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Die Bewegung für das allgemeine Wahlrecht hat auch wieder ein halbverschollenes Schlagwort der Vergessenheit entrissen. Im Jahre 1886 empfand die liberale Partei das Bedürfnis, sich billig bei der Arbeiterschaft populär zu machen und die Herren Plener, Exner und Wrabetz brachten einen Antrag auf Errichtung von 26 Arbeiterkammern ein, welchen – allen zusammen – 9, sage und schreibe neun Abgeordnetenmandate gewährt werden sollten. Der Antrag wurde nach den Neuwahlen; wieder eingebracht, die Christlichsozialen (Liechtenstein-Pattai) stimmten ihm zu. aber man hörte nichts weiter von ihm. Am Tage-der Rathausversammlung in Wien verkündeten offiziöse Blätter, daß die Regierung sich mit einem Gesetzentwurf über Arbeiterkammern beschäftige und seither spukt dieser Plan in allen möglichen Formen in den Blättern.
Es ist hier nicht der Platz, ausführlich darauf einzugehen, welche Aufgabe „Arbeiterkammern“, wie sie im Jahre 1872 von der österreichischen Arbeiterschaft gewünscht wurden, haben und wie sich die liberalen Vorschläge dazu verhalten. Gesagt sei nur, daß der Antrag Plener-Exner-Wrabetz eine Einrichtung vorschlägt, gebildet auf Grund eines engherzigen Wahlrechtes, ausgestattet ausschließlich mit Scheinbefugnissen, kurz Einrichtungen, lediglich dazu bestimmt, den Arbeitern Sand in die Augen zu streuen. Dies vom sozialpolitischen Standpunkt.
Vom eigentlichen politischen Standpunkt gesehen, als Wahlreform, würden diese Arbeiterkammern eine lächerlich geringe Zahl von Mandaten, aber kein Wahlrecht gewähren; der Wert des Wahlrechtes für die Agitation und Organisation ginge gänzlich verloren. Dieser „Ausbau der Interessenvertretung“, sofern er überhaupt ernstlich gemeint ist, sollte nur dazu dienen, das gegenwärtige Wahlunrecht zu konservieren, indem seine gröbste Ungerechtigkeit wohl nicht beseitigt, aber überkleistert wird. Die Arbeiter sollen ein „Wahlrecht“ erhalten, ohne daß die Mandate der heutigen Abgeordneten gefährdet werden, ja ohne daß sie um sie mit den Arbeitern kämpfen müßten. Und überdies – die Millionen von Arbeitern sollen genau so viel Abgeordnete wählen dürfen wie die 179 Großgrundbesitzer Mährens, ja fast doppelt so viel als die 45 fideikommissarischen Großgrundbesitzer Böhmens! Das ist ein Hohn, nicht einmal eine „Abschlagszahlung“.
Dazu kommt noch, daß selbst dieser elende Schwindel von Wahlrechtszuteilung nicht einmal politisch möglich ist. Von den 5,700.000 Männern im wahlfähigen Alter haben heute nur 1,730.000 das Wahlrecht. Vier Millionen sind rechtlos. Das Wahlrecht für die Arbeiterkammern sollen männliche, versicherungspflichtige Arbeiter im Alter von über 24 Jahren haben. Deren Zahl ist aber nach der heutigen Sachlage geringer als eine Million. Es würden noch immer über drei Millionen Männer übrigbleiben, die nicht einmal jenen Schatten von Recht hätten wie die versicherungspflichtigen Arbeiter. Unter diesen vollständig Rechtlosen befänden sich aber die Bauern und Kleingewerbetreibenden, die weniger als 5 Gulden Steuer zahlen, und diese kämen somit, wenigstens dem äußeren Anschein nach, in eine ungünstigere Lage als die Lohnarbeiter. Das aber ist eine politische Unmöglichkeit, die sich weder durchsetzen, noch gar festhalten läßt, und diese Konsequenz des Vorschlages, der heute von den Liberalen, den Christlichsozialen und der Regierung mit vorgeblichem Ernst ins Auge gefaßt wird, enthüllt ihn als politische Finte, die ebenso reaktionär als ungeschickt ist.
Als im Jahre 1886 der Arbeiterkammerschwindel zum erstenmal auftrat, faßte die Arbeiterschaft in mehreren Versammlungen ihr Urteil in einer Resolution zusammen, welche noch heute alles Nötige sagt und die also lautet:
„In Erwägung, daß eine korporative Vertretung der Lohnarbeiter nur dann einen ausgedehnten Wert hat, wenn dieselbe ausgerüstet ist mit ausgedehnten Befugnissen zur Erhebung der Lage der arbeitenden Klasse, zur bestimmenden Einflußnahme auf die Arbeiterschutzgesetzebung und ihre ehrliche Durchführung, auf die Ernennung und Kontrolle der Gewerbeinspektoren und mit der Machtvollkommenheit, sich der Organe der staatlichen und kommunalen Verwaltung zu diesen Zwecken zu bedienen;
in Erwägung, daß eine zielbewußte Vertretung der Arbeiterschaft nur zustande kommen kann, wenn durch die vorbereitende Tätigkeit von Gewerkvereinen und Arbeiterverbänden das Klassenbewußtsein ein allgemeines und deutliches geworden ist;
in Erwägung, daß der von liberaler Seite eingebrachte Gesetzentwurf über die Errichtung von Arbeiterkammern diesen Voraussetzungen keineswegs entspricht, seine einzelnen Bestimmungen, sowohl was die Kompetenzgrenzen der Kammern, als was das aktive und passive Wahlrecht in dieselben anbelangt, vom engherzigsten Bourgeoisstandpunkt und von laienhaftem Dilettantismus diktiert sind; daß Parteien, welche die bei uns geübte Handhabung des Vereins- und Koalitionsgesetzes zustimmend oder stillschweigend zulassen, der ernste Wille zur Ermöglichung einer Organisation der Arbeiterschaft überhaupt nicht zuzutrauen ist;
in schließlicher Erwägung, daß das winzige Ausmaß von parlamentarischer Vertretung, welches der Gesetzentwurf den Arbeitern gönnt, durch den indirekten Wahlmodus nicht geeignet ist, den wichtigsten und wesentlichsten Vorteil des allgemeinen Stimmrechtes – die Ermöglichung der politischen Erziehung und der freien Diskussion zu erfüllen;
erklärt die heutige Volksversammlung, daß der am 5. Oktober eingebrachte Gesetzentwurf über die Errichtung von Arbeiterkammern in keiner Weise den Anforderungen, welche an eine zweckdienliche Vertretung der Interessen der Lohnarbeiter gestellt werden müssen, entspricht und daß das Proletariat seine bestimmte, immer und immer wiederholte Forderung nach dem allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrecht niemals für das Linsengericht eines dürftigen Zubaues an die gegenwärtige Interessenvertretung aufgeben werde.“
Zuletzt aktualisiert am 19. Dezember 2020