Victor Adler

Das Wahlrecht und das Wahlunrecht in Oesterreich

* * *

Allgemeines


Die politischen Zustände Österreichs waren immer unleidliche; sie sind nunmehr unmögliche geworden. Das arbeitende Volk, wie überall, wo der Kapitalismus herrscht, steht unter einem unerträglichen wirtschaftlichen Druck, preisgegeben der Ausbeutung durch Grundbesitz und Kapital. Und das Bewußtsein dieses Zustandes wird täglich deutlicher, und täglich stärker der Wille, ihn zu ändern. Aber während in allen modernen Staaten Europas die Bestrebungen des Proletariats wie der untersinkenden Schichten des Kleinbürgertums und der Bauernschaft einen politischen Ausdruck gefunden haben, weiß die offizielle Politik in Österreich von diesen Klassen nichts. Zwei Drittel des Volkes sind im Parlament ohne Vertretung. Der Groll, die Unzufriedenheit, ja die Verzweiflung wächst. Sie wird gefördert durch eine Klassengesetzgebung im einseitigen Interesse der Besitzenden. Sie wird verbittert dadurch, daß sie nicht jenen Ausdruck finden kann, den die heutige Auffassung vom „Rechtsstaat“ jedem Staatsbürger als heiliges, unantastbares und unveräußerliches Recht zugesteht: die Teilnahme an Gesetzgebung und Verwaltung durch die Wahl von Volksvertretern.

Die wirtschaftliche Ausbeutung ist allen vom Kapitalismus ergriffenen Staaten gemeinsam; die politische Unterdrückung ist eine notwendige Folge davon und geht überall mit der Ausbeutung Hand in Hand. Das einzige Gegengewicht, die einzige Waffe gegen politischen und ökonomischen Druck ist das politische Recht. In Österreich, und in Österreich allein unter allen modernen Staaten, fehlt den Besitzlosen auch dieses. Die Besitzlosen sind rechtlos in Österreich. Dadurch aber entsteht jener unmögliche Zustand, daß in den unteren Klassen ein politisches Leben voll Energie und Zielsicherheit anwächst, das stumm bleiben muß, während eine Minorität der Bevölkerung höchst geräuschvoll Politik macht, die aber unfruchtbar bleiben muß, und fortwährend ins Stocken gerät. Jetzt eben steckt infolge der böhmischen Wirren [1]) der Staatskarren wieder im Sumpfe und alle Kleinkünste der Fortwurstelei und des Fortfrettens [2] dürften ihn nicht so leicht freimachen. Und wenn es gelingt, dann bleibt er beim nächsten Schritt unrettbar wieder stecken. Der Nationalitätenstreit der oberen Zehntausend, der angefacht und geschürt wird vom Großgrundbesitz, welcher sich an demselben Feuer, das Österreichs Völkern unheilbare Wunden brennt, seine Suppe kocht; der Hader der einzelnen Cliquen, in die sich die Besitzenden teilen, und der Vorwände nimmt, wo er sie findet –, das gibt sich in Österreich für Politik aus, während es tatsächlich das Hindernis aller ernstlichen politischen Betätigung ist.

Aber nicht nur unfruchtbar ist der österreichische Parlamentarismus, er ist auch, und vor allem, unwahr. Die Völker Österreichs haben ganz andere Schmerzen, als den Kampf ums böhmische Staatsrecht, den lächerlichen Zank um die Einteilung der Gerichtsbezirke in Böhmen, die Amtssprache in Unter-Steiermark und Krain, und was der „großen“ Angelpunkte der österreichischen Politik mehr sind. Wenn unser Parlament der Ausdruck der berechtigten Masseninteressen sein wird, wie es heute nur das Sprachrohr der unberechtigten Cliqueninteressen ist, dann wird es sich zeigen, daß unter der täuschenden Oberfläche des elenden Gezänkes von heute ganz andere Gegensätze sich entwickelt haben. Der Klassenkampf wird an Stelle der nationalen Quälereien treten, die ihn heute verhüllen und fälschen. Der Klassenkampf aber vereinigt, was zusammengehört; er macht den partikularistischen Lächerlichkeiten ein Ende, er macht ein Ende der tragikomischen Maskerade und den unnatürlichen Bündnissen.

