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Der Kampf, Jahrgang 1 6. Heft, 1 März 1908, S. 256–265.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Von den dem Marxismus zugrunde liegenden Denkelementen hat die Dialektik bis jetzt eigentlich nur bei den Gegnern grössere Beachtung gefunden. Während man jeden Angriff auf die materialistische Geschichtsauffassung oder auf die ökonomischen Lehren sofort als einen das Wesen des Marxismus antastenden Eingriff empfand, zeigte man sich hier nicht so empfindlich. Ja es scheint fast, als ob auch viele Anhänger der Lehren von Marx und Engels die Meinung ihrer Gegner teilten, dass die Dialektik im Grunde eine unwesentliche Zutat zum System des Marxismus sei, entsprungen nur aus dem historischen Zusammenhang, den seine Begründer als Schüler Hegels mit dessen Philosophie hatten, so dass bei Angriffen auf die Dialektik keine ernste Gefahr für die Unversehrtheit dieses Systems selbst zu befürchten wäre.
Dieser Lauheit in der Verteidigung entspricht die Vehemenz des Angriffes, die sich besonders gefördert sah, als auch innerhalb des Marxismus von Ed. Bernstein die bekannten Angriffe auf die Marxsche Dialektik erhoben wurden. Wie Bernstein sie als »das Verräterische in der Marxschen Doktrin, den Fallstrick, der aller folgerichtigen Betrachtung der Dinge im Wege liegt«, denunzierte, so dass man sagen müsse, dass Marx und Engels alles Grosse, was sie geleistet haben, trotz ihr geleistet hätten, so bezeichneten andere Kritiker (Schitlowsky, Struve, Sombart) sie in der Hegelschen Gestalt als eine blosse Sophisterei, und innerhalb der Grundlagen des Marxismus als ein konstruktives Element, ja als einen Fremdkörper, von dem man gar nicht begreifen könne, wie Marx und Engels ihn auch nach ihrer an Hegel geübten Kritik noch haben beibehalten können. Und ihrer aller Meinung spricht vielleicht Masaryk aus, wenn er mit der an diesem Forscher so wohltuenden Offenherzigkeit sagt: »Ich muss gestehen, mir erscheint die Hegelsche Dialektik auch in der materialistischen Form als blosser» Hokuspokus.« Mit ihr hätten Marx und Engels »ihren materialistischen Pelz mit metaphysischem Spinngewebe äusserst überflüssig überzogen«.
Zu dieser Anfeindung der einen und Gleichgültigkeit der anderen steht in seltsamem Gegensatz die hohe Wertschätzung, die Marx und Engels nicht nur in ihrer dem Hegelianismus noch nahestehenden Frühzeit, sondern auch nach ihrer kritischen Loslösung von der Hegelschen Philosophie der Dialektik stets entgegengebracht haben. Hat doch Marx in seinem Brief über Proudhon aus dem Jahre 1865, also zu einer Zeit, da er mit der Arbeit an seinem Kapital bereits zur vollen Ausreifung seines eigenen Standpunktes gelangt war, von der »wirklich wissenschaftlichen Dialektik« gesprochen, in deren Geheimnis Proüdhon nie eingedrungen sei, und die man weder mit Sophistik, noch mit einer bloss äusserlichen Entgegenstellung von Gegensätzen verwechseln dürfe. Und wie er im Kapital selbst die Dialektik verteidigte, ist ja genug bekannt, von deren Hegelschen Form sogar er sagt, dass sie trotz ihrer Mystifikation doch »ihre allgemeinen Bewegungsformen zuerst in umfassender und bewusster Weise dargestellt« habe. Engels wiederum nannte die Dialektik »die höchste Form des Denkens«, »eine durch und durch revolutionäre Denkmethode«, »unser bestes Arbeitsmittel und unsere schärfste Waffe«. Deshalb hat er es auch immer als seine und Marxens historische Leistung auf dem Gebiet der Entwicklung des Denkens angesehen, dass sie beide wohl die einzigen gewesen seien, »die aus der deutschen Philosophie die bewusste Dialektik in die materialistische Auffassung der Natur und Geschichte hinübergerettet hatten«.
Wenn Marx und Engels so über die Dialektik geurteilt haben und dies gerade trotz ihrer einschneidenden Kritik an der Hegelschen Philosophie, wenn sie stets überzeugt blieben, dass die Hegelsche Dialektik nicht einfach beiseite zu schieben war, sondern einen Kern enthielt, den sie gerettet hatten und der nicht verloren gehen durfte, ja als dessen Frucht sie ihre eigene Denkweise ansahen, so sollte eine solche Tatsache doch vorsichtig machen und veranlassen, ehe man über einen inneren Widerspruch oder über metaphysische Rudimente im Marxismus Klage führt, lieber zu untersuchen, was denn dieser Kern der Hegelschen Dialektik sei und was er in der Gedankenarbeit des Marxismus bedeute.
Diese Aufgabe hier durchzuführen verbietet sowohl der Raum wie die Natur dieser Zeitschrift; denn sie lässt sich nicht lösen ohne eine eingehende Erörterung der Dialektik bei Hegel. Da ich hoffen darf, eine solche bald an einem anderen Orte ggben zu können, so will ich hier nur einige Gesichtspunkte bezeichnen, von denen aus, wie ich glaube, sich eine richtigere Einschätzung des Wesens der Dialektik überhaupt und ihrer Bedeutung im Marxismus gewinnen lassen dürfte.
