Viktor Adler

Neue Aufgaben

(Oktober 1907)


Der Kampf, Jahrgang 1 1. Heft, Oktober 1907, S. 6–9.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


In Stuttgart wurden die Delegierten aus Oesterreich von allen Seiten mit Glückwünschen begrüsst: »Ihr seid die Sieger!« In der Tat haben die siegreiche Durchführung des Wahlrechtskampfes und fast noch mehr unsere Wahlerfolge auf unsere Genossen im Auslande einen grossen Eindruck gemacht, einen um so überraschenderen vielleicht, als man da draussen von uns bisher recht wenig gewusst hat und zudem die internationale Einschätzung unserer Partei beeinflusst ist von dem negativen Prestige, dessen sich unser Staatswesen allgemein erfreut. Nun darf sich die Sozialdemokratie Oesterreichs mit gutem Gewissen der Anerkennung ihrer Leistung freuen und das Bewusstsein, dass sie entscheidenden Anteil genommen hat an der jähen Wendung in der Geschichte unseres Landes, muss ihr Kraftgefühl und ihr Selbstvertrauen erhöhen. Aber die Freude an der vollbrachten Arbeit tritt zurück vor der Erkenntnis, dass weit Schwereres nunmehr zu vollbringen ist.

Das ist die Empfindung, die alle denkenden Parteigenossen beherrscht: die österreichische Sozialdemokratie ist mit der Erringung des Wahlrechtes in einen neuen Abschnitt ihrer Entwicklung eingetreten, der noch weit grössere Anforderungen an ihre Leistungsfähigkeit stellen wird als der soeben in zwei Jahren der höchsten Anspannung aller Kräfte überwundene. Die Wegräumung der Ruinen des Kurienparlaments hat den Ausblick eröffnet auf Probleme, die noch weit radikalere Lösungen erheischen, und hat erst die Bedingungen geschaffen, sie vorzubereiten. Das Klasseninteresse des Proletariats verlangt gebieterisch, dass die politische, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung der Völker von den Hemmungen befreit werde, die der nationale Kampf ihr bereitet. Die Lähmung des Staates, unter der die Arbeiterschaft weit mehr leidet als alle anderen Klassen, muss durch eine grundstürzende Umwälzung und eine grundlegende Neuordnung der Verfassung und Verwaltung überwunden werden. Wir erleben es in Oesterreich, dass das Proletariat unter der kläglichen Ohnmacht des Klassenstaates mehr leidet, als es unter seiner furchtbarsten Uebermacht je leiden könnte. Das nationale Problem ist nicht nur ein Problem des Staates, sondern vor allem die Schicksalsfrage des Proletariats aller Völker in Oesterreich. Es kann aber nur gelöst werden, den Völkern kann nur ungehemmte nationale und damit kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung werden durch die Sprengung des historischen Gefüges des Staates und durch die Beseitigung des bureaukratischen Gerüstes, das nicht mehr stützt und trägt, sondern einengt und würgt.

Noch einmal sei es gesagt: ein proletarisches Klasseninteresse ist diese Neuordnung und darum erscheint die revolutionäre Sozialdemokratie in Oesterreich in ihrem Wesen weit mehr konstruktiv als destruktiv. »Staatserhaltend« sei die österreichische Sozialdemokratie, höhnen die Feinde und mitunter auch die Freunde. Fällt uns nicht ein: an diesem Staat ist verteufelt wenig zu erhalten, aber staatsbildend sind wir, wollen wir wenigstens, müssen wir sein, weil die besitzenden Klassen auch diese erste, primitivste Leistung schuldig geblieben sind. Daher der positive Charakter der sozialdemokratischen Politik in Oesterreich und darum gehört es zu ihrem grössten Ruhme, was Genosse Austerlitz an positiver Leistung zur Lösung des Wahlrechtsproblems, was Genosse Renner an positiver Leistung zur Lösung des nationalen Problems beigetragen hat. Wir österreichische Sozialdemokraten haben ganz besondere politische und taktische Probleme und müssen uns ihre Lösungen selbst erarbeiten. Die Traditionen des proletarischen Kampfes in anderen Ländern können uns in diesen entscheidenden und schwierigsten Fragen leider wenig helfen und die bittere Not zwingt uns, selbst unseren eigenen Weg zu suchen.