Als Bismarck im Jahre 1867 den norddeutschen Reichstag schuf, das erste deutsche Parlament, da oktroyierte er das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht. Aber nicht aus Liebe zum Volke, aus Neigung für demokratische Einrichtungen tat er es, er mußte zum allgemeinen Wahlrecht greifen, um den Partikularismus zu überwinden, um ein gewaltiges Gegengewicht zu schaffen gegen die egoistischen und kleinlichen Interessengruppen in den Einzelstaaten und Stätchen. Dieses Gegengewicht sollte freilich die Dynastie bilden. Bismarck wußte, daß sie das nicht kann, und vielleicht hat er es in Österreich gelernt, wie wenig die „Loyalität gegen die Dynastie“ genügt, um ein Reich zu bauen. Alle triefen sie förmlich von „Loyalität“ und „dynastischer Treue“, während sie einander in die Haare fahren, die Vertreter der Kronlandsinteressen, die Grafen, die Pfaffen und die Advokaten der Bourgeoisie. Ein wirksames Gegengewicht gegen die kleinen aber mächtigen Gruppen der Privilegierten liegt nur in der Gemeinsamkeit der Interessen der Massen des Volkes, freilich damit auch der Klassen. An Stelle des kleinlichen Gezänkes von nebeneinander stehenden und sich reibenden Volkssplittern mußte zum Bewußtsein kommen die Schichtung der übereinander gelagerten Klassen; der isolierende Landlpatriotismus mußte überwunden werden durch das vereinigende Klasseninteresse. Die „Vaterlandsliebe“ der Baiern, Sachsen, Hannoveraner bis hinab zu dem Nationalstolz der Reuß-Greiz-Schleiz-Lobensteiner [3] konnte nur überwunden werden durch die gemeinsamen Interessen der deutschen Bourgeoisie und die Solidarität der deutschen Arbeiterklasse. Freilich konnte Bismarck das einigende Band der Klasseninteressen nicht zum Aufbau des Deutschen Reiches verwenden, ohne zugleich den Klassenkampf zu entfesseln. Die deutsche Sozialdemokratie, obwohl oder vielmehr gerade weil sie eine internationale Partei ist, wurde die erste „Reichspartei“ in Deutschland; gerade sie, die so bald „reichsfeindlich“ heißen sollte. Kurz, den gemeinsamen Interessen der Deutschen konnte nur ein Volkshaus auf Grund des allgemeinen Wahlrechtes Ausdruck verschaffen. Darum mußte Bismarck dem deutschen Parlament diese Grundlage geben, wollte er ein Deutsches Reich schaffen. Hätte Österreich Staatsmänner, statt Wurstler und Fretter, so hätten sie längst begriffen, daß es für Österreich aus den nationalen und staatsrechtlichen Wirren nur einen Ausweg gibt: das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht.

Aber überlassen wir den Stützen des Staates die Sorge um ihren Staat. Wäre die heutige Wahlordnung Österreichs nur die Wurzel der staatlichen Misere – was hätte das die Arbeiterklasse zu bekümmern, was ihre politische Vertretung, die Sozialdemokratie! Denn das allgemeine Wahlrecht ist keine sozialdemokratische Forderung, es ist eine Forderung des bürgerlichen Liberalismus, eines seiner Grundprinzipien, das er in Österreich schmählich verriet, wie er das Recht der freien Meinungsäußerung feige im Stiche ließ. Aber wenn das allgemeine Wahlrecht keine sozialdemokratische Forderung ist, so ist es doch ein Lebensbedürfnis der Sozialdemokratie, der politischen Entwicklung der Arbeiterklasse. Es ist eine Waffe für den Klassenkampf, die sie braucht und darum muß und wird sie sie erobern; darum auch verlangt unser Hainfelder Programm:

„die Aufhebung des Monopols der Besitzenden auf das politische Wahlrecht durch die Einführung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechtes (und zwar ohne Unterschied des Geschlechtes und vom 20. Lebensjahr an, wo für die Männer die Verpflichtung zur Blutsteuer beginnt) als eines wichtigen Mittels der Agitation und Organisation.“

Wenn wir darangehen, für das allgemeine Wahlrecht einzutreten, ergreift uns Beschämung. Wir sollen mit vielen Argumenten beweisen, was sonnenklar; wir sollen mit Eifer verfechten, was kein Vernünftiger, kein Ehrlicher bestreitet. Das unveräußerliche Recht jedes erwachsenen Staatsangehörigen, und zwar sowohl jedes Mannes als jeder Frau – an der Gesetzgebung teilzunehmen, ist selbstverständlich und nicht weiter zu beweisen. Die Last des Beweises hat, wer dieses Recht einem Staatsbürger nehmen will. Die Gewährung des Wahlrechtes ist keine Wohltat; die Entziehung desselben ist ein Verbrechen, für das es keine Entschuldigung, höchstens eine geschichtliche Erklärung gibt. In Österreich aber ist wie die Freiheit der Staatsbürger, so ihre „Gleichheit vor dem Gesetz“ ein leeres Wort.