Der Grundgedanke der Hegelschen Dialektik ist bekannt. Sie war eine Selbstbewegung des Begriffes, das heisst ein gedanklicher Prozess, in welchem jeder Begriff nicht etwa durch äusserliche Zutat, sondern nur durch den ihm selbst wesentlichen Widerspruch über sich hinaus zu einem neuen Begriff getrieben wurde, der diesen Widerspruch zwar in eine höhere Einheit auflöste, aber nur, um sofort wieder zum Gegenstand einer Spaltung einer neuen Gegensätzlichkeit zu werden. Auf diese Weise erhielten endlich alle unsere begrifflichen Bestimmungen in einem grossen System des Denkens einen Zusammenhang, der kein bloss zufälliger mehr, sondern ein aus den dem Denken eigentümlichen Kräften hervorgegangener zu sein schien. Dieser gedankliche, logische Prozess war aber zugleich ontologischer Natur; das heisst der Gedankenzusammenhang und die Art, wie er zustande kam, gab zugleich den wirklichen Zusammenhang und die Entwicklung der Dinge selbst. Die Gesetzlichkeit in der Bewegung der Denkbestimmungen war also zugleich der Werdeprozess der Welt. Denn das eigentliche Wesen der Dinge lag durchaus nur in ihren Begriffen, in deren logischer Entfaltung erst jene Qualitäten auftraten, durch welche die Welt ihren dinghaft-starren Charakter erhielt. Auf diese Weise wurde die Logik zur Metaphysik und musste es werden, sobald die kritische Errungenschaft der Kantschen Philosophie, dass wir alle Erfahrung nur in den Formen unseres Geistes erleben können, dahin missverstanden wurde, dass Denken und Sein identisch sei. Der kritische Idealismus Kants verwandelte sich in den absoluten Hegels, von dessen Standpunkt aus die Welt nicht mehr für den Geist irgend eines Individuums gegeben war, so dass dieser Geist nichts anderes bedeutete als die Erfahrung selbst, sondern von dem aus der Geist vielmehr schon vor jeder Erfahrung, weil vor jedem menschlichen Individuum, diese ganze Welt aus sich heraus erzeugte und in den einzelnen Individuen bloss als in ebenso-vielen Bestimmungen seiner selbst nur zum Selbstbewusstsein gelangte.
Man hat unrecht, über diese grossartige Vorstellung Hegels als einer wüsten Phantasie zu spotten oder sie gar unverständlich zu finden. Denn sie ist im Grunde nur die spiritualistische Kehrseite der dogmatisch-materialistischen Vorstellung einer Entwicklung der Materie bis zu jener Komplikation ihrer selbst, aus welcher in ihrem stofflichen Getriebe plötzlich der Gedanke entspringt, um jetzt alle diese Werke des Naturmechanismus sich zur Erkenntnis zu bringen. Ja insofern bei Hegel es doch von allem Anfang an schon Geist ist, der die Entwicklung macht und zuletzt nur zur Selbstbetrachtung im Menschen gelangt, während der Materialismus sich vergebens bemüht, aus dem geistlosen Klotz seiner Materie die Funken des Gedankens zu schlagen, ist die Hegelsche Metaphysik nicht nur konsequenter, sondern im eigentlichen Sinne auch geistvoller als die des Materialismus.
Dieses System des absoluten Idealismus ist nun bei Hegel durchaus eins mit der Dialektik; denn nur durch die Gegensätzlichkeit, welche den Begriffen innewohnt, vollzieht sich jene Bewegung, in der das System des Geistes zustande kommt. Die Dialektik bei Hegel ist demnach nicht etwa bloss eine Methode des Denkens, sondern vor allem eine Theorie der wahren Erkenntnis. Sie beschränkt sich nicht auf die Untersuchung der Art unseres Denkens, sondern ist der Ueberzeugung, in der Darlegung des inneren Verhältnisses der Denkbestimmungen zugleich auch den Gang der Sache selbst aufgezeigt zu haben. Sie ist also eine Erkenntnistheorie, die im Gegensatz zur Kantschen in die Erkenntnis des Wesens der Dinge selbst einführen will. Diese innige Verschmolzenheit der Dialektik mit einer metaphysischen Erkenntnistheorie bei Hegel hat nun manche Kritiker der Marxschen Dialektik zu dem Missverständnis geführt, die Dialektik sei auch bei Marx eine Erkenntnistheorie. Es war dann freilich nicht schwer, sie mit den ganz anderen Voraussetzungen des marxistischen Erkenntnissystems, das von nichts weniger als idealistischen Anschauungen ausging, in tödlichen Widerspruch zu setzen. Allerdings war dabei die Mahnung Engels’ in den Wind geblasen, dass es ein Schnitzer sei, »die Marxsche Dialektik mit der Hegelschen zu identifizieren«. Im Gegenteil, man hatte einfach die Hegelsche Dialektik, und diese oft genug noch mystifizierter als bei Hegel selbst, auf den Boden des Marxismus verpflanzt und gebärdete sich weiss Gott wie kritisch, weil es natürlich nicht stimmen wollte.
Um nun die Erscheinung nicht länger mehr unbegreiflich zu finden, dass ein Element des absoluten Idealismus, eben seine Dialektik, hinüberwandern konnte in ein System, wenn nicht des Materialismus, so doch des Positivismus, muss man gegenüber der Hegelschen Philosophie eine fundamentale Tatsache im Auge behalten, die wieder einmal den eigentlichen Jammer der Philosophie und das Verhängnis des menschlichen Denkens überhaupt vor Augen rückt: dass nämlich bei Hegel zwei ganz verschiedene Dinge unter dem gleichen Namen der Dialektik einhergehen, einmal eine Art des Denkens, also eine Methode, und sodann eine Art des Seins, also eine Wesensbeschaffenheit. Bezeichnen wir diese beiden Bedeutungen, die freilich zufolge des Identitätsstandpunktes der Hegelschen Philosophie zusammenfliessen mussten, mit besonderen Namen, nennen wir die Methode, also die Aufzeigung der Gegensätzlichkeit des Denkens im Ablaufe seiner Inhalte, Dialektik, wie dies schon Hegel selbst tat, dagegen die Gegensätzlichkeit des Seins im Ablaufe seiner realen Vorgänge Antagonismus, so wird mit einemmal deutlich, welche völlig verschiedenen Dinge die Hegelsche Dialektik vereinen konnte, weil sie eben und vor allem nicht bloss Methode war.
