Max Adler

Kausalität und Teleologie

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XVI. Wahr und Falsch kein
Analogon zu Gut und Böse


Es verbietet sich, im Rahmen dieser Studie auf die weitere Verfolgung jener Gedankenentwicklung einzugehen, zu welcher die eben gefundenen Resultate der Erörterung des Begriffes vom „Bewusstsein überhaupt“ gewiss dringend anregen. Es war nur nötig, ihr hier so weit zu folgen, als erforderlich war, ihren Bezug zu jenem Gegenstand zu erkennen, der ja das eigene Objekt der in ihrem logischen Charakter in Frage gestellten Geisteswissenschaften ist, zum sozialen Leben. Nachdem dieser nun in einer gar nicht zu übersehenden Weise aufgedeckt wurde, muss sich die Erörterung wieder jenem Punkte zuwenden, an dem sie gezwungen war, auf den Begriff des „Bewusstseins überhaupt“ einzugehen, und der, wie erinnerlich, in dem Zweifel lag, ob es nicht etwas völlig Unkritisches gewesen wäre, die Denknotwendigkeit als Träger der formalen Wahrheit des Urteiles zu bezeichnen, wie sie sich im Einzelbewusstsein jedes beliebigen Ichs vorfindet. Diese Ansicht hat nun hoffentlich allen Schein der Ungereimtheit verloren. Sie bedeutet jetzt, richtig verstanden, dieses:

Was ein Ich nicht anders denken kann, das wird für dasselbe eine feststehende Ueberzeugung, sobald es durch das Urteil in den Verkehr mit anderen Urteilen tritt. Denn von dem Satz, den ich nicht anders zu denken vermag, fordere ich, dass ihn auch jeder ebenso denken solle, aber nur deshalb, weil dieses Nicht-anders-Denken-können eben über mein Einzel-Ich hinaus die Idee der formalen Zusammenstimmung alles Denkens bei sich führt und die Grundlage alles Denkens in jedem Ich ausmacht. Jedes Ich erkennt nur das als wahr an, was es nicht anders zu denken vermag, und damit beziehen sich alle Ichs auf die identischen formalen Gesetze des Bewusstseins, das ja in den Ichs nur erscheint, wie der eine Lichtstrahl tausendfältig aus einem facettierten Spiegel zurückgeworfen wird. Nur was die einzelnen Individuen im Rahmen dieser Gesetzlichkeit des Bewusstseins denken, ist sehr verschieden, und je nach dem Reichtum der Vorstellungen wird der eine etwas anders denken können als der andere, etwa im Geiste Kopernikus’ den Satz des Anderen, dass die Sonne sich über den Himmel bewege, als falsch bezeichnen, aber dies wieder nur deshalb, weil er die auch ihm sinnlich vor Augen stehende Bewegung der Sonne über den Himmel gar nicht anders denken kann, denn als optisches Bild der Bewegung der Erde um die Sonne. Wie also bereits anfangs bemerkt, spaltet sich der landläufige Begriff der Wahrheit. In jedem Satz, den wir als eine Wahrheit bezeichnen, müssen wir unterscheiden den historischen Inhalt, dem das Wahrheitsprädikat zuerteilt wird, und dieses Prädikat selbst, das heisst die Wahrheitsgeltung. Die Wahrheitsgeltung ist immer ein logischer Zwang, die historische Beziehung dieser Wahrheitsgeltung aber auf einen bestimmten, mit der Entwicklung des Denkens wechselnden Inhalt im gegenseitigen Austausch der Urteile vollzieht sich stets durch eine auf Anerkennung ihrer Inhalte gerichtete Forderung. Das wird besonders klar bei noch im Streit befindlichen Urteilen. Indem ich zum Beispiel den Marxschen Wertbegriff aufstelle, behaupte ich natürlich, dass er richtig sei. Damit kann ich aber für mich nichts anderes sagen, als dass es mir unmöglich ist, die unter dem ökonomischen Wertbegriff befassten Vorstellungen anders zusammenstimmend zu denken. Zugleich aber bedeutet diese Denknotwendigkeit für mich noch, dass sie, sobald ihre Prämissen eingesehen wurden, von jedem anderen, bei dem dies der Fall ist, gleichfalls anerkannt werde, oder dass ihre bloss vermeintliche Denknotwendigkeit aus ihren Prämissen widerlegt werde. Es ist also gar nicht die Urteilssphäre selbst, in welcher das dem Urteil anhaftende Sollen entspringt, es ist überhaupt nicht mehr die logische Sphäre des Zustandekommens der Wahrheit, sondern, wie bald noch deutlicher werden wird, die praktische Sphäre des Bekennens der Wahrheit, in welcher allein das im theoretischen Akte auftretende Sollen, Anerkennen oder Verwerfen, gegründet ist. Somit macht es auch Wahrheit nicht erst möglich, sondern wirkt nur in der historischen Entwicklung der Wahrheit, die es in ihrer eigenartigen logischen Geltung durchaus voraussetzen muss.