Das wichtigste für den Staatsbürger ist das Wahlgesetz. Ja, in Wahrheit macht erst das Wahlrecht, das Recht, in irgendeiner Form an der Gesetzgebung und der Kontrolle, der Verwaltung in Reich, Land und Gemeinde teilzunehmen, aus dem „Untertanen“ einen Staatsbürger.

Wir wollen hier einem Manne das Wort geben, der keineswegs Sozialdemokrat, sondern ein Vertreter des bürgerlichen Liberalismus ist, dem Engländer John Stuart Mill. In seinen Betrachtungen über Repräsentativ-Regierung findet sich folgende Darlegung:

„Der Taglöhner, dessen Beschäftigung ein eintöniges Einerlei ist, die seine Lebensweise mit keiner reichen Mannigfaltigkeit der Ideen, Verhältnisse und Eindrücke in Berührung bringt, erfährt durch die politische Erörterung, daß tiefer liegende Ursachen und Ereignisse, die in weiter Ferne stattfinden, eine sehr fühlbare Wirkung selbst auf seine persönlichen Interessen äußern, und durch die politische Erörterung sowie durch gemeinsames Handeln lernen alle diejenigen, deren Tagewerk sonst ihre Interessen ausschließlich auf den nächsten Kreis ihrer Umgebung konzentrieren würde, mit ihren Mitbürgern und für ihre Mitbürger fühlen und werden bewußte Mitglieder des Gemeinwesens. Aber politische Erörterungen werden wirkungslos an dem Ohre derjenigen vorbeischwirren, die kein Stimmrecht haben und nicht darnach streben, es zu erwerben. Ihre Lage im Vergleich zu den Wählern ist dieselbe wie die der Zuhörerschaft in einem Gerichtshof im Vergleich zu der der zwölf Männer in der Loge der Geschwornen. Sie sind es nicht, von denen man die Entscheidung erwartet, es ist nicht ihre Meinung, die man zu beeinflussen sucht; die sie hören, die Gründe, die geltend gemacht werden, sind an andere Personen gerichtet als an sie, nichts hängt von dein Urteil ab, das sie sich bilden, und es liegt gar keine Notwendigkeit und sehr wenig Veranlassung für sie vor, sich überhaupt eins zu bilden. Jeder, der unter einer sonst volkstümlichen Regierung des Stimmrechtes entbehrt und keine Aussicht hat, cs zu erhalten, wird entweder zu den ständigen Malkontenten gehören, oder wird sich als ein Mensch fühlen, dem die allgemeinen Angelegenheiten der Gesellschaft gleichgültig sind, der sie durch andere für sich besorgen läßt, der „mit dem Gesetz nichts zu schaffen hat, als ihm zu gehorchen“ und der da, wo es sich um öffentliche Interessen und Geschäfte handelt, die Rolle eines Zuschauers spielt. Was er von diesem Standpunkt aus von ihnen wissen und beachten wird, kann man ungefähr nach dem bemessen, was eine Durchschnittsfrau der mittleren Klassen im Vergleich mit ihrem Mann oder ihren Brüdern von der Politik versteht oder daran interessant findet.