Kritik und Ueberwindung Hegels für Marx bestand nun in der Zerreissung jenes mystischen Scheines, in welchem die Dialektik sich zugleich als Antagonismus darstellte, und dies gerade durch jene lichtvolle Einsicht, die den metaphysischen Charakter der Hegelschen Dialektik ebenso auflöste wie ihren methodischen bewahrte: dass nämlich die Selbstbewegung der logischen Kategorie nur die Bewegung des individuellen Denkens war, mit welchem dieses von einer Denkbestimmung zu einer anderen gelangte. Damit war die Mystifikation des Denkprozesses als schöpferischer Potenz beseitigt, das Denken als eine die Welt in sich erzeugende Bewegung, aber es blieb die tiefe Erkenntnis Hegels bestehen von dem Denken als einer eigenartigen Bewegung selbst. Das Denken nicht mehr als die äusserliche Verbindung von starren Begriffen, sondern als das Ueber-gehen und Auseinanderhervorgehen aller seiner Bestimmungen gefasst — das war der Kern der Dialektik, den Marx und Engels nicht wieder verlorengehen liessen und der in der Tat eine Wahrheit enthält, die erst die moderne Logik und Psychologie, zumeist ohne jede bewusste Anlehnung an Hegel, durch ihre die formale Logik und die Vulgärpsychologie so gänzlich umstürzenden Anschauungen von der Natur des Begriffes und des Urteils immer mehr zu erkennen beginnt. Diese Erfassung des Denkens als einer Bewegung sogar in dem scheinbar ruhenden, weil fixierten Begriff eröffnet zugleich auch den Zugang zum Verständnis jenes neuen Standpunktes, mit dem eben die Dialektik über den bloss logischen hinauszuschreiten befähigt wurde.
Die logische, oder wie wir mit Hegel lieber sagen, bloss verstandesmässige Auffassung des Denkens ist charakterisiert durch die starre Abgrenzung ihrer Begriffe und deren Verbindung in eben solchen starren Urteilen. Das verstandesmässige Denken ist daher überall inhaltlich fest umschränkt und streng geschieden von jedem anderen Inhalt. Deshalb nennt Hegel es auch ein begrenztes, endliches Denken, im Gegensatz zu dem un-endlichen, durch solche Begrenzungen nicht gehemmten Denken, der Dialektik. Eine solche Unterscheidung ist nun nicht etwa ein bloss willkürlicher Einfall; denn sobald man auf den Denkinhalt selbst genau eingeht, zeigt sich sofort, dass die verstandesmässigen Denkformen den Inhalt des Denkens gar nicht erschöpfen. Das Urteil gibt nie den gesamten Denkinhalt wieder, dem es entstammt, sondern — und gerade dies bestätigt die moderne Logik immer nachdrücklicher — im Urteil wird der ununterschiedene, in sich zusammenhängende Denkinhalt bestimmt, zergliedert, geformt. Und der Begriff ist nicht etwa, wie die Vulgärpsychologie so mancher Hegel-Kritiker auch heute noch immer meint, eine durch Abstraktion gewonnene Allgemeinbestimmung, sondern, wie wir heute sagen, ein Urteilsbestandteil, das heisst die Beziehung einer Einzelwahrnehmung oder Einzeldenkbestimmung auf einen bereits geläufigen Denkinhalt, mit welchem eine Verbindung hergestellt wird, von der aus nun erst das Urteil möglich wird, dass dieses Einzelfaktum einem grösseren Zusammenhang, einem Begriff zugehört. So zeigt es sich, dass das wirkliche Denken nicht etwa so verläuft, dass es erst abstrakte Begriffe bildet und diese dann zu Urteilen verbindet, sondern von einer Totalität des Gedachten ausgeht, die in den Urteilen und Begriffen sich selbst unterscheidet und auseinanderlegt, wobei aber immer nur ein Teil des ganzen Inhalts zum Ausdruck gelangen kam, gleichwie eine grosse Menschenmasse nur einzeln ein Tourniquet passieren kann. Das Denken ist daher in seiner eigentümlichen Gesetzlichkeit auch nur zu begreifen, wenn man es aus dieser Vereinzelung und Begrenzung wieder in jenen grösseren Zusammenhang rückversetzt, den es vor seiner verstandesmässigen (sprachlichen) Besonderung hatte, wenn man also über seine urteilsmässige oder begriffliche Form hinaus wieder jene Vermittlung herzustellen trachtet, die es mit dem Ganzen seines Inhalts hat. Das ist dann keine willkürliche Konstruktion ; vielmehr ergibt sich diese Vermittlung der Denkformen, ist man erst einmal auf diese Natur des Denkens aufmerksam geworden, aus ihrem eigenen Mesen, so dass Hegel mit Recht sagen durfte: »Die Denkformen müssen an und für sich betrachtet werden ... sie selbst untersuchen sich, müssen an ihnen selbst ihre Grenze bestimmen und ihren Mangel aufzeigen.« (Enzycl. § 87.)
Diese Bewegung des Denkens hat jetzt gar nichts Mystisches mehr an sich, sie geht in jedem Kopfe vor sich, solange er noch nicht träge geworden ist. Als ihr Grundtypus aber erweist sich der Widerspruch oder, wie Hegel ihn gern präzis bezeichnet, die Negativität. Marx und Engels, ersterer gegen Proudhon, letzterer gegen Dühring, haben sich reichlich Mühe gegeben, diesen Begriff" aufzuklären. Aber immer wieder wird er in den heillosesten Widersinn verkehrt durch die beispiellose Unbedenklichkeit so vieler Kritiker, über die schon Hegel klagte, dass sie sich gar keine Mühe geben wollen, den Sinn zu ergründen, den er mit seinen Ausdrücken verband und der allerdings nicht auf der Oberfläche liegt. Der Hegelsche Widerspruch ist nicht etwa Kontradiktion und Behauptung des Zugleichseins einander ausschliessender Bestimmungen, also etwa Behauptung, dass ein Ding ist und zugleich nicht ist, sondern Entgegensetzung seiner Bestimmungen im Prozesse des Denkens. Von dem Denken selbst wird gezeigt, dass es jede seiner Bestimmungen begrenzt (verstandesmässig) nur denken kann, indem es zugleich das durch diese Begrenzung Ausgeschiedene denkt, dass also alle Bestimmungen unseres Denkens Reflexions-, Beziehungsbegriffe sind, die nur durch Beziehung auf dasjenige ihre Bestimmtheit gewinnen, was sie gleichzeitig durch diese Bestimmung aus ihrer Aussage ausschliessen. Der Widerspruch bei Hegel ist also weder logische Kontradiktion noch reale Gegensätzlichkeit, sondern nichts anderes als beziehentliche Gegenüberstellung. Er ist relative Opposition, opponierte Relation, das heisst indem jeder Begriff als widerspruchsvoll aufgefasst wird, wird er damit nur aus seiner logischen Isoliertheit in jenen Zusammenhang mit dem von ihm ausgeschlossenen Denkinhalt gebracht, dem er entsprungen ist, der aber jetzt wegen seiner Bestimmtheit als sein Widerspruch erscheinen muss. Die gerade Linie ist nicht zugleich krumm; aber der Gedanke der geraden Linie wird nur dadurch möglich, dass ich sie von der krummen unterscheide. Oder der Begriff der Identität ist als logischer gar nicht möglich, wenn er nicht im Denken selbst als distinkte, unterschiedene Abhebung von der Verschiedenheit gesetzt wäre. Ohne das Mitdenken der Verschiedenheit gelangten wir niemals über die blosse Position eines Denkinhaltes zur Vorstellung seiner Identität.
