurden, musste ins Gesicht gesagt werden, dass ihr vermeintlicher Radikalismus ganz wertlos für das Proletariat sei: „ein Anarchist, das ist ein Mann, der wartet, bis irgendwo irgendwer auf irgend jemanden ein Attentat verübt – dann freut er sich“. Der Radikalismus war geradezu in Untätigkeit umgeschlagen. Das radikale Schlagwort „mit allen Mitteln“ musste vernünftig eingeschränkt werden und wurde schliesslich auf die Formel gebracht, der proletarische Kampf solle geführt werden „mit allen zweckdienlichen und dem natürlichen Rechtsbewusstsein des Volkes entsprechenden Mitteln“.

Die schwierigste Aufgabe war natürlich für die Notwendigkeit der politi-sehen Aktion einen Ausdruck zu finden, der für die Radikalen nicht geradezu eine schroffe Verleugnung ihrer Vergangenheit war. Ihnen ein solches Abschwören zuzumuten, war auch ganz überflüssig. Denn in den Debatten jener endlosen Nächte, die wir in kleinen rauchigen Wirtshäusern führten, hatte sich gezeigt, dass der gute Boden sozialdemokratischer Erziehung, die marxistische Grundanschauung bei den Besten der Radikalen nur verdeckt, aber nicht verloren war. Man musste nur zurückgehen bis auf diese gemeinsame Grundlage, nur gewissermassen wegkratzen, was sich darüber gelagert hatte an verworrenen Vorstellungen, an taktischen Utopien, an verführerischen Phrasen und von Ungeduld eingegebener Gefühlspolitik, um sich wieder zurecht zu finden. Ueber das Endziel war kein Streit. Dass den Weg zum Ziel nur das kämpfende Proletariat selbst finden und bahnen könne, darüber war man einig; dass nur ein klassenbewusstes, organisiertes, geistig und physisch kampffähiges Proletariat diese Aufgabe erfüllen könne, war klar und hatte zur unausweichlichen Konsequenz die Anerkennung der Notwendigkeit der Anwendung aller Formen des politischen Kampfes und der Erringung der dazu nötigen politischen Rechte. Freilich auch des Wahlrechtes; das war schwer für die alten Radikalen, aber sie mussten schliesslich begreifen, dass uns nichts ferner liege, als das Wahlrecht als eine Panacee zu überschätzen und dass es, von allem anderen abgesehen, kein besseres Mittel der Agitation und Organisation gebe, als das Wahlrecht, das wir ja übrigens erst zu erkämpfen hatten. Das war die bittere Ironie in der Tragödie des Parteizwistes gewesen, dass man sich für und gegen die Wertschätzung eines Rechtes gegenseitig aufrieb, das den Arbeitern zu geben den herrschenden Klassen nicht im Traume einfiel.

Ueber ein Jahr lang dauerten die Diskussionen, die endlich zur Feststellung einiger allgemeiner Sätze führten, die wir scherzweise die Fundamentalartikel nannten, deren genauer Text übrigens verloren gegangen ist; er war nur handschriftlich in wenigen Exemplaren vorhanden, die bei irgend einer Haussuchung verunglückt sein dürften. Sie hatten übrigens ihren Dienst getan. Sehr bald konnte ein Schritt weiter gemacht und an die Ausarbeitung eines Parteiprogrammes gegangen werden.

