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Der Kampf, Jahrgang 2 2. Heft, 1. November 1908, S. 49–53.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Für die Sozialdemokratie sind die Landtagswahlen am 26. Oktober erledigt worden. In den Zensuskurien hat sie kaum etwas zu suchen, gewiss nichts zu gewinnen. Die Wahlen haben uns das Ergebnis gebracht, dass sechs Sozialdemokraten in den Landtag einziehen werden und dass, soweit Vergleiche möglich sind, unsere Stimmenanzahl gestiegen ist. In Wien haben wir die Bezirke mit erheblicher proletarischer Majorität erobert, von den Landbezirken haben wir den einzigen, den wir gewinnen konnten, wirklich gewonnen. Dieses Monstrum eines Wahlbezirkes wurde erobert trotz aller geometrischen Künste Gessmanns und die Bedeutung dieses Sieges kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Er wurde errungen dank der bewundernswerten Aufopferung und Pflichttreue unserer Genossen und, das muss ausdrücklich gesagt werden, dank der ganz ausserordentlichen Arbeitsleistung unseres Kandidaten, des Genossen Dr. Renner. Diese Arbeit wird ihre Früchte für die Partei tragen, die noch weit wertvoller sind als das in glänzend geführtem Kampfe ersiegte Mandat.
Das Resultat der Wahlen in Wien hat keine Ueberraschung gebracht. Wer versuchte, sich trotz der durch die Wahlagitation bewirkten begreiflichen und notwendigen optimistischen Suggestion ein ruhiges Urteil zu bewahren, musste zu der Prognose kommen, dass der Sozialdemokratie die Bezirke mit grossen proletarischen Majoritäten zufallen müssen, dass aber auf die Bezirke, die bei der Reichsratswahl nur in der Stichwahl gewonnen wurden, gar nicht, auf Bezirke, die nur knappe sozialdemokratische Majoritäten aufzuweisen hatten, nur mit sehr geringer Wahrscheinlichkeit zu rechnen sei. Zu diesem Urteil musste eine sehr einfache Erwägung führen. Wir haben für Reichsrat, Landtag und Gemeinde (Allgemeine Wählerklasse) drei verschiedene Grundlagen des Wahlrechtes. Von diesen drei Systemen ist das für den Landtag das für die Arbeiterschaft ungünstigste und zugleich das günstigste für die christlichsozialen Gegner. Für den Landtag gilt die dreijährige Sesshaftigkeit wie für die Gemeindewahl; es gilt weiter der Ausschliessungsgrund der „Armenunterstützung“ (nicht nur der „Armenversorgung“ wie für das Reichsratswahlrecht); beides sind Momente, die viele Tausende von Wählern, und zwar praktisch nur von Arbeiterwählern, vom Wahlrechte ausschliessen. Für den Landtag gilt weiter die Wahlpflicht, die nahezu ausschliesslich den bürgerlichen Parteien zugute kommt. Das Landtagswahlrecht vereinigt also alle Nachteile des Gemeindewahlrechtes für die Sozialdemokraten mit allen Vorteilen des Reichsratswahlrechtes für die Gegner; es nimmt uns das Maximum von Wählern und führt den Gegnern das Maximum von Wählern zu. Beide Momente haben die Wirkung, unsere Majoritäten in Minoritäten zu verwandeln, uns Wahlkreise zu entreissen; das erste Moment – dreijährige Sesshaftigkeit und Ausschliessung wegen Armenunterstützung – vermindert ausserdem unsere Stimmenzahl. Die Sozialdemokratie ist also bei der Landtagswahl schon von Gesetzes wegen nicht nur relativ – in Bezug auf die Möglichkeit, Mandate zu ge-winnen –, sondern auch absolut – in Bezug auf die Möglichkeit, ihre Stimmenzahl zu vermehren – ganz ausserordentlich benachteiligt.