Ganz abgesehen von all diesen Erwägungen ist es eine persönliche Ungerechtigkeit, irgend jemand, sofern es nicht die Verhütung größerer Übel gilt, das gewöhnliche Recht vorzuenthalten, bei der Entscheidung von Angelegenheiten mitzusprechen, die ihn ebensosehr interessieren wie andere Leute. Wenn er genötigt wird zu zahlen, vielleicht genötigt wird zu kämpfen, wenn man von ihm unbedingten Gehorsam verlangt, so sollte er gesetzlich berechtigt sein zu erfahren, welchem Zwecke er damit dient, sollte um seine Meinung gefragt werden und versichert sein können, daß sie bei der Entscheidung für gerade so viel als sie wert ist, obgleich nicht für mehr mitgezählt werden wird. In einem vollentwickelten und zivilisierten Gemeinwesen sollte es keine Parias geben, keine Personen, die ohne ihr Verschulden die politischen Rechte entbehren müssen. Jedermann wird herabgewürdigt, mag er selbst es fühlen oder nicht, wenn andere Leute, ohne ihn zu fragen, mit unbeschränkter Machtvollkommenheit über sein Geschick entscheiden. Und selbst in einem weit fortgeschritteneren Zustande, als ihn der menschliche Geist bis jetzt irgendwo erreicht hat, würde es nicht in der Natur der Dinge liegen, daß derjenige, über den man in dieser Weise verfügt, dieselbe unparteiische Gerechtigkeit zu erwarten hätte wie der, welcher mitzusprechen berechtigt ist. Herrscher und herrschende Klassen sind genötigt, die Interessen und Wünsche derjenigen zu berücksichtigen, die stimmberechtigt sind: ob sie aber die der Ausgeschlossenen berücksichtigen wollen oder nicht, steht ganz bei ihnen, und mögen sie auch noch so wohlmeinend sein, so sind sie doch meistenteils durch das, was sie notwendig beachten müssen, zu sehr in Anspruch genommen, um viel an das zu denken, was sie ungestraft außer acht lassen können. Keine Anordnung des Stimmrechtes kann deshalb dauernd befriedigen, bei der irgendwelche Personen oder Klassen ein für allemal ausgeschlossen sind, und bei welcher das Wahlrecht nicht allen erwachsenen Personen zugänglich ist, die es zu erhalten wünschen.“

Wir können es uns nicht versagen, hier festzustellen, daß das eben zitierte Buch desselben J. St. Mill in einer Parlamentsdebatte gegen das allgemeine Wahlrecht und für die österreichische Ständeverfassung ins Feld geführt wurde. Diese freche Fälschung wurde von niemand geringerem begangen, als vom Abgeordneten Rud. Auspitz [4] in der Sitzung am 28. Jänner 1881, welche Schönerers [5] Antrag auf allgemeines Wahlrecht zu Grabe trug. Herr Auspitz begnügte sich nicht damit, zu sagen: „Die Besitzenden haben die Macht und wollen sie behalten! Basta!“ Er gehört zu den „gelehrten“ Klopffechtern des Liberalismus und verlangte mehr von sich. Er mußte beweisen, daß, wie die kapitalistische Wirtschaftswelt die beste aller Welten, so die österreichische Verfassung die beste aller möglichen Verfassungen sei. Um das zu beweisen, zitierte er Mill, welcher wünscht, daß das Wahlrecht an die Kenntnis des Lesens und Schreibens gebunden sei; Mill meint, daß eine solche Einrichtung sehr bald die Analphabeten verschwinden machen würde und hat für England recht. Er hat Galizien nicht gekannt, wo bei Einführung des Bildungszensus die Stanczyken einen Grund mehr hätten, die Verbreitung der Volksbildung zu hindern.

Was folgt aber aus Mills Forderung? Doch natürlich: – Allgemeines Stimmrecht mit Bildungszensus! – o nein, Herr Auspitz sagt, daraus folgt die Notwendigkeit der Ausschließung von zwei Dritten des Volkes vom Wahlrecht. Mill meint, höhere Einsicht in die Staatswirtschaft sollte ein „mehrfaches“ Wahlrecht bedingen. Er schlägt vor, daß das Ablegen gewisser Prüfungen das Recht geben soll, zwei oder selbst drei Stimmen abzugeben; begreiflicherweise ein reines Ehrenrecht. Denn Mill erklärt es für „durchaus unzulässig, die Überlegenheit des Einflusses von der Rücksicht auf das Vermögen abhängig zu machen“; aber auch in bezug auf das von ihm vorgeschlagene Pluralvotum für höher Gebildete sagt er: „die an sich ganz gerechte Unterscheidung zugunsten der Bildung darf nicht so weit gehen, daß sie dem Gebildeten möglich macht, eine Klassengesetzgebung zu üben“; ja er betont ausdrücklich,, daß dieses Pluralvotum „jedem, auch dem ärmsten Individuum offenstehen müßte, sobald es nachzuweisen vermöchte, daß es sich trotz aller Schwierigkeiten und Hindernisse den Bildungsgrad angeeignet hat, der dafür vorausgesetzt wird“. Und dieser Mann muß es sich gefallen lassen, von dem liberalen Fälscher Auspitz für das österreichische Wahlsystem als Autorität ins Feld geführt zu werden; denn, so meint dieser Herr, in Österreich sei das Wahlrecht – ganz wie Mill es wünsche – „nach der Intelligenz abgestuft!“ Mögen sich die Millionen von Rechtlosen bei dem liberalen Parlamentarier für das Kompliment bedanken und ebenso die Millionen von Wählern in den Städten und Landgemeinden. Er schätzte die Intelligenz der städtischen Wähler dreißigmal, die der ländlichen hundertachtundvierzigmal geringer als die der Großgrundbesitzer, jener Klasse, bei welcher das nicht allzu seltene Vorkommen von erblichem „standesgemäßen Schwachsinn“ der Prozeß Waldstein gerichtsordnungsmäßig festgestellt hat.