Die teleologische Urteilstheorie, die in Jedem Urteil wesentlich ein Anerkennen oder Verwerfen der in demselben enthaltenen Vorstellungsverbindung annimmt, setzt also an einem unrichtigen Punkte ein, sofern auch sie ja das Urteil nur als Träger der zeitlosen Wahrheit in Betracht ziehen will. Denn alle ihre Trefflichkeit kann sie erst entfalten, sobald sie sich bewusst wird, nur eine Theorie des Urteils als Trägers der historischen Wahrheit, also eine sozial-psychologische Urteilstheorie, gegeben zu haben. Die Beugung der logischen Denknotwendigkeit in ein So-denken-Sollen und die Lehre vom Anerkennen und Verwerfen eines Wahrheitswertes im Urteil kommt nämlich nur dadurch zustande, dass die Argumentierung von der Beobachtung des dem Einzelbewusstsein immanenten Denkvorganges unwillkürlich auf dessen empirische Beziehung zu dem des Nebenmenschen abspringt, so dass die Untersuchung sich plötzlich auf einen Standpunkt gestellt findet, der gar nicht mehr in die Erkenntnistheorie oder auch nur Logik gehört» sondern kaum anders denn als ein historisch-sozial-psychologischer bezeichnet werden kann. Um dies sich deutlich im Blickpunkt zu erhalten, genügt die einfache Besinnung auf den Tatbestand unmittelbaren Erlebnisses, wie er stets in uns vorgefunden wird, wenn wir irgend ein Urteil fällen, ohne es an irgend jemanden zu richten oder von irgend jemandem, selbst nicht von unserer eigenen Reflexion, hierzu aufgefordert worden zu sein. Nirgends ist dann in ihm auch nur eine Spur eines Sollens aufzustöbern und ebensowenig haben wir nur irgend eine Empfindung, in solchen ganz auf sich selbst gestellten Aussagen etwas anzuerkennen oder zu verwerfen. Wir verhalten uns vielmehr in bloss intellektueller Aktion des Bewusstseins, deren gänzliche Indifferenz gegen jede Wertung im Akte selbst nur deshalb so schwer von der Abstraktion festgehalten werden kann, weil der im Urteil fungierende Mensch immer mehr ist als bloss intellektuelles Wesen. Das ändert aber nicht den logischen Charakter des Urteils und darf noch weniger den theoretischen Standpunkt seiner Untersuchung verrücken.