Daraus ergibt sich aber zugleich, dass wahlstatistische Vergleiche zwischen den Ergebnissen der drei Wiener Wahlen 1906 – Gemeinderatswahl –, 1907 – Reichsratswahl – und 1908 – Landtagswahl – nur mit grösster Vorsicht zu machen sind, weil die Grundlage der Ziffern eine völlig verschiedene ist. Die Gesamtziffern für Wien sind folgende:
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Stimmen |
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Wahlberechtigte |
Sozialdemokraten |
Christlichsoziale |
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1906 |
359.117 |
98.112 |
110.936 |
1907 |
366.958 |
124.605 |
157.519 |
1908 |
355.571 |
107.986 |
168.941 |
Vor allem sei bemerkt, dass die Ziffer der 1906 für die Sozialdemokraten abgegebenen Stimmen mindestens 5.000 Wähler des bürgerlichen Freisinns einschliesst, der bei jener Gemeinderatswahl im vierten Wahlkörper keine Kandidaten aufgestellt hatte, was insbesondere für den I., II. und IX. Bezirk in Betracht kommt, in welchen drei Bezirken 1908 zusammen rund 11.000 bürgerliche „freiheitliche“ Stimmen abgegeben wurden. Die richtige Zahl der sozialdemokratischen Stimmen 1906 ist also mit rund 93.000 eher zu hoch als zu niedrig angenommen. Wenn man die zwei Wahlen mit dreijähriger Sesshaftigkeit vergleicht, sind also die sozialdemokratischen Stimmen von rund 93.000 auf rund 108.000, also um 15.000 gestiegen. Der Einfluss der Wahlpflicht, der sich bei den Arbeiterwählem nur in sehr mässigem Grade geltend macht, brachte zugleich den Christlichsozialen einen Zuwachs von 58.000 Stimmen, die von rund 111.000 auf rund 169.000 stiegen. Der Vergleich mit der Reichsratswahl 1907 ergibt eine Verminderung der sozialdemokratischen Stimmen, der nicht überraschend ist, da das Landtagswahlrecht eben schlechter ist; dass diese Verminderung aber 16.600 Stimmen beträgt, ist freilich nicht allein diesem Umstande geschuldet.
Damit aber kommen wir eben auf ein anderes Kapitel. Die Arbeiterschaft in Wien oder, allgemeiner und richtiger gesagt: alle Gegner der Christlichsozialen in Wien und am meisten die Arbeiterschaft wird bei jeder Wahl in schweren Nachteil gesetzt, nicht allein durch die Gebrechen des Gesetzes, sondern noch weit mehr durch die Verbrechen der Verwaltung. Wir sprechen an dieser Stelle ohne alle Leidenschaft und mit vollem Bewusstsein der Verantwortung für das Gewicht dieser Anklage. Was bei früheren Wahlen schon mit Händen zu greifen war, ist bei diesen Wahlen bis zur Evidenz festgestellt: Der Wiener Magistrat und die niederösterreichische Statthalterei haben sich des Missbrauchs der Amtsgewalt in einem Umfang schuldig gemacht, der nur als Massenverbrechen gewertet werden kann. Und dieses Massenverbrechen – das kann aus dem Umfang sowie aus der Art der Tat bewiesen werden – ist nur zum Teil aus Fahrlässigkeit, zum anderen und grösseren Teil mit voller Absicht begangen worden. Weil dem aber so ist, weil es sich um ein doloses Delikt handelt, das am hellen Tage vollzogen wurde, ist das Ministerium des Innern daran mitschuldig und in gesteigertem Masse dafür mitverantwortlich. Die Stunde wird kommen, wo Herr v. Bienerth zur Rechenschaft gezogen werden wird.