Auf diese Weise erscheint also das Denken nicht mehr als ein willkürliches Verbinden und Trennen von Begriffen, sondern als eine notwendige und durchgängige Vermittlung und Beziehung seiner Elemente, die allem verstandesmässigen Denken vorhergeht und diesem erst für seine konkreten Inhalte die Denkmittel gibt. Da die Totalität des Denkens hierbei aber immer nur unvollständig zum Ausdruck gelangt, so ist es klar, dass das verstandesmässige Denken durch bewusstes Zurückgehen auf diese Totalität, durch Besinnung auf seine gegensätzlich-reflektive Natur, seinen Inhalt bereichern muss. Dies begründet die Bedeutung der Dialektik als Methode. Während also die durchgängige Vermittlung und beziehentliche Gegenüberstellung aller Denkinhalte als Faktum des Denkens, als erkannte Natur seines Prozesses, den auch von der modernen Wissenschaft anerkannten, ja in ihr erst zur Ausreifung gelangenden Kern des mystischen Hegelschen Antagonismus darstellt, macht die Einführung dieser Beschaffenheit des Denkens in das Bewusstsein der wissenschaftlichen Arbeit, sei es gegenüber den Begriffen der Natur oder des sozialen Lebens, die Dialektik als Methode aus.
Dieses Bewusstsein nun, in welchem, wie Marx dies einmal in Anwendung auf den geschichtlichen Prozess es ausdrückt, »jede gewordene Form im Flusse der Bewegung« aufgefasst wird, also die Dialektik als Methode ist es, die im Marxismus vor allem als Kern der Hegelschen Dialektik »hinübergerettet« wurde. Aber freilich darf hierbei ein wichtiger Umstand nicht übersehen werden, der die konsequente Festhaltung der Dialektik als Methode schon bei Marx und besonders bei Engels immer wieder behindert hat, und der es bewirkt, dass auch im Marxismus die beiden Seiten der Hegelschen Dialektik, Methode und Antagonismus, abermals zusammenfliessen. Es liegt nämlich in der dogmatischen Grundanschauung beider Denker über das Verhältnis von Denken und Sein begründet, dass sie von einem ähnlichen, nur umgekehrten Identitätsstandpunkt wie Hegel ausgingen. Indem sie in einer dem Materialismus nahestehenden Weise Denken und Sein derart gleichsetzen, dass das Denken als ein Stück des Seins selbst allen Gesetzen desselben entsprechen, daher aber auch die Gesetze des Seins notwendig enthalten muss, fallen Denkgesetze und Seinsgesetze wieder zusammen: nur dass die Denkgesetze hier nichts anderes sind als die bewusste Spiegelung der für sich bestehenden Seinsgesetze. Und so wird die Dialektik, die erst nur Methode sein sollte, zugleich auch Universalgesetz der Natur.
Hierzu kommt aber, und interessanterweise wieder ähnlich wie bei Hegel, noch ein äusserer Umstand, der diese Identifizierung beförderte. So wie Hegel durch den tatsächlichen Antagonismus des Denkprozesses sich in der Annahme einer realen Natur der Dialektik bestärkt sehen musste, so fanden auch Marx und Engels im Fortgänge ihrer Untersuchungen durch die Tatsache des von ihnen aufgezeigten Antagonismus des gesellschaftlichen Lebens ihre dialektische Auffassung in einem grandiosen Faktum der Erfahrung bestätigt. Gleichwohl müssen sowohl der Antagonismus des Denkens bei Hegel als jener des geschichtlichen Lebens bei Marx aus dem Begriff der Dialektik ausgeschieden werden, wenn wir nicht fortwährend beim Gebrauche dieses Namens zwischen seinen zwei Bedeutungen in die Irre geführt werden sollen. Es bleibt nur der Zusammenhang zwischen ihnen, dass wir an diesen beiden grossen Beispielen schon jetzt sehen, zu welchen reichen Einsichten die Dialektik als Methode zu führen vermochte.