Nun würde freilich das alles noch viel schwerer, ja vielleicht unmöglich gewesen sein, hätte das Einigungswerk nicht ein Organ zur Verfügung gehabt, die Gleichheit, die seit Weihnachten 1886 erschien. Sie war von keiner der beiden Fraktionen abhängig, diente aber beiden. In ihrer Probenummer schon konnte sie erklären, die Erkenntnis nehme zu, dass die Arbeiter eine politische Partei bilden müssen und dass der Weg offener Agitation gegangen werden muss. Schon in der fünften Nummer durfte die Gleichheit einen Aufruf zur Sammlung für die deutschen Reichstagswahlen veröffentlichen. Mit Rührung denke ich noch heute daran, wie da die Genossen aus den Werkstätten in unsere Redaktion in der Gumpendorferstrasse kamen, ihre armen Kreuzer zusammensuchend; und es waren recht viele „Radikale“ darunter, geschworene Feinde des Wahlrechtes ; sie spürten aber und sagte nes: Das ist der Protest gegen das Sozialistengesetz, das ist der Ausdruck der Solidarität mit unseren Genossen draussen. Da merkte man: das Eis war gebrochen. Die Gleichheit nahm sich gerade kein Blatt vor den Mund, trotz des Ausnahmszustandes. Die Regierung scheint eine Zeit lang nicht recht gewusst zu haben, was sie aus der Sache machen solle und der Staatsanwalt liess uns volle acht Nummern, eine immer schärfer als die andere, ungeschoren. Dann aber muss die Regierung doch gemerkt haben, dass es Ernst ist, und nun wurde jede Nummer konfisziert. Da war’s aber zu spät; denn die Verbreitung war bereits prachtvoll organisiert und die legale zweite Auflage war schwerer zu kriegen als die beschlagnahmte erste. Durch die Gleichheit, die in allen Industriezentren verbreitet wurde, konnten die Fäden der Organisation wieder angeknüpft werden, die in den Redaktionen von Wien und Brünn ihren Mittelpunkt fanden. Zugleich begann wieder eine rege Versammlungstätigkeit, zu der die Besprechung des von Plener ausgeheckten Projektes, den Arbeitern einen Brocken Wahlrecht auf dem Umwege von Arbeiterkammern zu geben, einen harmlos scheinenden Anlass gab. Das zweite Thema bei solchen Versammlungen war gewöhnlich „Lage der Arbeiter“, und so konnte das politische wie das wirtschaftliche Programm der Partei dargelegt werden. Natürlich regnete es Versammlungsverbote, Auflösungen, Prozesse und Drangsalierung aller Art. Da wir aber wieder einmal tätig waren, da die dumpfe Stagnation gewichen war, wurde das alles lachend ertragen. Die Gleichheit führte einen rastlosen Kampf mit allen Behörden. Wir liessen uns nichts mehr ruhig gefallen und die „Belehrung der Bezirkshauptleute“ begann. Grosser Wert wurde auf die Verbreitung der Kenntnis der Gesetze gelegt und unsere Genossen legten damals den Grund zu jener juristischen Schulung, die später die Wut, aber oft auch den Neid der Bureaukraten erregt hat.

In Wien ging es rasch vorwärts. Am 3. April 1887 konnte der Verein „Wahrheit“ eine Volksversammlung mit der Tagesordnung: „Unsere politischen Forderungen“ abhalten, bei der Gemässigte und Radikale referierten und einstimmig folgende Resolution angenommen wurde:

In Erwägung, dass die kapitalistische Gesellschaftsordnung ihrem Höhepunkt und damit ihrem Untergang entgegengeht,

dass die Begleitersdieinungen und Folgen dieser Wirtschaftsform: Vereinigung der Produktionsmittel in immer weniger Händen, Massenelend und Arbeitslosigkeit in immer kolossalerem Umfange wachsen,

dass somit die Entwicklung zu einer neuen Wirtschaftsform mit ausschliesslichem Eigentum der Gesellschaft an sämtlichen Produktionsmitteln geschichtlich notwendig ist und zugleich vom Standpunkt der Menschlichkeit mit allen Mitteln erstrebt werden muss;

in Erwägung, dass die Unkenntnis der Bedingungen der ökonomischen Entwicklung von den herrschenden Klassen gewaltsam aufrecht erhalten wird;

dass aber die Klarheit und Einsicht in dieselben auf beiden Seiten die einzige Möglichkeit bieten, dass sich der Klassenkampf rasch und mit möglichst wenig Opfern vollzieht;

verlangt die heutige Volksversammlung

die Beseitigung aller Fesseln der freien Meinungsäusserung, welche entweder in der Form von Gesetzen oder in der Form von polizeilicher Bevormundung und Schikane die Verbreitung klarer Vorstellungen über den Sozialismus und seine Ziele hindern und verlangt volle Freiheit für die sozialdemokratische Agitation und Propaganda. – Sie verlangt somit in politischer Hinsicht:

Die Erfüllung dieser Forderungen hält die heutige’Versammlung für unerlässlich, soll derUebergang der kapitalistischen Wirtschaftsordnung zur sozialistischen sich ohne allzu grosse Opfer vollziehen.