Das aber freilich ist, wie wir sehen, ohne weiteres richtig, dass ich den Satz, den ich zufolge meiner Denknotwendigkeit als mein Urteil ausspreche, sobald er mir bestritten wird aus Gründen, die ich nicht gelten lassen kann, dieser Bestreitung gegenüber als wahr anerkenne, und dass ich daher, also wieder erst, wenn ich mit meinem Satz in den Kampf der Meinungen, in einen Austausch der Gedanken eingetreten bin, fordere, dass ihn auch jeder ebenso anerkennen soll, weil ich sonst mein eigenes Denken Lügen strafen müsste. Solange daher nicht in den inhaltlichen Zusammenhang meiner Denknotwendigkeit derart Bresche gelegt wurde, dass ich nun die lückenhaft gewordene Vorstellungsreihe in der vorigen Verbindung nicht mehr denken kann, werde ich nicht umhin können, anders als mit Energie mein Urteil jeglicher Anfechtung gegenüber als wahr anzuerkennen und entgegenstehende Meinungen als falsch zu verwerfen.

So hängt also, wie sich nun klar zeigt, dieses Anerkennen und Verwerfen durchaus nur mit der Stellungnahme des erkennenden Subjekts zum Inhalte seiner Urteile zusammen, der erst in der sozialen Sphäre zur Entwicklung gelangt, und bilden so die Anerkennung und Verwerfung überhaupt keine logischen, sondern soziale Charakterzeichen des Urteilsaktes. Nur dass sie zweifelsohne nicht soziale Entwicklungsprodukte sind, wie etwa eine gemeinsame Ueberzeugung eines bestimmten Gesellschaftskreises, sondern schon durch den ihnen anhaftenden Anspruch auf ausnahmslose Geltung für alle wie immer beschaffenen, im Verkehre der Menschen untereinander auftretenden Urteile auf einen Punkt hinweisen, in dem eben auch der soziale Charakter des Erkennens eine transzendentale Begründung voraussetzt, die wir in dem Begriff des „Bewusstseins überhaupt“ gefunden hatten.

So führt denn das in der teleologischen Urteiltheorie auftretende Sollen auch an diesem Punkte, wie überall, wo wir ihm bisher gefolgt sind, aus allem logischen Bereiche heraus. Seine wahrhaft dem ganzen Wesen der theoretischen Erkenntnis, in dessen wirklichem Prozess es allerdings stets anzutreffen ist, völlig heterogene Art offenbart sich aber noch zuletzt sinnenfällig, wenn wir in ihm nichts anderem begegnen als – der ethischen Beurteilung, welche überall dort eintritt, wo es, wie eben im Bekennen der Wahrheit, nicht mehr um einen Erkenntnisvorgang, sondern um einen Willensakt, um ein Handeln geht. Die Durchführung dieser letzten Erörterung, in welcher sich die Nachweisung des Irrtums in der teleologischen Auffassung vervollständigt, wird aber ganz wesentlich erleichtert, wenn wir noch einen Einwand berücksichtigen, den die teleologische Auffassung gerade vom Standpunkte der Lehre des Bewusstseins überhaupt für sich vorbringen kann; er wurde bereits im vorausgegangenen öfter gestreift, muss aber jetzt noch besonders berücksichtigt werden.

Der Gedanke, der besonders bei Windelband oft wiederkehrt, dass das Gebiet der Axiome und Normen nur eine Auswahl aus den im naturgesetzlichen Assoziationsprozess sich zusammenfindenden Vorstellungsverbindungen darstelle, legt nämlich die Auffassung nahe, dass es sich mit den theoretischen Prinzipien vielleicht auch nicht anders verhalten werde als mit der Norm des Sittengesetzes, welches nämlich als reines Wollen, das heisst ungetrübt durch empirische Triebe und Interessen, unbedingte, ausnahmslose Geltung hat und also nur im Zusammentreffen mit diesen ihm widerstrebenden Regungen in ein Sollen umgebogen wird. So also sei wohl auch das reine Denken unbedingte Gesetzlichkeit, die, weil ohne Ausnahme, wohl als eine Art logischer Autonomie ein Nicht-anders-Können bedeutet. Aber in der empirischen Sphäre des Irrtums und Vorurteils, der Denkfaulheit und blinden Assoziationen tritt diese Gesetzlichkeit des reinen Denkens im Einzelbewusstsein eben als die Norm auf, nach welcher das richtige Denken verlaufen soll. Das Bewusstsein überhaupt ist also seiner Idee nach freilich ein unausweichlicher Drang, aber gar nicht anders, als es auch die sittliche Gesetzmässigkeit für den schlechthin freien, das heisst nur durch sie bestimmten Willen wäre. Gerade deshalb kann jedoch die nur in der Gesetzlichkeit des Bewusstseins überhaupt begründete Wahrheit dem Einzeldenken, welches nie reines Denken, nicht anders erscheinen als ein höchster Zweck, den es in jedem Urteil anerkennen soll, so wie auch das Gute für uns eben nie Natur, sondern immer nur Aufgabe sein kann.