Es ist hier nicht der Ort und liegt nicht in unserer Absicht, den amtlichen Wahlschwindel in seiner Vielgestaltigkeit aufzuzeigen. Wir stellen nur fest, dass es für die magistratische Behörde, die unter unmittelbarem christlichsozialen Einfluss handelt, keinerlei Hemmung durch die Amtspflicht gibt, sobald ein parteipolitisches Interesse in Frage kommt. Der christlichsoziale Funktionär ist, das muss man leider als aus der Erfahrung abstrahierte Regel aufstellen, mit einer partiellen Moral insanity behaftet, für sein Streben, seiner Partei Vorteile zuzuschanzen und ihren Gegner zu schädigen, gibt es keine andere Grenze als den Wunsch, sich nicht erwischen zu lassen. Seine Amtsmoral, wenn sie in anderen Beziehungen vorhanden ist, verschwindet spurlos, sobald ein Parteiprofit ins Spiel kommt. Das Gefühl dafür, dass der Beamte die Pflicht hat, unparteiisch zu sein, ist rest-los verschwunden und mit einer geradezu pathologischen Naivität wird über Gesetz und Recht hinweggegangen. Noch schlimmer steht es um die Psychologie des Amtsmissbrauchs, den die Statthalterei begeht. Die Exzesse der ersten Instanz werden durch die von keinem sittlichen Bedenken gebändigte Kraft der Parteileidenschaft motiviert; die zweite Instanz sündigt ausschliesslich aus Schwäche und Feigheit, sie verkriecht sich unausgesetzt hinter bureaukratische Schliche und sucht ihr schlechtes Gewissen durch juristische Finessen nicht sowohl zu betäuben als zu verbergen. Wecken die Praktiken des christlichsozialen Magistrats Empörung, so ist die Amtsführung der Statthalterei in Wahlangelegenheiten mehr geeignet, Ekel zu erregen.
Dieses scharfe Urteil, das hier im vollen Bewusstsein der Verantwortlichkeit dafür ausgesprochen ist, kann hundertfältig begründet werden. Für die Zwecke dieser Darlegung genügen einige wenige Tatsachen. Der Magistrat und die Statthalterei haben die Wahlrechtsbedingung der dreijährigen Sesshaftigkeit umgewandelt in die Bedingung des Erweises der dreijährigen Sesshaftigkeit. Dadurch allein schon ist es möglich, die Wählerliste gegen das Eindringen von Tausenden Wahlberechtigten zu verteidigen, die zwar die vom Gesetz geforderte Bedingung der Sesshaftigkeit erfüllen, die aber den durch eine Reihe von nicht von ihnen verschuldeten Umständen erschwerten Beweis nicht völlig lückenlos und absolut zwingend erbringen können. Die Mängel des polizeilichen Meldungswesens und die amtsnotorische Schlamperei der Hausbesorger bei der Abmeldung werden bewusst, dolos zum Vorwand genommen, um T ausenden missliebigenWählern das Wahlrecht zu rauben. Die Statthalterei sanktioniert und praktiziert diese Methode, obwohl eine ganze Reihe von Urteilen des Reichsgerichtes sie als eine Verletzung des Rechtes der Staatsbürger gebrandmarkt hat. Der Minister kennt diese Urteile des Reichsgerichtes, denn er hat sie im Amtsblatt publiziert, er weiss, dass nicht nur der Magistrat, sondern auch die Statthalterei diesen autoritativen Urteilen direkt und systematisch zuwiderhandelt, aber er rührt keine Hand, um diesen gehäuften, in die Tausende gehenden Amtsverbrechen zu wehren. Ein zweiter Punkt. Vom Wahlrecht ist ausgeschlossen, wer in Armenversorgung steht oder innerhalb der zwei letzten Jahre eine „Armenunterstützung“ genossen hat. Diese niederträchtige Bestimmung trifft die besitzlose Bevölkerung, am meisten natürlich die schlecht gezahlten und unregelmässig beschäftigten Schichten der Lohnarbeiter. Der Magistrat legt den Begriff „Armenunterstützung“ ungebührlich weit aus und er wird sich wohl vom Reichsgericht eine Belehrung