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Der Kampf, Jg. 4 9. Heft, 1. Juni 1911, S. 431.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Unter diesem Titel hat Dr. Ludo Hartmann einen Vortrag veröffentlicht, den er im Wintersemester 1910/11 im Sozialwissenschaftlichen akademischen Verein an der Czernowitzer Universität gehalten hat. Der interessante Vortrag (Preis 50 h) verdient in der Tat, einem weiteren Publikum zugänglich gemacht zu werden, und insbesondere in den Kreisen der Parteigenossen werden die bei aller Knappheit doch so klaren Ausführungen des Vortrages lebhaftem Interesse und Verständnis begegnen. Hartmann will in seinem Vortrag nicht auf den Inhalt der beiden grossen Kulturbewegungen der modernen Menschheit: Christentum und Sozialismus, eingehen. Mit Recht hebt er hervor, dass es ein grosser Irrtum ist, von einer Gleichheit der Lehren des Christentums mit jenen des modernen Sozialismus zu sprechen. Man übersieht dabei zumeist, wie anders doch die heutigen wirtschaftlichen Verhältnisse gegenüber jenen vor fast zweitausend Jahren sind und man verkennt auch den Charakter des urchristlichen Kommunismus, der noch durch und durch blosser Konsumtionskommunismus war. Wenn aber die Vergleichung der Kulturinhalte von Christentum und Sozialismus nur wenig Gemeinsames, für unsere Zeit Fortwirkendes zeigt, so ist doch noch ein anderer Standpunkt möglich, der soziologische, welcher bloss die gesellschaftlichen Formen betrachtet, in denen beide Bewegungen auftreten. Diesen Standpunkt will Hartmann in seinem Vortrag einnehmen und von ihm aus die Organisationsform des Christentums und des modernen Sozialismus vergleichen. Welche Fülle oft überraschender Zusammenstimmungen sich unter diesem Gesichtspunkt ergeben, muss man in dem Vortrag selbst nachlesen. Insbesondere was Hartmann über das Verhältnis sowohl des Christentums als des Sozialismus zum gleichzeitigen Staat ausführt und über die parallel gehende Wandlung dieses Verhältnisses mit der Erstarkung beider Bewegungen, ist voll treffender Bemerkungen. Es lässt sowohl den so erstaunlichen Sieg des Christentums in der alten Welt begreiflich, wie den Triumph des Sozialismus schon der heutigen Gesellschaft vorbereitet finden. Natürlich schliesst der Zweck und knappe Rahmen dieses Vortrages eine eingehendere Darstellung der wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Grundlagen des Christentums aus. Wer sich darüber mehr informieren will, wird gerne zu desselben Verfassers Büchlein: Der Untergang der antiken Welt greifen, das bei billigem Preis (K&ngsp;1,50) und geschmackvoller Ausstattung dieses Thema in gründlicher und dabei überaus anregender Weise behandelt. Beide angezeigten Schriften werden den Parteigenossen in dem Streben nach einem historischen Verständnis des Sozialismus sehr förderlich sein und seien daher ihrer Aufmerksamkeit wohl empfohlen.
Zuletzt aktualisiert am 6. April 2024