Es scheint mir, dass tatsächlich diese Auffassung von der Wahrheit als einer Art theoretischen Autonomie des Bewusstseins, die ganz analog seiner praktischen sich nur durch Imperative in uns ankündigt, der teleologischen Auffassung des Erkenntnisprozesses zugrunde liegt, wenn man nicht annehmen will, dass sie die Umdeutung der Urteilsnotwendigkeit in ein Sollen eben bloss als einen Machtausspruch hingestellt hat. Aber gewinnt auch durch eine solche Konstruktion die ganze Auffassung an Geschlossenheit, so ist sie damit doch um nichts mehr begründet. Denn – wie bereits gelegentlich erwähnt wurde – es lässt sich im theoretischen Gebiete nichts aufweisen, das dem Verhältnis der Autonomie des Sittengesetzes zur Heteronomie der sinnlichen Triebe analog wäre und so aus dem Zusammentreffen des Gebotes mit dem Widerstrebenden das Sollen herbeiführte. Daran aber ist als einem Leitprinzip festzuhalten: Jedes Sollen muss ein Anders-Können wenigstens als Möglichkeit voraussetzen. Wo eine solche Möglichkeit auch nicht einmal denkbar ist, hat es keinen Sinn, von einem Sollen zu reden. Gerade das nun ist im Gebiete des Theoretischen der Fall.