Den Weg suchen heisst aber mehr als nur das Ziel setzen, so schwierig das schon sein mag. Denn die Anerkennung der nationalen Autonomie und der Demokratie als Grundlage der zu erstrebenden Verfassung war eine ausreichende Formel, solange das Kurienparlament jede praktische Annäherung an die Sache ausschloss. Nunmehr wird es gelten, den Rahmen des Prinzips mit deutlichen und konkreten Vorstellungen zu füllen und diese politische Leistung wird die gesammelte Kraft und die hingehendste gemeinsame Arbeit und den grössten politischen Mut der Sozialdemokraten aller Nationen erfordern. Wie schwierig sie sein wird, davon gibt das soeben sehr rechtzeitig erschienene gedankenreiche Buch Otto Bauers einen überaus deutlichen Begriff. Die gemeinsam gewonnene Erkenntnis des Notwendigen zur bewussten, mit aller Energie gewollten Forderung des Proletariats zu machen, die Widerstände zu überwinden, die sich ihrer Verwirklichung in den Weg stellen werden, das wird der Hauptinhalt des schweren Kampfes sein, der der Sozialdemokratie bevorsteht.

Dass mit dem Kampfe um die nationale Autonomie die Gestaltung und die zukünftige Entwicklung der Organisation unserer Gesamtpartei aufs engste verknüpft ist, sei in diesem Zusammenhang nur flüchtig berührt. Auch hier liegt ein spezifisch österreichisches Problem, von dessen Bedeutung und dessen Schwierigkeiten unsere glücklicheren Bruderparteien keine Ahnung haben. Was sie allein beschäftigt, ist das Verhältnis des Proletariates zu den anderen Klassen. Für uns ist die schwierigste Frage das Verhältnis der Proletariate der verschiedenen Nationen zueinander und die sich daraus ergebenden organisatorischen Notwendigkeiten. Auch hier ist mit allgemeinen Grundsätzen noch lange nicht alles getan, vielmehr sorgfältigste Anpassung an das in jedem Augenblick Erforderliche geboten. Die internationale Solidarität des Proletariats der ganzen Welt zu bekunden, ist erheblich leichter, als diese internationale Solidarität innerhalb der engen, schwarzgelben Grenzpfähle wirksam und widerspruchslos zu betätigen. Bisher können wir mit dem Funktionieren unserer Organisation im ganzen zufrieden sein und sie hat die schwere Probe bestanden, eine brauchbare Grundlage für unsere parlamentarische Organisation zu geben. Aber es ist eine immer wieder neu zu lösende Aufgabe, neben der naturgemäss sich immer schärfer ausprägenden Selbständigkeit unserer nationalen Organisationen die internationale Geschlossenheit der Gesamtpartei zu wahren.

Stellt uns das allgemeine Wahlrecht so vor neue Aufgaben von ungeheurer Schwierigkeit, so sind die alten nicht leichter geworden. Gewiss haben wir in dem Wahlrecht agitatorisch und organisatorisch eine Waffe gewonnen, deren Segen wir schon heute, nach wenigen Monaten, empfinden. Wir haben solange und so viel von den Vorteilen des Wahlrechtes gesprochen, dass darüber kein Wort weiter verloren werden soll. Aber wir müssen darauf gefasst sein und wir spüren es da und dort schon heute, dass das Wahlrecht nicht nur uns Vorteile gebracht hat, sondern ebenso unseren Gegnern. Sie haben sich zwar weidlich gesträubt gegen die erzieherischen Wohltaten des gleichen Rechtes, aber da sie sie doch über sich ergehen lassen mussten, profitieren sie auch davon. Das Privileg hat das Bürgertum faul und politisch dumm gemacht bis zur vollständigen Versumpfung und Kampfunfähigkeit, so dass schon eine vielfach recht primitive Organisation unserer Partei ihm weit überlegen war. Diese relative Ueberlegenheit wird aufhören; die freie Luft des gleichen Rechtes wirkt regenerierend auf das faule Fleisch unserer Gegner und wir werden stärkere Widerstände zu überwinden haben. Schon darum ist die intensivste Arbeit an dem Ausbau unserer Organisation eine dringende und drängende Notwendigkeit. Hier wird unser Parteitag, der demnächst Zusammentritt, sein Bestes zu leisten haben. Die Aufgabe ist aber um so schwieriger, weil das Arbeitsfeld ungemein gewachsen ist. Die Wahlen haben uns neben gelegentlichen Enttäuschungen manche angenehme Ueberraschung gebracht. Die wichtigsten davon waren nicht etwa die etlichen Mandate, auf die wir kaum zu rechnen gewagt hatten, sondern die ganz beträchtlichen Stimmenzahlen, die wir in Bezirken erreichten, wo uns unsere agitatorische Arbeit bisher wenig aussichtsreich erschienen war. Diese Erfolge legen uns grosse, unab-weisliche Pflichten auf. Es handelt sich dabei meist um Wahlbezirke, wo noch lange nicht an das Durchdringen eines sozialdemokratischen Abgeordneten gedacht werden kann, aber ein empfängliches, unserer Agitation zugängliches Proletariat ist da und darum haben wir mit voller Kraft einzusetzen und alle Aufwendungen an Menschen und Mitteln zu machen, die nötig sind, um diese Schichten zu erwecken.