holen, sowie erst das Reichsgericht feststellen musste, dass eine einmalige Aushilfe von ein paar Kronen noch keine „Armenversorgung“ sei. Das ist aber nicht das Schlimmste. Wenn amtliche Listen der „Armenunterstützten“ amtlich benützt und die Unterstützten vor Auflegung der Wählerlisten ausgeschieden würden, so wären die Betroffenen in der Lage, sich dagegen durch Reklamation zu wehren. Das wäre eine in dem Umfang, wie die Ausscheidung geschieht, brutale, aber relativ redliche Methode. Allzu redlich für den Wiener Magistrat. Denn gegen die falsche Anwendung dieser Methode könnte sich der Betroffene durch die Reklamation wehren. Darum bewirkt der Magistrat die Ausscheidung der Unterstützten nicht selbst und von Amts wegen, sondern sie werden „von dritter Seite“ hinausreklamiert, das will sagen, ein christlichsozialer Armenrat benützt seine amtliche Kenntnis, um als Privatmann, als Wähler die wirklich oder angeblich Unterstützten ihres Wahlrechtes zu berauben. Das hat den Vorteil, dass die Beraubten sich gegen das ihnen zugefügte Unrecht nicht wehren können, weil sie bis wenige Tage vor der Wahl nichts davon wissen, gewiss aber nicht früher davon erfahren, bis jede Möglichkeit verschwunden ist, dagegen irgend wirksamen Einspruch zu erheben. Zu der antisozialen Brutalität des Gesetzes tritt hier die Tücke des Verfahrens, aber auch der gewohnte Missbrauch der Amtsgewalt, diesmal in der Form der Auslieferung der amtlichen Daten über die Armenunterstützung an eine Privatperson. Nicht zu reden von der beträchtlichen Zahl von wegen Armenunterstützung Hinausreklamierten, die nie einen Heller bekommen haben. Aber wenn die „dritte Seite“ im Zuge ist, nimmt sie es nicht so genau und niemand sieht ihr auf die Finger. Am wenigsten die Statthalterei, die dazu verpflichtet wäre, die aus amtlicher Erfahrung weiss, dass vielfältiger Unterschleif geübt wird, und die trotzdem gemäss dem Antrag des Magistrats verfährt in gut gespieltem Vertrauen auf die Zuverlässigkeit dieser Amtsstelle und natürlich ohne den Auszuschliessenden Gelegenheit zu geben, sich über die Behauptungen der „dritten Seite“ zu äussern.
Wir begnügen uns mit dieser einen Gruppe von Tatsachen, die geeignet sind, die Zahl der unerwünschten Wähler zu vermindern. Wir schweigen von den Methoden, die Zahl der gefügigen Wähler zu vermehren, von dem Aufmarsch der Toten und Ausgewanderten, von dem Schicksal der nicht zustellbaren Legitimationen und Aehnlichem. Das Angeführte genügt. Die Arbeiter-Zeitung hat bei jeder Wahl überwältigendes Material zur Geschichte der Wiener Wählerlisten beigebracht und insbesondere bei dieser Landtagswahl eine entsetzliche Reihe von „Schandtaten“ aktenmässig, unwiderleglich und unwiderlegt, ja unwidersprochen festgestellt.
Welchen Umfang und damit welchen Einfluss auf das Wahlresultat diese Momente haben können und haben, dafür sei nur die Tatsache angeführt, dass die Zahl der in den Wählerlisten Verzeichneten in Wien bei den gleichen Wahlrechtsbedingungen heuer kleiner war als im Jahre 1906, dass sie in diesen 2½ Jahren von 359.117 auf 355.571, also um 3.546 gesunken ist. Die amtlichen Bemühungen des Magistrats und der Statthalterei haben also nicht nur den natürlichen Zuwachs der Wählerzahl, den man auf rund 7.000 im Jahre schätzen kann, sondern ausserdem noch 3.500 Wähler aufgezehrt. So grotesk diese Ziffer wirkt, über die Wirkungen, die jene Amtstätigkeit im Gefüge, in dem Aufbau der Wählerschaft, in ihrem inneren Gefüge bewirkt und die viel tiefer gehen als die Ziffer zeigt, gibt sie keine Auskunft.