Um dies als richtig einzusehen, ist es freilich nötig, dass man sich der Auseinanderhaltung jener beiden Auffassungen strenge befleissigt, aus deren Ineinanderübergehen wir zuletzt die Verschiebung des Standpunktes der teleologischen Urteilstheorie aus dem Logischen in das Psychologische, aus dem Theoretischen in das Praktische folgen sahen: es muss also unterschieden werden die Betrachtung des Erkenntnisvorganges im Einzelbewusstsein und dessen Beurteilung in einem anderen Einzelbewusstsein (oder was dasselbe ist, die Beurteilung eines fremden Erkenntnisvorganges im eigenen Bewusstsein). Dann wird man es wohl als ein verhängnisvolles Missverständnis erkennen, zu meinen, dass Irrtum, Vorurteil, Denkfaulheit, Trugschluss und dergleichen mehr lediglich Produkt naturgesetzlicher Assoziationen sind, die sich damit als bildbare Masse dem normgebenden reinen Denken gegenüberstellen lassen, um von ihm bewertet zu werden. Vielmehr ist klar, dass^ weil das Denken unter allen Umstünden seine formalen Gesetze an sich trägt, im Einzelbewusstsein der unter konkreten Umständen durch das Denken selbst – also nicht etwa wider bessere Einsicht bloss mit dem Wollen festgehaltene – Irrtum oder Paralogismus gleichfalls das Attribut der Denknotwendigkeit und damit der formalen Wahrheit bei sich führen wird wie nur irgend sonst ein allgemein als richtig anerkannter Satz. Wer dieses bestreitet, der hätte eben gar nicht im Auge behalten, worauf es beim erkenntniskritischen Problem der Wahrheit ankommt, dass deren logischer Charakter ganz und gar keinen Bezug zu ihrem Inhalt besitzt, also zu dem, was als wahr gilt. Wahrheit ist in erster Linie eine besondere Art, wie Vorstellungen verbunden sind, und gerade diese rein formale Natur macht die ganze Entwicklung der historischen Wahrheit möglich, die ja darin besteht, jede eben erlangte Gestaltung ihrer selbst in kürzerer oder längerer Zeit zum Irrtum zu werfen. Damit ist aber jede Möglichkeit einer Analogie zwischen der Autonomie des Theoretischen und des Sittlichen ausgeschlossen. Schon der formale Charakter der Denknotwendigkeit, welcher jedes Urteil trögt, scheidet die Phänomene des Irrtums völlig von denen des Bösen. Denn, wer das Böse tut, ist sich auch stets damit des Verwerflichen bewusst; er fühlt, dass er etwas vollbringt, was er nicht soll. Er hat unmittelbar die Norm des Richtigen wenigstens als Idee, wenn auch manchmal nicht als klare Vorstellung neben dem Schlechten, das er ausführt. Dagegen ist es unmöglich, dass jemand ein falsches Urteil – nun was? Die Analogie versagt so gründlich, dass man sie nicht einmal antithetisch als Widersinn entwickeln kann. Man müsste etwa sagen: dagegen ist es unmöglich, dass jemand ein falsches Urteil denkt, das heisst also, nicht bloss mit leeren Worten aussagt, sondern mit Urteilsnotwendigkeit denkt, während er zugleich sich bewusst ist, dass es falsch ist Was hier verwirrt, das ist das Ineinandergehen der logischen und ethischen Sphäre. Das Sittengesetz geht auf die Sphäre des Wollens; man muss also in ihr bleiben und dem Gebot für den Willen ein Zuwiderhandeln des Willens entgegenstellen. Die Denknotwendigkeit geht auf die Sphäre des Denkens: man darf also nicht einmal das Denken und das andere Mal das Handeln einander gegenüberstellen. Denn das ist freilich selbstverständlich und keine Frage der Erkenntnistheorie, sondern allenfalls bloss des Charakters, dass ich ein Urteil in dem Bewusstsein, es sei falsch, aussprechen, ja sogar verfechten kann. Das ist dann aber ein blosses Handeln. Denn so urteilen, also denken kann ich es nicht mehr, wenn Denken nicht bloss Worte machen bedeutet. Der Irrtum, und selbst der zum Himmel schreiende, ist, solange er nur mit Gründen des Denkens – allerdings mit unzulänglichen Gründen; aber das ist jenseits des Bewusstseins, in welchem der Irrtum auftritt – festgehalten wird, also noch nicht einem praktischen Interesse dient, stets ein widerspruchsloser und deshalb denknotwendiger Besitz des Einzelbewusstseins.

Das führt uns sofort zu einem zweiten Punkt, an welchem die Unmöglichkeit einer Analogie zwischen der Gesetzlichkeit des Denkens und des Wollens und damit der Einführung eines Sollens in das theoretische Gebiet ebenfalls offen zutage Hegt. Im Gebiete des Denkens gibt es nämlich überhaupt keinen Vorgang, der dem an die Seite zu stellen wäre, in welchem wir auf praktischem Gebiete die Gleichzeitigkeit des Bewusstseins der Norm und des ihr Widersprechenden im Akte selbst fänden. Auf praktischem Gebiete besteht die Spannung des Gebotes und des seine Einheit zu durchbrechen strebenden Triebes; im Denken gibt es keine derartige Spannung, sondern besteht überall – soweit nur das Denken wirklich reicht, mag es dann selbst sehr niedrig entwickelt sein – Einheit. Auf praktischem Gebiet gibt es eine Norm des Wollens und ein Zuwiderhandeln, das selbst immer noch ein Wollen ist und deshalb der Macht des Sittengesetzes nicht entgehen kann. Auf theoretischem Gebiete gibt es nur ein Denken, dessen Wahrheit darin gelegen ist, dass es nicht anders gedacht werden kann, und einen Widerspruch – der aber selbst nicht mehr gedacht, sondern höchstens wider besseres Wissen behauptet werden kann. Im Widerspruch findet also das theoretische Gebiet gar nicht mehr seine eigene Sphäre, die des Denkens vor, sondern stösst entweder an seine absolute Schranke – das Nicht-denken-Können – oder an die Schrankenlosigkeit, besser gesagt, Charakterlosigkeit eines nach purer Willkür sich bestimmenden Handelns.