Man sieht, dass der Kern des künftigen Programms der Partei damit gegeben und akzeptiert war und dass die wichtigsten Streitpunkte erledigt waren. Nun konnte an die Wiederherstellung der Organisation gegangen werden. In Wien vereinigte ein „Fünfzehnerkomitee“, das sich im Notfall auch als Ausschuss des Vereines „Wahrheit“ darstellen konnte, die Vertrauensmänner beider ehemals getrennten Fraktionen. Der erste Ansatz einer Zusammenfassung der Organisation war gegeben. Aber Vorsicht war geboten. Nicht etwa wegen der Behörden. Die versuchten uns allerdings einen Geheimbundprozess zu machen, der aber schmählich ins Wasser fiel. Der Adjunkt Hugo Bürger war der saubere Untersuchungsrichter – sonst war er übrigens ein recht unsauberes Subjekt –, der auf die Frage, wessen man mich eigentlich beschuldigte, mit düsterem Pathos wörtlich erklärte: „Sie sind beschuldigt, an Stelle der anarchistischen Kettenorganisation die sozialdemokratische Massenorganisation nach deutschem Muster anzustreben.“ Ich unterdrückte mit Mühe mein Lachen, hielt mich aber an die von uns ausgegebene probate Parole, absolut keine Frage zu beantworten und jede Aussage zu verweigern. Alle Fünfzehn wurden wir verhört, aber heraus kam gar nichts dabei als die Blamage des Herrn Untersuchungsrichters, der die plumpsten Tricks spielen liess, beim Verhör Radikale und Gemässigte gegeneinander zu verhetzen und zu verleumden suchte. Vorsichtiger als die dumme Spitzelei der Behörden mussten aber die Traditionen der Radikalen behandelt werden, die man gelehrt hatte, sich „Föderalisten“ zu nennen und die in jeder straffen Zusammenfassung der Aktion verruchten „Zentralismus“ sahen. Es war geradezu ein Dogma geworden, dass der „Bewegungsfreiheit des Einzelnen möglichst grosser Spielraum gelassen“ werden musste, wie die traditionelle Formel lautete. Nur langsam liess sich eine demokratische und zweckdienliche Methode, die Parteigeschäfte zu führen, einrichten, aber allmählich gelang es doch, die Einheit und Schlagfertigkeit der Aktion zu ermöglichen und von der alten Tradition blieb nur – und zwar bis zum heutigen Tage – eine gewisse Elastizität unserer Parteiorganisation übrig, die neben manchen üblen doch auch viele recht gute Folgen gehabt hat.

Nun konnten wir weiter gehen und die Neugründung der Partei vorbereiten. Ich wurde mit der Ausarbeitung des Programms beauftragt, das zur Schonung alter Empfindlichkeiten Prinzipienerklärung heissen musste. Karl Kautsky, der damals in Wien war, revidierte die Arbeit und gab seinen Segen dazu. Dann wurde die Zustimmung zur Abhaltung des Parteitages bei den einzelnen Gruppen – Organisationen konnte man es kaum noch nennen – in allen Industriezentren mündlich eingeholt. Bei einer solchen Reise wurden Pokorny und ich in Reichenberg auf offenem Marktplatz verhaftet und unter Gendarmenaufsicht zur Abreise von Reichenberg veranlasst. Wir kamen aber drei Tage später zurück und hielten die notwendige Besprechung bei finsterer Nacht am Fusse des Jeschken ab. Diese vielfach heitere Episode, die gelegentlich erzählt werden sollte, hatte aber eine sehr ernste und wohltätige Folge. Das Reichenberger Kreisgericht hängte uns nämlich einen Geheimbundprozess mit Hausdurchsuchung und sonstigem Zubehör an, der wie gewohnt beim Prager Landesgericht ausgetragen werden sollte. Da man aber nicht wagte, uns in Untersuchungshaft zu nehmen, konnten wir in aller Ruhe an den Obersten Gerichtshof gegen die Delegierung des Prager Gerichtes appellieren. Unserer Beschwerde wurde stattgegeben und damit war der Ausnahms-zustand für Nordböhmen gebrochen, der Tätigkeit des Prager Sozialistensenats definitiv ein Ende gemacht.