Nun fehlt es uns, offen ausgesprochen, an beidem : an Menschen und an Mitteln. Die Partei ist in den letzten Jahren rasch gewachsen und sie hat unstreitig an Leistungsfähigkeit gewonnen. Aber das rapide Aufblühen der Gewerkschaftsbewegung, das unser Stolz und unsere Stärke ist, die erfreuliche Entwicklung der Genossenschaftsorganisation, unser Fortschreiten auf allen Gebieten hat eine so bedeutende Zahl von agitatorisch und organisatorisch tüchtigen Genossen in Anspruch genommen, dass der Nachwuchs dem Bedarfe nicht genügt, und zwar weder der Zahl nach noch der Durchbildung nach. Wir können unsere Leute nicht reif werden lassen, wir können ihnen nicht die Zeit gönnen zur methodischen Schulung. Wir haben eine erfreuliche Anzahl tüchtiger Praktiker, die ihre Arbeit klaglos, vielfach vorzüglich leisten, aber sie können der Aufgabe nicht genügen, einen Nachwuchs heranzuziehen, weil sie selbst zu wenig Schulung geniessen konnten und weil sie so überbürdet sind mit täglich drängender Arbeit und Ueberarbeit,. dass an geordnete, irgendwie systematische Weiterbildung kaum zu denken ist. Diese Not ist die Folge der Kriegsjahre, die wir hinter uns haben. Wir alle haben wie im Feldlager gelebt, ohne Ruhe, ohne Musse, stets von der Hand in den Mund. Die Fähigkeit, die wir am meisten ausgebildet haben, ist die Schlagfertigkeit, die Kampfbereitschaft, aber die Gründlichkeit unserer Schulung konnte nicht Schritt halten. Dazu kommt, dass die Notwendigkeit, alle Kraft auf einen Punkt, den Wahlrechtskampf, zu konzentrieren, eine gewisse Einseitigkeit zur Folge haben musste. Hier muss mit aller Energie eingegriffen werden. Soll die Partei nicht verflachen, so müssen wir um jeden Preis, koste es, was es wolle, die Bildungsarbeit der Partei mit aller Kraft aufnehmen. Die Mittel dazu können und müssen beschafft werden. Die grossen Volksversammlungen, so nötig sie sind, dürfen auf die Dauer nicht den Vorträgen die Kräfte entziehen. Die intensive Kleinarbeit der sozialdemokratischen Schulung muss wieder in den Vordergrund gestellt werden und die besten Kräfte der Partei müssen sich ihr widmen. Wähler gewinnen ist nützlich und notwendig; Sozialdemokraten erziehen ist nützlicher und notwendiger.