Im Denken ist also immer Einheit, selbst wo es die grössten Widersprüche enthält: denn diese Widersprüche existieren dann nur in der Beurteilung eines anderen Denkens, also nicht in Jenem, in dem sie gefunden wurden, sondern nur für das andere, welches sie aufgedeckt hat. Was von meinem Denken im Denken eines anderen gar nicht mitoder nachgedacht werden kann, das nennt dieser andere einen Widerspruch in meinem Denken. Ich selbst aber habe, solange ich so denke – dass heisst dieses widerspruchsvolle Urteil aus dem Gesamtbestande meines Denkinhaltes wirklich hervorbringe und nicht etwa bloss es gedankenlos nachschwätze – nie einen Widerspruch in meinem Denken, weil ein solcher gar nicht gedacht werden kann. [1]

Sobald mir die Prämissen eines Urteiles nicht bloss gegeben, sondern von mir auch gedacht sind, folgt daraus stets ein So-denken-Müssen des Schlusses in der Sphäre des Denkens. In der Wirklichkeit des vollen Lebens braucht allerdings dieser Schluss nicht immer zu folgen: das ist aber dann, von dem Fall des Nicht-folgern-Könnens abgesehen, stets ein Nicht-denken-Wollen, also abermals eine Vertauschung der festzuhaltenden Gesichtspunkte, deren fortwährendes Wechseln ja nichts Verwunderliches ist, sobald man bedenkt, dass die volle Aktivität unseres Bewusstseins, in welcher das Leben besteht, alle jene einzelnen Seiten ungeteilt in sich schliesst, die nur zum Zwecke theoretischer Untersuchung getrennt werden, dann aber auch konsequent getrennt bleiben müssen. Wie plötzlich tatsächlich das Gebiet der beiden genannten Sphären gewechselt wird, sobald der Widerspruch dem eigenen Denken aufstösst, das mag eine häutig beobachtete Erscheinung anschaulich machen, die man als den „ Justamentstandpunkt“ bezeichnet hat, oder auch, es sei dahingestellt, mit welchem Rechte, als „Frauenlogik“, vor welcher der Dichter warnt:

Seid nicht wie Frauen, die
Zurück nur kommen auf ihr erstes Wort,
Wenn man Vernunft gepredigt stundenlang.

Da wird in solchen Fällen eine Behauptung aufgestellt. Sie wird widerlegt, und zwar in derart überzeugender Weise, dass die Stichhaltigkeit der ganzen Gegenargumentierung unmittelbar einleuchtet. Man vermag nun seinen Satz aus den Prämissen, aus welchen man ihn aufstellte, nicht mehr zu denken. Aber – man will ihn nicht aufgeben. Nicht mehr Gründe, sondern Scham, gekränkte Eitelkeit, Zorn, kurz, Affekte treiben dazu, mit einem „Es ist aber doch so“ die alte Behauptung wieder aufzunehmen. Und ebenso affektiv dokumentiert sich auch die Denkunmöglichkeit des erkannten Widerspruches: Verblüffung, Aerger, Enttäuschung, Niedergeschlagenheit führen das Versagen des Denkens deutlich ins Bewusstsein, und der trotzige Willensakt des „Es ist aber doch so“ entringt sich nicht selten einer Flut von Zornesausbrüchen oder Tränen.