Natürlich war all diese Geheimbundriecherei ganz absurd. Wir suchten nichts mehr als die öffentlichste Oeffentlichkeit und nur wenn uns das Polizeiverbot öffentliche Verhandlung unmöglich machte, musste eben hinter geschlossenen Türen getan werden, was getan werden musste. Dem § 2 des Versammlungsgesetzes, der Versammlungen, die auf geladene Gäste beschränkt sind, der behördlichen Kontrolle entzieht, gaben wir eine Anwendung, von der sich seine Erfinder wohl nichts haben träumen lassen. Aber wenn uns die Behörde nicht störte, war sie uns als Zuhörer willkommen. Wir wollten uns ihr möglichst deutlich zu Gehör bringen. Das war die gerade entgegengesetzte Methode wie die bis vor kurzem bei den Radikalen geübte; aber sie war wirksam, hatte den Reiz der Neuheit und befriedigte auch, allerdings in anderer Art, den Betätigungstrieb unserer Genossen.

Sehr viel mehr als in diesen flüchtigen, aphoristischen Notizen gegeben ist, müsste berichtet werden, sollte ein irgendwie deutliches Bild jener Zeit fiebernder Tätigkeit, hoffnungsvollster Arbeitsfreude geboten werden. Es war ein wahrer Germinal für die Partei. Wie diese gehetzten, getretenen, als Polizeifutter verachteten, als gewalttätige Bestien gehassten Proletarier sich stolz aufrichteten, ungeahnte Fähigkeiten zur politischen Arbeit zeigten, wie sie nach schwerer Tagesarbeit Nacht um Nacht bis in die Morgenstunden mit brennendstem Interesse die Diskussionen über schwierige theoretische und taktische Fragen führten – das wird allen, die jene Zeit miterlebt, unvergesslich sein. Oh, die Propaganda war nicht leicht. Die alten Vorurteile, gestützt auf leidenschaftlich verteidigte Argumente, konnten nur mit zäher Geduld besiegt werden. Aber dann kam auf einmal ein Aufflammen, worin alle die verjährten Gehässigkeiten verzehrt wurden.

Hier ist nur von den Genossen deutscher Zunge die Rede gewesen. Bei den Polen, Slowenen und Italienern entstanden damals die ersten Anfänge einer Organisation – in Hainfeld waren sie durch je einen Delegierten vertreten – hingegen hatte das tschechische Industrieproletariat schon eine ganz erhebliche Entwicklung hinter sich. Auch bei den tschechischen Genossen hatte die Spaltung ihre bösen Folgen gehabt und in Böhmen hatte die Persekution empörend brutale Formen angenommen. Die grosse Majorität der tschechischen Organisationen war im Fahrwasser der Radikalen. Eine nationale Sonderung, national autonome Organisationen, wie wir sie heute haben, gab es übrigens streng genommen damals noch nicht, aber schon seit 1882 gab es eine tschechoslawische Arbeiterpartei, die sich als Teil der Sozialdemokratie fühlte und ihre Schicksale teilte. Der Einigungsprozess, der von Wien ausging, erfasste natürlich auch die tschechische Organisation und schon zu Pfingsten 1887 gab ein in Brünn abgehaltenes, von deutschen und tschechischen Gesangvereinen stark besuchtes Sängerfest Gelegenheit zur Annäherung der Fraktionen beider Zungen. Weihnachten desselben Jahres fand in Brünn der Parteitag der tschechoslawischen Arbeiterpartei statt, der den Streit in den Hauptpunkten bereinigte, ein vorläufiges Programm feststellte und beschloss, bei der demnächst zu erwartenden Einigung der deutschen Genossen mit ihnen zusammen in eine einzige sozialdemokratische Arbeiterpartei aufzugehen. In Hainfeld waren denn auch eine ganze Anzahl tschechischer Genossen als Delegierte anwesend.