Aus dem Gesagten ist zu erkennen, dass die wissenschaftliche Wahlstatistik für die Beurteilung der Wiener Wahlen ganz besondere, sonst in der Welt völlig unbekannte Methoden anwenden müsste. Die politische Wertung der Wahlziffern darf an diesen Tatsachen nicht vorübergehen und es ist mehr als wahrscheinlich, dass die Sozialdemokratie dem Wahlschwindel nicht nur eine beträchtliche Verringerung ihrer Stimmenzahl, sondern auch den Verlust eines oder des anderen Mandats zur Last schreiben muss. Das ist aber lange nicht das schlimmste.
Weit schlimmer nämlich als jeden der Sozialdemokratie zugefügten Mandatsverlust erachten wir den Schaden, den die Wiener Wahlmache dadurch stiftet, dass sie das Wesen und den Charakter der Wahlarbeit verändert und verdirbt. In Wien beginnt jede Wahlkampagne mit einem furchtbaren Kampf um die Wählerliste, einem Kampf um das individuelle Wahlrecht. Der Hauptschauplatz des Wahlkampfes ist zunächst nicht die Seele der Wählerschaft, sondern das Papier der Wählerliste. Der Wahlkampf, der die politische Ueberzeugung, den politischen Willen der Wähler zum Gegenstand haben soll, wird völlig verdrängt von dem Kampfe gegen den Wahlsdiwindel. Die Bewältigung des Reklamationsverfahrens allein macht eine Riesensumme von Arbeit nötig, und dass sie getan wird, ist allerdings ein Ruhmestitel der sozialdemokratischen Organisation, ihrer Exaktheit und Leistungsfähigkeit, aber wir dürfen es nicht verhehlen, dass es, genau genommen, politisch unproduktive Arbeit ist, die uns auf gezwungen wird. Der grandiose Verteidigungsapparat gegen die Fälschung der Wählerlisten, die mühevolle wochenlange Arbeit von vielen Hunderten von Genossen, alles das gilt nicht der Einwirkung auf die Ueberzeugung und den Willen der Wähler, sondern ausschliesslich der Sicherung ihres bedrohten Rechtes, zu wählen. Gewiss wird auch dieser Kampf insofern politisch wirken, als er die Arbeiter lehrt, dass ihr Wahlrecht bedroht ist von der herrschenden Partei, dass es preisgegeben wird von der staatlichen Behörde und dass es von niemandem geschützt wird als von der Sozialdemokratie. Aber mit diesem ungeheuren Arbeitsaufwand könnte weit eindringlichere agitatorische Arbeit geleistet, könnte viel wertvollere politische Aufklärung- geschaffen werden. Es ist eine Kraftverschwen-dung furchtbarster Art, zu der in Wien unsere Partei gezwungen wird.
Weiter aber muss die durch die amtlichen Praktiken geschaffene Rechtsunsicherheit mit Notwendigkeit zu einer Verwilderung der Wahlsitten führen. Bis zu welchem Grade die christlichsoziale Partei selbst dieser Verwilderung unterliegt, brauchen wir hier nicht erst im einzelnen zu schildern. Schlimmer für uns ist, dass auch die Sozialdemokratie davon bedroht ist, von diesem Uebel ergriffen zu werden. Das ist nicht erstaunlich, sondern das Gegenteil wäre ein blankes Wunder. Die Arbeiter Wählerschaft sieht, dass von Wahl zu Wahl das Mass von Gewalttätigkeit, von skrupellosem Missbrauch der Amtsgewalt, von listiger Uebervorteilung steigt, das sich ihr entgegenstellt. Es ist bei jeder Wahl mehr geradezu ein Verzweiflungskampf gegen physische Uebermacht, den sie zu bestehen hat. Muss da nicht, da auch Sozialdemokraten Menschen und keine Engel sind, die Tendenz begünstigt werden, die Gewalt mit Gewalt, die List mit List zu bekämpfen? Muss nicht geradezu automatisch die politische Gegnerschaft zur bittersten Gehässigkeit, zur unversöhnlichen Feindseligkeit werden?