Freilich, auf ruhige Zeiten dürfen wir auch jetzt nicht rechnen. Ganz im Gegenteil. Nicht allein um die grossen Ziele der Verfassungsreform, um jedes kleinste Stück sozialer Reform werden wir bitter zu kämpfen haben. Wenn man Herrn Beck gläubigen Gemütes zuhört, möchte man allerdings glauben, wir hätten eine Aera ausgiebigster sozialpolitischer Aktionen vor uns und Regierung wie bürgerliche Parteien hätten gar kein dringenderes Anliegen an die Sozialdemokratie, als von ihr bei dieser Reformarbeit nicht gestört, sondern unterstützt zu werden. Es ist schwer zu sagen, wie viel Selbsttäuschung in dieser Täuschung steckt. Sicher ist, dass sich die bürgerlichen Parteien noch niemals in Oesterreich mit so klarem Bewusstsein zu gemeinsamem Kampfe gegen die Sozialdemokratie vereinigt haben als in diesem Parlament, und dass der Inhalt dieses Kampfes sein wird und naturgemäss sein muss der äusserste und geschlossene Widerstand gegen jede Massregel, die ihr Profit- und Herrschaftsinteresse zu beeinträchtigen geeignet ist. Die Lehre vom Klassengegensatz wird uns jetzt von unseren bürgerlichen Gegnern praktisch demonstriert. Nur der wohlerworbene Respekt, in den sich die Arbeiterschaft zu setzen wusste, hindert die vereinigte Reaktion daran, den so oft und heiss ersehnten Vorstoss gegen das Koalitionsrecht zu machen. Von ernsthafter Sozialpolitik der Regierung ist aber vorläufig nichts zu sehen, so weit das Auge reicht. Sogar die Alters- und Invaliditätsversicherung ist noch immer nicht über ihre dekorative Verwertung in feierlichen Ansprachen hinausgekommen und es ist nicht abzusehen, wann endlich dem Parlament ein konkretes Gesetz vorliegen wird. Und doch wäre Eile dringend geboten. Denn heute ist jede sozialpolitische Arbeit im Parlament wie ausserhalb desselben einigermassen begünstigt durch die industrielle Hochkonjunktur. Nicht der Schrecken der Krise, nur ein leises Abflauen der Konjunktur wird genügen, um den Widerstand der Unternehmerschaft und ihrer parlamentarischen Vertretung aufs äusserste zu steigern und sie zu jedem reaktionären Anschlag zu ermutigen. Es wird also nötig sein, den sozialpolitischen Arbeitseifer der Regierung zu spornen, und der Verband der sozialdemokratischen Abgeordneten steht unmittelbar vor der schwierigen und verantwortungsvollen Aufgabe, in wirksamer Weise sein volles Gewicht geltend zu machen. Auch die parlamentarische Arbeit der Partei ist gerade durch ihren grossen Erfolg in eine neue Phase eingetreten und auch hier müssen die sachlichen Ziele und die taktischen Bedingungen des Kampfes in ernster Bemühung festgestellt werden.

Zu dieser reicheren, umfassenderen und vertiefteren Betätigung der Partei bedürfen wir vor allem der Ausgestaltung unseres kostbarsten politischen Werkzeugs, unserer Presse. Was sie dem Proletariat bisher geleistet, ist in seiner Eigenart einzig und wird ihr unvergessen bleiben. Aber auch ihre Aufgaben sind nunmehr grössere geworden und wir werden unser Aeusserstes tun müssen, um sie den neu erstandenen Notwendigkeiten anzupassen.

Wie lebendig das Bewusstsein der neuen Pflichten und der erhöhten Verantwortung in der Partei ist, davon legt die Begründung dieser neuen Zeitschrift Zeugnis ab. Lange geplant und zögernd nach allen Seiten erwogen, wurde sie endlich gewagt, da wir es nicht länger entbehren können, einen Boden für Erörterungen zu haben, den uns unsere Presse, die der brennenden Not des Tages dienen muss, nicht bieten kann. Wenn der Kampf leistet, was er soll, wird er die Stätte sein, wo die Kampfziele und Kampfmethoden der Partei in gemeinsamer Erörterung erarbeitet werden. Wir haben kein Bedürfnis, eine Arena für theoretische Turniere zu eröffnen, aber wir brauchen dringend ein Organ der Selbstverständigpng, einen Boden für unbefangene und nicht verpflichtende Meinungsäusserung, für den Austausch von Gedanken, die noch lange nicht bindende Parolen sind, eine Werkstatt für die innere Arbeit der Partei an sich selbst. Hier sollen die ganz eigenartigen Probleme erörtert werden, die dem Proletariat in Oesterreich aufgebürdet sind. Was diese Zeitschrift uns leisten soll, ist schwierig zu erfüllen, aber es ist uns bitter notwendig, und weil sie aus der Not geboren wurde, braucht uns um das Gelingen nicht bange zu sein.


Zuletzt aktualisiert am 6. April 2024