So waren denn die Vorbedingungen für die formelle Einigung der Partei endlich errungen. In der Empfindung der Massen war der Streit bereits überwunden, davon gab das am 4. Dezember 1887 beim Schwender abgehaltene zwanzigste Gründungsfest des Arbeiter-Bildungsvereines Zeugnis; die sich in langjähriger Feindschaft befehdet hatten, umarmten einander und sahen sich feuchten Blickes als Kampfgenossen ins Auge, als bei den Klängen der Marseillaise die rote Vereinsfahne der Bäcker geschwenkt wurde. Die Regierung wusste den historischen Moment in ihrer Weise zu würdigen; sie liess durch den Polizeirat Frankl einige der Beteiligten wegen Ueberschreitung des Festprogramms zu Geldstrafen verknurren. Aber von der mächtigen Gefühlsäusserung dieser Stunde bis zur nüchternen Feststellung eines genau durchdachten Programms und zur Aufrichtung einer geordneten und zweckmässigen Organisation war noch ein schwerer Weg, der wieder fast ein Jahr kostete, und erst am 3. November 1888 konnte die Gleichheit die Einladung zum Parteitag veröffentlichen. Die Redaktionen der deutschen und tschechischen Parteiblätter erliessen die Einladung und wir warteten ruhig ab, ob die Behörden trotz der streng eingehaltenen gesetzlichen Formen ein Verbot wagen würden. Da sie das doch zu gewagt zu finden schienen, vereinbarten wir Ort und Zeit; wir wählten Hainfeld, den Sitz einer kleinen, aber tüchtigen Organisation, weil es in Niederösterreich, aber ausserhalb des Aus-nahmsbezirkes lag und weil sich Graf Auersperg – der spätere Handels- und Ackerbauminister – als Bezirkshauptmann von Lilienfeld als vernünftiger Mann erwiesen hatte, von dem kein brutaler Ueberfall zu gewärtigen war.

So trafen wir uns denn nach Weihnachten in Hainfeld und am 31. Dezember war das Programm der Partei beschlossen und ihre Einigkeit hergestellt. So mancher von uns denkt an jenen Tag als an die schönste Silvesterfeier seines Lebens.

Was Hainfeld geleistet hat, sagt nicht nur das Protokoll des Kongresses, sondern die Geschichte der Partei, die diesem Kongress die Klarheit des Prinzips, die Energie der Taktik und die Geschlossenheit der Organisation dankt. In Hainfeld wurde zum Abschluss gebracht, was in hundertfältiger Mühsal von Jahren erarbeitet worden war. Die Periode der Spaltung, der jugendlichen Irrtümer war zu Ende, das Proletariat Oesterreichs war reif und kräftig geworden, fähig und entschlossen, seine geschichtliche Mission in Angriff zu nehmen.

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Vielleicht fragt jemand, welchen Eindruck die Tatsache dieses Parteitages auf die bürgerliche Oeffentlichkeit, auf die Regierung gemacht? Antwort: gar keinen. Sie verstanden nichts davon. Acht Monate nach diesem Parteitag wurde die Gleichheit ausnahmsgesetzlich eingestellt und ihr Herausgeber und Redakteur vor dem Ausnahmsgerichtshof, der zur Verfolgung anarchistischer Bestrebungen bestimmt war, zu schwerer Arreststrafe verdonnert. Aber während er die Haft abbüsste, wurde draussen zum erstenmal die Maifeier abgehalten, und zwar mit solcher Wucht und solcher Wirkung, dass der Ausnahmszustand zusammenbrach; er war unmöglich geworden. Fast zwei Jahre haben die erleuchteten Beherrscher Oesterreichs nötig gehabt, um zu begreifen, was in Hainfeld passiert war.


Zuletzt aktualisiert am 6. April 2024