Leider ist es nicht möglich, das Verhältnis von Methode und Antagonismus im Marxismus hier näher darzulegen, obzwar eine solche Untersuchung viel Klarheit über beide Seiten verschafft und namentlich den nicht erst von Bernstein erhobenen Vorwurf, Marx habe seine Untersuchungen im Kapital nach einer vorgefassten These konstruiert, auf das zurückführt, was er ist, nämlich auf eine geradezu primitive Vorstellung von dem Verhältnis der theoretischen Arbeit zu ihrem Gegenstände. Nur so viel sei hier bemerkt. Gewiss muss alle Wissenschaft voraussetzungslos sein; aber das heisst nur, dass sie keine anderen Voraussetzungen haben darf, als die in ihrem Charakter als objektivem Denken liegen. Diese Voraussetzungen machen daher nicht nur Wissenschaft überhaupt erst möglich, sondern, zum Bewusstsein gelangt, werden sie zur notwendigen Methode der Wissenschaft. So hat auch die wissenschaftliche Betrachtung der Veränderungen des sozialen Lebens ihre bestimmten Denkvoraussetzungen, zu denen vor allem der Begriff der Entwicklung gehört. Nur wer noch immer glaubt, dass der Entwicklungsbegriff ein Naturbegriff ist, den wir einfach aus der Erfahrung entlehnen, wie zum Beispiel die Kenntnis, dass die Rose duftet, der mag es für eine Konstruktion halten, dass mit der genetischen Erfassung des sozialen Lebens bei Marx zugleich das klare Bewusstsein des gedanklichen Schemas dieser Entwicklung verknüpft war. Wir werden im folgenden noch sehen, dass dies gar nicht anders sein konnte, insofern die Entwicklung in der Natur und Geschichte nur zu finden war, weil sie eine Form des Denkens selbst wiedergab, die mit Bewusstsein auf die Betrachtung der Welt angewendet, von dieser eine neue Erfahrung liefern musste.
Damit sind wir zugleich schon zur Beantwortung der Frage gekommen, was die Dialektik im Marxismus leistet. Wir werden das hohe Lob, das Engels ihr zollte, gerechtfertigt halten müssen; denn als ihre spezifische Leistung ist so ziemlich alles anzusehen, was die wissenschaftliche Grösse des Marxismus ausmacht. Natürlich muss man acht haben, dass hier nicht darnach gefragt wird, was in den einzelnen Lehren von Marx und Engels sich als unmittelbares Resultat der Dialektik bezeichnen lässt, sondern zu welcher neue Erkenntnisse erschliessenden Richtung des Denkens die Dialektik führte. Die konkreten Lehren des Marxismus sind selbstverständlich Resultate eingehender Detailforschung und erwachsen aus ihrem Erfahrungsstoffe. Aber wir fragen darnach, ob diese wissenschaftliche Arbeit durch den methodischen Anstoss der Dialektik eine besondere Förderung oder gar neue Richtpunkte erhalten hat. In wie hohem Grade dies der Fall war, möchte ich nun mit einigen Hinweisen andeuten.
Die durchgängige Inbezugsetzung der Begriffe ist es zunächst, welche die kritischen Denkmittel für die Behandlung der ökonomischen Erscheinungen bei Karl Marx liefert. Der Massbegriff des Wertes, durch welchen die ökonomischen Vorgänge überhaupt erst in die Form von Aequivalentbeziehungen überführt werden können, entwickelt sich nur aus der Auffassung des Gebrauchswertes zugleich in seiner gegensätzlichen Funktion, für den Besitzer kein Gebrauchswert, sondern Tauschwert zu sein, aus der Auffassung der konkreten Arbeitsleistung als zugleich gegensätzlichen Ausdrucks abstrakt menschlicher Arbeit, der privaten Tätigkeit als zugleich gegensätzlicher Form der gesellschaftlichen Produktion. Die Bewegung der Waren im Austausch lässt ihre Gesetze erst erkennen, nachdem diese bloss sachliche Beziehung sich zugleich als persönliche der Warenbesitzer erwiesen hat. Und die Kritik der kapitalistischen Produktionsweise erhält ihre grandiose Schlagkraft gerade durch den Nachweis, wie der Produktionsprozess, der als solcher bloss gesellschaftliche Bedürfnisbefriedigung ist, zugleich Verwertungsprozess im Interesse privater Kapitalsanhäufung wird, wie die Organisation der Gesellschaft in der Produktion durch das Kapital zugleich zur Desorganisation der Gesellschaft im Austausch wird, und wie schliesslich dieser sachliche Antagonismus der Produktionsfaktoren seinen menschlichen Ausdruck findet in dem Klassengegensatz von Bourgeoisie und Proletariat. Wer es nicht schon aus der berühmten Analyse der Ware bei Marx wüsste, wie sehr sich die wissenschaftliche Untersuchung der ökonomischen Kategorien nur durch die fortwährende gedankliche Beziehung ihrer konkreten Formen auf die Totalität ihrer Erscheinungsbedingungen vollendet, den müsste der Aufsatz von Marx Einleitung zu einer Kritik der politischen Oekonomie hierüber aufklären, besonders deren dritter Abschnitt über die Methode. [1] Hier rechtfertigt Marx, als ob er die Vorwürfe, im Kapital eine rein abstrakte, konstruktive Arbeit gegeben zu haben, vorausgeahnt hätte, seine Methode als diejenige, welche allein der entwickelten Mannigfaltigkeit konkreter Erscheinungen entsprechen kann. Der letzteren gegenüber wäre es falsch, mit dem Konkreten zu beginnen. Denn das Konkrete ist nur konkret, »weil es die Zusammenfassung vieler Bestimmungen ist, also Einheit des Mannigfaltigen«. Es gilt daher diese Mannigfaltigkeit im Konkreten, nur scheinbar Einfachen, zu bestimmen, zu zeigen, wie vielseitig, mannigfaltig zum Beispiel die einfachen Begriffe von Arbeit, Tausch, Wert etc. geworden sind, um aus den so gewonnenen abstrakten Bestimmungen »zur Reproduktion des Konkreten im Wege des Denkens« zu gelangen. Indem Marx diese Vorgangsweise als die »offenbar wissenschaftlich richtige Methode« bezeichnet, scheint sich dieser Ausdruck sichtlich mit dem späteren der »wissenschaftlichen Dialektik« in dem Briefe überProudhon zu berühren.