*

Fußnoten

1. Am 17. Mai 1893 brach im böhmischen Landtag die Obstruktion der Jungtschechen aus. Die Session wurde geschlossen. Am nächsten Tag folgten tschechischnationale Straßendemonstrationen in Prag. Am 13. September wurde der Ausnahmezustand über Prag und Umgebung verhängt. Dann folgten große Demonstrationen und Zusammenstöße mit der Polizei, später, im Jänner und Februar 1894, der „Omladina-Prozeß“, der mit der Verurteilung von dreizehn der sechzig Angeklagten zu je acht Jahren schweren Kerkers endete. (Siehe Bd. VII, Seite 95, Note.)

2. Mit diesen beiden wienerischen Worten – Fortwursteln und Fortfretten – bezeichnete Graf Taaffe selbst die Art seines Regierens. Als man ihm das im Parlament einmal vorwarf, sagte Graf Taaffe – am 9. März 1889 – , wenn er sich frage, was er mit dem geringen Betrag des Dispositionsfonds, den man ihm bewillige, anfangen solle, so sage er mit einem Ausdruck des Wiener Lokalwitzes: „Ich werde trachten, mich in dieser Beziehung durchzufretten.“ Und er fügte hinzu: „Das ist ein Ausdruck, auf den man sich berufen kann, nicht aber auf einen anderen Ausdruck, den man mir nur in den Mund gelegt hat, jenen vom Fortwursteln.“ – Nichtsdestoweniger sind diese beiden Ausdrücke für die Regierungsmethoden Taaffes so bezeichnend, daß sie trotz seines Einspruches auch weiter im Gebrauch geblieben sind.

3. Die beiden Fürstentümer Reuß ältere Linie oder Reuß-Greiz und Reuß jüngere Linie oder Reuß-Schleiz-Lobenstein waren bis zum Umsturz selbständige Fürstentümer und Bundesstaaten des Deutschen Reiches. Sie waren unter die zwei Zweige des fürstlichen Hauses Reuß geteilt. Reuß-Greiz war 316, Reuß-Schleiz 827 Quadratkilometer groß. Durch einige Jahrhunderte war Reuß a. L. in vier Teile geteilt, die erst 1848 vereinigt wurden. Die Reuße mußten, weil ihr Ahnherr von Heinrich VI. belehnt wurde, alle Heinrich heißen, und die Numerierung ging bei einzelnen Nebenlinien sogar bis zum 42. ja bis zum 74. Der letzte Reuß a. L., Heinrich XXIV., war unheilbar geisteskrank und für ihn führte Heinrich XXVII. von der jüngeren Linie die Regentschaft. Obwohl das Bestehen und die Trennung der beiden Länder nur dynastischen Interessen entsprang, waren die beiderseitigen Untertanen der „Zaunkönige“ von überquellendem Landespatriotismus erfüllt. Jetzt sind beide Länder Teile des Freistaates Thüringen.

4. Dr. Rudolf Auspitz war liberaler Abgeordneter von Nikolsburg. Seine Wahl war bereits einmal, am 27. März 1890, wegen krasser Wahlbestechungen annulliert worden.

5. Die Alldeutschen, die später das allgemeine Wahlrecht so fanatisch bekämpften, hatten in den achtziger Jahren selbst wiederholt Anträge für das allgemeine Wahlrecht eingebracht: so auch Schönerer selbst, wie weiter unten in der Broschüre noch dargelegt werden wird


Zuletzt aktualisiert am 19. Dezember 2020