Gerade der Widerspruch ist aber zu einem Bollwerk der teleologischen Auffassung gemacht worden, indem sie darauf verweist, dass in ihm der teleologische Charakter des Erkennens direkt zum Bewusstsein kommt. Denn die Tatsache des Widerspruches besteht ja wesentlich darin, dass sie eine Aufforderung an unser Denken enthält, seine Entzweiung mit sich selbst auszumerzen. Und also bedeutet das Auftreten des Widerspruches im Denken unmittelbar die Offenbarung einer demselben immanenten Forderung: der Forderung der Einheit des Denkens.

Allein auch hier verflüchtigt sich die anscheinend so grosse Schlüssigkeit dieser Folgerung gegenüber der strikt eingehaltenen Trennung des logischen und ethischen Standpunktes. Einheit ist die formale Beschaffenheit jedes Denkens; aber diese Einheit des Denkens auch gegenüber den verschiedenen ihr feindlichen Interessen der Lebenswirklichkeit im Entwicklungsprozesse der historischen Wahrheit festzuhalten, ihr die Ehre zu geben und sie zu bekennen, das ist eine Forderung, ein Sollen, welches aber, wie wir im nächstfolgenden Kapitel sehen werden und jetzt schon einleuchtet, kein anderes als das ethische ist.

So ist es denn unmöglich, auf die Tatsache des Bewusstseins überhaupt eine Gesetzlichkeit des Denkens im Sinne eines transzendenten Sollens aufzubauen, da Erkennen und Sollen völlig heterogene Gebiete sind. Das „Bewusstsein überhaupt“ ist eine völlig willenlose Form, eine rein intellektuelle Aktualität die allenfalls metaphysisch als Ausfluss eines Willens gedacht werden kann, erkennmistheoretisch aber nicht eine Faser Willensartiges in sich enthält, obgleich alles iDhaldiche Denken, an dem diese Form besteht, durchaus vom Willen beherrscht ist. Eben deshalb unterliegt das tnhaltliche Denken derselben Beurteilung, der alles Wollen unterstellt ist, der sittlichen, und tritt nun das Sollen auch den Erkenntnisakten gegenüber. Aber im Erkenntnisakt selbst besteht kein Sollen. Die Unterscheidung von Wahr und Falsch ist mit der von Gut und Böse nicht gleichartig. Denn die Erkenntnis des Guten, das heisst des sittlich Gesetzmässigen, macht das Uebel nicht unmöglich, nach der alten, so bitteren Erfahrung:

Video meliorai proboque
deteriora sequor.

Die Erkenntnis des Richtigen aber macht das Falsche im selben Denken unmöglich. Wahr und Falsch ist daher gar nicht eine Polarität, in welche die Gesetzlichkeit des Erkenncns als ihren empirischen Ausdruck gespannt wäre wie die des Wollens, sondern es ist im eigenen Einzeldenken blosses Bewusstsein der Sukzession in der Aenderung der Inhalte der formalen Denknotwendigkeit und nur gegenüber dem fremden Denken die Forderung, diese selbst erfahrenen Aenderungen der inhaltlichen Denknotwendigkeit anzuerkennen, das heisst auch bei sich eintreten zu lassen. An keiner Stelle des Erkenntnisprozesses selbst, bevor er sozialhistorischer Prozess wird, das heisst also, so lange nur die transzendentalen Formen seiner Möglichkeit überhaupt im Auge behalten werden, ist einem Sollen Raum gegeben, seine Gebote wirken zu lassen. Selbst dort nicht, wo manchmal ein äusserer Schein dafür spricht, nämlich im Emporquellen einer neuen Erkenntnis, in der langsamen, durch methodisches Nachdenken mühsam ersiegten Wahrheit; Hier macht es oft dem eigenen Denken den Eindruck, als werde es von einer Einsicht gelenkt, der es zustreben soll. Allein die genauere Analyse zeigt auch hier nichts anderes als Denknotwendigkeit im Sinne eines Nicht-anders-denken-Könnens und Widerspruch im Sinne eines überhaupt Nicht-denken-Könnens. Der Schein des Sollens rührt, abgesehen von dem wirklich mit unterlaufenden praktischen Interesse daher, dass entweder der Ausgangspunkt des Nachdenkens darin Hegt, einen ihm bis jetzt vorliegenden Denkinhalt als Widerspruch zu empfinden, das heisst also als eine Denkunmöglichkeit, der gegenüber diejenige neue Fassung dieses Inhaltes gefunden werden soll, welche zu denken eben möglich ist; oder aber, dass das Denken bereits eine neue inhaltliche Wahrheit gefunden hat, deren Denknotwendigkeit es sich aus seinem bisherigen Bestände bewusst darlegen will, deren Gründe also durch das Nachdenken gefunden werden sollen. In beiden Fällen bedeutet dieses Sollen aber etwas ganz anderes als jenes transzendente Sollen, das eine Gesetzlichkeit des Erkennens tragen wollte. Das Sollen im ersten Fall ist geradezu der Ausdruck des Nicht-denken-Könnens; denn es „soll“ Ja eben die richtige Formel für das Denken gefunden werden. Im zweiten Fall aber bedeutet die Wendung des Gedankens, in welcher sich eine neue Wahrheit (Denknotwendigkeit) als begründet herausstellen „soll“, nur die Tatsache, dass im Leben, wie es wirklich ist, also abgesehen von der Abstraktion, die seine verschiedenen Seiten trennt, alles Denken auch Zweckhandlung ist, und somit auch die Wahrheit sich individuell als ein Ziel darstellen muss, das nur durch eigene, zweckbewusste Arbeit zu realisieren ist.