Die Aufhellung der ökonomischen Begriffe durch die Klärung ihrer Beziehungsinhalte ist aber erst die eine Seite der Verflüssigung und gleichsam Verlebendigung der ökonomisch-historischen Kategorien. Es tritt hinzu der grosse Gesichtspunkt, der zum Angelpunkt aller wissenschaftlichen Arbeit im Marxismus geworden ist, der Begriff der Entwicklung. Wir haben es bereits gesagt: Nur einer in den Vorurteilen des Naturalismus aufgewachsenen Zeit, wie es die unsere ist, kann es scheinen, als ob der Entwicklungsbegrifi aus der äusseren Erfahrung stammte. Die grosse Wandlung der Biologie, die jetzt mit so tiefgehender Gedankenarbeit von den Bahnen Darwins zu denen Lamarcks übergeht, beginnt schon mehr und mehr auch auf dem Gebiete der Naturwissenschaft erkennen zu lassen, dass der Entwicklungsbegriff kein durch Mittel der mechanischen Naturerklärung, sondern lediglich ein durch Denkbestimmungen zu erfassender Begriff ist. Ist man erst darauf aufmerksam geworden, dass die Zeit und damit auch der ganze historische Ablauf von Veränderungen nicht zum Wesen des Entwicklungsbegriftes gehört, welcher nur durch zwei Elemente konstituiert wird: erstens durch den Gedanken einer aus eigener Gesetzlichkeit vor sich gehenden Bewegung, zweitens durch die Richtungsbestimmtheit dieser Bewegung auf ein Ziel, so wird man von dem naturalistischen Missverständnis bewahrt bleiben, Entwicklung mit Deszendenz oder historischer Veränderung zu verwechseln. [2] Vielmehr ist es nur dadurch überhaupt möglich, Veränderungen der Zeit in eine Entwicklung zu beziehen, dass man den Gedanken einer gesetzmässigen Wirksamkeit, die alles nur aus sich selbst herausholt, jede Form nur ihren eigenen Kräften verdankt, an die Erscheinungen heranbringt. Erst dieser Denktypus verwandelt Sukzession in Metamorphose, Aufeinanderfolgen in Auseinanderwerden.
Dieser Denktypus findet sich aber gerade in der Grundgesetzlichkeit des Denkens selbst ausgeprägt, in seinem Charakter als Bewegung, mit welchem es unausgesetzt jeden seiner Inhalte durch die ihnen eigenen, gleich treibenden Kräften wirkenden Beziehungen in andere, neue überführt, und mit dieser Bewegung zugleich eine Richtung der immer vollständigeren Vermittlung isolierter Denkelemente, also eines immer vollkommeneren, gleichzeitig differenzierten Zusammenhanges herstellt. Die genetische Auffassung der Natur und Geschichte ist nur die Uebertragung der dialektischen Natur des Denkprozesses auf die Objekte des Denkens selbst, das heisst der an einem gewissen Punkt der geistigen Entwicklung auftretende gedankliche Versuch, den ungehemmten inneren Zusammenhang des Denkens auch im Aeusserlichen wiederzufinden.
Man wende nicht ein, dass die Entwicklung natürlich schon vor jeder Dialektik, ja vor allem Denken existiert hat; denn abgesehen davon, dass letzteres sehr missverständlich ausgedrückt ist, weil wir von einer Entwicklung vor dem Denken nur durch unser Denken wissen, hat gerade Marx selbst in seinen vorerwähnten Bemerkungen zur Methode darauf aufmerksam gemacht, dass gerade »die allgemeinsten Abstraktionen überhaupt nurbei der reichsten konkreten Entwicklung« erst entstehen. So sei die politische Oekonomie zu der einfachsten Abstraktion, zu der der abstrakten Arbeit, obgleich sie »eine uralte und für alle Gesellschaftsformen gültige Beziehung ausdrückt«, doch erst in der die Mannigfaltigkeit der Arbeit am reichsten entwickelnden modernen Gesellschaft gekommen. Nun, ebenso drückt auch die Abstraktion des Entwicklungsbegriffes eine uralte, nicht nur für alle Gesellschaftsformen, sondern für alle Seinsformen überhaupt gültige Beziehung aus. Aber das wissenschaftliche Bewusstsein hiervon konnte erst gewonnen werden, als das Denken bis zu jener Mannigfaltigkeit seiner Denkmittel vorgedrungen war, durch die Erkenntnis seiner eigenen Gesetzlichkeit auf diesen Begriff geführt zu werden. Den heutigen Generationen, die den Entwicklungsgedanken zumeist naturwissenschaftlich vermittelt erhielten, sollte immer wieder vor Augen stehen, dass dies bei Marx und Engels gerade nicht der Fall war, und dass der Entwicklungsgedanke überhaupt zuerst auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften entsprang. Nicht zufällig ist Leibnitz, der durch sein Prinzip der Stetigkeit mit Recht zu den Begründern der Dialektik zählt, zugleich auch einer der Ahnen des Entwicklungsgedankens. [3]
Meint man schliesslich, dass Marx und Engels sicher keine solche Auffassung von dem Entwicklungsbegriff gehabt haben, so mag dies, mindestens für Engels, richtig sein, und hängt mit dem oben geschilderten Identitätsstandpunkt zusammen, nach welchem die Entwicklung als Gesetz des Denkens zugleich auch ein solches der Natur sein musste. Ob dies ebenso für Marx gilt, ist nicht so sicher zu entscheiden; jedenfalls stand ein Denker, der wie Marx es aussprach, dass »die konkrete Totalität als Gedankentotalität, als ein Gedankenkonkretum in der Tat ein Produkt des Denkens, des Begreifens ist«, nur nicht eines über der Anschauung stehenden und sich selbst gebärenden Begriffes, »sondern die Verarbeitung von Anschauung und Vorstellung in Begriffen«, dem Problem wohl kritischer gegenüber. Allein auf das Bewusstsein, das Marx und Engels von ihrem Entwicklungsbegriff hatten, kommt es hier gar nicht an, sondern dass sie ihn hatten, und dass er als Denkelement in ihrer wissenschaftlichen Arbeit wirksam war. Und das entsprang, wie wir sahen, ihrer dialektischen Grundauffassung.