Mit gutem Gewissen können wir Sozialdemokraten sagen, dass wir alle Kraft aufwenden, um den Folgen des christlichsozialen Wahlkampfsystems ent-gegenzuarbaiten, dass wir – und zwar bisher im ganzen mit Erfolg – sowohl der Verflachung als der Verrohung des Wahlkampfes entgegenzuwirken trachten. Noch hat bei uns die Wahltechnik die Wahlpolitik nicht verschlungen und neben dem Kampf um die Wählerlisten geht eine agitatorische Versammlungstätigkeit, die unsere besten Kräfte in Anspruch nimmt und gute Erfolge zeitigt. Beiläufig sei bemerkt, dass manche Anzeichen darauf deuten, dass hier und da ein zu geringer Teil dieser Agitationsarbeit der eigentlichen Lohnarbeiterschaft zugewendet wird, während unverhältnismässig viel von unserer Kraft der Agitation in anderen Schichten der Besitzlosen gewidmet wird. Es wäre ein ganz unbegründeter Optimismus, anzunehmen, dass die Begriffe Sozialdemokratie und Arbeiterschaft sich heute schon decken; vielmehr haben wir – auch in Wien – im eigentlichen Proletariat noch viele Arbeit zu tun und noch ein weites und ergiebiges Gebiet für unser Fortschreiten. Aber, ob unsere Genossen in der Wahlagitation vor Arbeitern, vor Angestellten aller Kategorien, oder vor sonstigen kleinen Leuten sprechen, immer haben sie und zumeist erfüllen sie die Verpflichtung als Sozialdemokraten zu reden, den Kampf gegen die Person des gegnerischen Kandidaten zurücktreten zu lassen hinter der Darlegung der grossen Ziele unserer Partei und der sachlichen Kritik der Herrschenden. Wie sollen sie aber dazu auf die Dauer die Ruhe finden, wenn sie vor allem die Anklage erheben müssen, dass diese Gegner ihre Sache auf den Rechtsraub gestellt haben, wenn ihnen aus der Versammlung der Entrüstungsschrei der Beraubten entgegentönt?
Wir denken anders als die Christlichsozialen, die für ein Mandat ihre Seligkeit verkaufen und ihre politische Ehre preisgeben. Wir wissen den Wert, den eine starke sozialdemokratische Fraktion in jedem Vertretungskörper für die Arbeiterschaft hat, gebührend zu schätzen und setzen alle Arbeit ein, im Wahlkampf zu siegen. Aber trotzdem wissen wir, dass es wichtigere Dinge gibt, als Mandate. Und weil die christlichsozialen Wählerlistenpraktiken mehr gefährden, als ein oder das andere der uns gebührenden Mandate, weil sie das Niveau des politischen Lebens geistig und moralisch herabdrücken, weil sie den Kampf um die Gehirne verdrängen durch den Kampf um die Legitimationen, weil sie den Wahlkampf politisch entwerten: darum hat die Sozialdemokratie die Pflicht, mit grösster Energie, mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln, dafür zu wirken, dass dieser Krebsschaden beseitigt werde. Wie bitter nötig und wie dringend das ist, haben die Wiener Landtagswahlen von neuem gelehrt.
Zuletzt aktualisiert am 6. April 2024