Aber die Dialektik vermittelte nicht nur den Begriff der Entwicklung, sondern auch die Form ihres Prozesses. Wir sahen, wie die treibende Kraft in der Bewegung des Denkens die Negativität war, die beziehentliche Gegenüberstellung. Indem sich die Denkinhalte voneinander abhoben und unterschieden, und der neue, auf diesem Wege gewonnene gegensätzliche Inhalt durch die Wiederholung dieses Vorganges mit dem ersten in einen entwickelteren Begriff vereinigt wurde, besorgte die Dialektik selbst die Aufhebung ihrer Unterscheidungen, die Negation der Negation. Beziehentliche Abhebung in Gegensätzen und Vereinigung dieser zu höheren Einheiten, Differenzierung der scheinbaren Einfachheit und Integrierung der aus ihr hervorgeholten Mannigfaltigkeit — das ist das Wesen des so verrufenen Gesetzes der Negation der Negation. Ein näheres Eingehen auf dasselbe ist hier ausgeschlossen. Aber dies ist wohl klar, dass es nach Abstreifung des ontologischen Charakters der Denkbewegung nichts Mystisches mehr ist. Es ist aber auch keine willkürliche Formel, nach deren Anleitung kühne Konstruktionen ausgeführt werden können, sondern es ist die Form des dialektischen Denkens selbst. Deshalb hat gerade Marx gegen Proudhon die missverständliche Auffassung der Negation als einer bloss äusserlichen, »moralischen« Aufsuchung der guten und schlechten Seite in den Dingen getadelt, statt sie als den Kampf ineinander bestehender entgegentreibender Elemente zu verstehen. Und Engels hat davor gewarnt, die Negation der Negation ja nicht anders denn als blosse Form der Entwicklung aufzufassen, die also gar nichts über deren Inhalt besage, am wenigsten aber ein Instrument des Beweisens sei.
Und in der Tat gibt das dialektische Schema der Negation der Negation das Denkmittel, in welchem wir alle Entwicklung auffassen. Schon in seiner allgemeinen Anwendung auf den Begriff der Entwicklung überhaupt kommt es zum Ausdruck in der berühmten und so prägnanten Charakteristik Spencers, die Entwicklung sei der Fortgang von unzusammenhängender Gleichartigkeit zu zusammenhängender Mannigfaltigkeit, in der das Homogene sich differenziert und die Verschiedenheit sich zu einer höheren Einheit integriert. In seiner Anwendung aber auf das individual-psychische Leben findet es seinen Ausdruck in den von Wundt so genannten psychologischen Beziehungsgesetzen der psychischen Relationen und Kontraste, endlich in seiner Anwendung auf das sozial-psychische und historische Leben in den gleichfalls von Wundt formulierten Gesetzen der Entwicklung in Gegensätzen und der Heterogonie der Zwecke. Wie aber gerade diese beiden letzteren Gesetze, nämlich die Bewegung der Geschichte in Gegensätzen, und die Tatsache, dass bei den Willensbestrebungen der Menschen, bei aller ihrer Zwecktätigkeit in der Geschichte noch etwas anderes herauskommt, als sie gewollt haben, Hauptgedanken der materialistischen Geschichtsauffassung und der ökonomischen Kritik des Marxismus lange vor Wundt auftreten, braucht kaum weiter ausgeführt zu werden.
Im engsten Zusammenhang damit steht ein zweites Hegelsches Schema, das gleichfalls von schnell fertigen, aber darum sich nur um so kritischer gebärdenden Missverständnissen rasch zu einem Popanz gestempelt wird, nämlich das von dem Umschlagen der Quantität in die Qualität. Auch hier kann unsere Darstellung leider nur ganz skizzenhaft sein, obgleich ihre eindringlichere Behandlung sehr wichtig wäre. Hat man doch eine Widerlegung in dem Sinne versucht, um zu beweisen, dass revolutionäre Umgestaltungen, Sprünge ins Neue, eigentlich unmöglich seien und die Revolution daher jedenfalls philosophisch widerlegt sei, mag sie sich in der profanen Geschichte auch noch so breit machen! Der reale Kern auch dieses Schemas aber ist, dass in jeder konkreten Erscheinung Quantität und Qualität sich gegenseitig durchdringen, derart, dass jede Quantität nur an der Qualität vorkommen kann und alle Qualität wesentlich quantitativ bestimmt ist. Für die denkende Betrachtung reihen sich daher alle Qualitäten in Kontinuen von Quantitäten ein, wie es ja auch tatsächlich das Programm der modernen Wissenschaft ist, alle Vorgänge der Natur nach raum-zeitlichen Begriffen zu denken, soweit dies angängig ist. Das Umschlagen der Quantität in die Qualität bedeutet daher methodisch nichts anderes als die Möglichkeit der Rückführung einer Qualitätsänderung auf eine für sie charakteristische Quantitätsänderung. Und das wesentliche, meines Erachtens auch von den marxistischen Anhängern der Dialektik noch nicht genügend gewürdigte Moment hierbei ist, dass erkannt wird, wie durch diese Zurückführung der Qualität auf Quantität zwar alle qualitative Diskontinuität, sowohl in der Natur als in der Geschichte, in ein Kontinuum von Raum, Zeit und Qualität tritt, aber innerhalb desselben Diskontinuität, Sprunghaftigkeit bleibt. Keine noch so strenge Kontinuität wird aus Weiss je auch nur die leiseste Nuance von Grau machen, als eben durch einen Sprung vom Weissen ins Graue, nur dass in der Betrachtung dieser Sprung dargestellt wird durch das räumliche Kontinuum eines Farbenbandes. Entwicklung ist also nicht gleichbedeutend mit Kontinuität, wenn sie auch stets in einem zeitlichen und ursächlichen Kontinuum verläuft, ja begrifflich als das Hervorgehen eines Neuen aus dem Alten ihr sogar direkt entgegengesetzt. Das eben ist die Dialektik der Entwicklung, dass sie kontinuierliche Diskontinuität ist, und diese Erkenntnis macht sie zu jener revolutionären Denkweise, als die Marx und Engels sie rühmten, und die ihre Kritiker mit dem lendenlahmen Begriff einer Evolution, welche im Gegensatz zur Revolution stehen sollte, ganz kläglich verkannt haben.
Von dei Anwendung dieses Schemas auf die Natur sprachen wir schon. Mit Recht konnte Engels die moderne Naturwissenschaft mit ihrem Bestreben, Qualitäten auf Quantitäten zurückzuführen, dialektisch nennen. Auf das individual-psychische Leben angewendet, hat dieses Schema vorerst einen speziellen, exakten Ausdruck in dem Weberschen Gesetz von der diskontinuierlichen Empfindungszunahme bei kontinuierlicher Reizverstärkung gefunden, um in den von Wundt aufgestellten Gesetzen der psychischen Resultanten und des geistigen Wachstums auch zu einem wissenschaftlichen Ausdruck für die Gesamtheit des sozial-psychischen Lebens zu gelangen. Indem diese Gesetze besagen, dass das aus dem Zusammenwirken geistiger Faktoren hervorgehende Resultat nicht eine blosse Summe, sondern eine neue Potenz darstellt, findet sich hier dieselbe Betrachtungsweise, von der aus Marx die so mystisch anmutende Lebendigkeit der ökonomischen Kategorien auf ihren gesellschaftlichen Charakter zurückführen konnte. So ging die stets wachsende Produktivkraft der Arbeit auf die stets zweckmässigere und technisch vervollkommnete Organisation der Arbeitenden zurück, so entsprang den mannigfaltigen Willensrichtungen der Kapitalbesitzer in der Verwertung ihres Kapitals die ungeheure Expansivkraft des Kapitals selbst.
Was aber zu allen diesen Lichtgedanken die Methode des dialektischen Denkens vollendet, der Schritt, mit dem sie ihren Triumph erringt, das Rätsel des sozialen Lebens der Lösung näher zu bringen, ist die Erkenntnis, dass auch Ursache und Wirkung ebensowenig getrennt und einander anschliessend zu denken sind wie Quantität und Qualität, sondern sich gleichfalls durchdringen, indem etwas als Ursache gedacht werden kann nur in Bezug auf seine Wirkung und als Wirkung nur durch seine Ursache. Was als Ursache gedacht wird, ist immer davon besimmt, was als seine Wirkung erscheinen soll, wie zum Beispiel als Todesursache angegeben werden kann Mord, Gift oder Gehirnlähmung, je nach dem Standpunkt (Jurist, Apotheker oder Arzt), von dem aus die Kausalbeziehung beurteilt wird, so dass also die Wirkung gedanklich in der Ursache ebenso wirkt, wie diese real in der Wirkung. Indem nun von diesem gedanklichen Schema aus erkannt wird, wie iede tatsächliche Ursache in ihrer Wirkung immanent die Rückwirkung aus ihrem Objekt erfährt, also zum Beispiel der Stein am Feuer nicht bloss warm wird, sondern durch seine eigene Beschaffenheit das Mass der Erwärmung, also die Entziehung an Wärme gegenüber der Wärmequelle, der Ursache seiner Erwärmung, bestimmt, wandelt sich alle Vorstellung von Kausalität aus einer bloss tätigen in eine gleichzeitig affizierte Wirksamkeit. In Anwendung auf das soziale Leben entsteht daraus der Begriff des Menschen als eines nicht mehr bloss wirkenden oder bloss äusserlich bestimmten, sondern als eines tätig-leidenden Wesens, als eines in der Aktion bestimmten und in der Bestimmung aktiven Wesens, kurz, als eines Wesens, auf das nur gewirkt werden kann, indem es selber wirkt. Das war der epochemachende Schritt, mit dem der Marxismus über den naturwissenschaftlichen Materialismus hinausgelangte, den Marx selbst so charakterisiert hat: »Die materialistische Lehre, dass die Menschen Produkte der Umstände und Erziehung, veränderte Menschen also Produkte anderer Umstände und geänderter Erziehung sind, vergisst, dass die Umstände eben von den Menschen verändert werden und dass der Erzieher selbst erzogen werden muss ... Das Zusammenfallen des Aenderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit kann nur als umwälzende Praxis gefasst und rationell verstanden werden.«
Wie nun aus der dialektischen Vermittlung der Denkbestimmungen von Ursache und Wirkung im Begriffe des tätig-leidenden Menschen die weitere Bestimmung des Verhältnisses der Abhängigkeit menschlichen Denkens und Wirkens von seinen gesellschaftlichen Existenzbedingungen hervorging und damit zu dem ersten wirklichen sozialen Bewegungsgesetz führte, der sogenannten materialistischen Geschichtsauffassung, darüber ist hier zu sprechen nicht mehr nötig. Auch gehört dies bereits zum Kapitel der Dialektik als Antagonismus, das in einer späteren Abhandlung zur gesonderten Darstellung gelangen soll. Hier kam es nur auf die Aufweisung des Zusammenhanges dieser Theorie mit dem dialektischen Denken an. Und da sahen wir wirklich alle theoretischen Grundelemente des Marxismus dieser für so unfruchtbar und müssig gehaltenen Denkweise entspringen. Aber noch ist damit ihre ganze Bedeutung nicht erschöpft. Denn die Dialektik ist nicht nur das immanente Hinausgehen des Denkens über jede seiner Bestimmungen, sondern auch des Denkens über sich selbst zum Tun, das stete Umschlagen des Gedankens in die Aktion. Als Begreifen der menschlichen Praxis wird sie zum Eingreifen in diese Praxis. Und deshalb ist sie wirklich, wie Engels sagte, nicht nur unser bestes Arbeitsmittel, sondern auch unsere schärfste Waffe. Deshalb ist sie wirklich, wie Marx rühmte, revolutionär: denn »auch die Theorie wird Gewalt, sobald sie die Massen ergreift«.
1. Neue Zeit, XXI, 1. S. 772 f. – Diese Abhandlung beweist zugleich auch, wie sehr Marx sich schon vor seinem Hauptwerk mit methodischen Untersuchungen beschäftigt hat und wie sehr es gerade bei ihm zutrifft, dass seine wissenschaftliche Arbeit von einem klaren Bewusstsein ihrer methodologischen Voraussetzungen begleitet war.
2. Vergl. hierzu Hegel, Enzyklopädie, § 249, und meinen Essai Kant zum Gedächtnis. Wien 1904, S. 46 und 47.
3. Vergleiche hierzu Leibnitz, Monodologie, S. 11 und 22, und Die in der Vernunft begründeten Prinzipien der Natur und der Gnade, S. 9 (Reclam).
Zuletzt aktualisiert am 6. April 2024