Folgen wir einmal einem solchen Prozess geistiger Arbeit, wie ihn ein Dichter und Denker zugleich aus seinem grübelnden Innern in lebendigster Anschaulichkeit vor uns offen gelegt hat. Wir werden da diese beiden Arten des Sollens im Denken anschaulich kennen lernen.

Faust sitzt in seiner „engen Zelle“ vor dem Neuen Testament, um es in sein geliebtes Deutsch zu übertragen. Schon der erste Satz bringt seinem Denken eine inhaltliche Denkunmöglichkeit, die nun einen ganzen Prozess des Nachdenkens auslöst.

Im Anfang war das Wort.
Hier stock’ ich schon, wer hilft mir weiter fort?
Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen.
Ich muss es anders übersetzen.

Dieses „Muss“ ist ganz äquivalent einem „Soll“ der teleologischen Auffassung und illustriert trefflich deren unmotivierte Umbeugung der Denknotwendigkeit in ein Sollen. Die teleologische Auffassung würde nämlich hier sagen können, Faust empfände in sich ein Etwas, das ihm gebiete, den Anfang des Evangeliums anders zu übersetzen, was zweifellos richtig ist, wenn man darunter nichts weiter versteht als: Ich kann λογος unmöglich mit „Wort“ übersetzen, wenn ich mir dabei etwas denken soll. Dann ist aber auch ohne weiteres klar, dass dieses „soll“ nur mehr sprachlicher Ausdruck für die Möglichkeit des Denkinhaltes überhaupt ist

Wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin,
Geschrieben steht, im Anfang war der Sinn.

Das „recht erleuchtet“ bedeutet wieder keine Erleuchtung, wie sie aus der Erkenntnis eines Sollens, als eines inneren Daimonions hervorgeht, also etwa, wie sie derjenige ersehnt, der in schwierigen Lebenslagen den rechten Weg sucht, sondern das beginnende Verständnis dafür, wie wohl zu denken möglich wäre, dass der Logos im Anfange war. Die rechte Erleuchtung geht also auf die einleuchtende Klarheit einer denknotwendigen Folgerung dieses Satzes aus den seinen Inhalt ausmachenden Begriffen. Darum wendet sich das Nachdenken auch gleich der Prüfung dessen zu, was in diesen Begriffen gedacht wird.

Bedenke wohl die erste Zeile,
Dass deine Feder sich nicht übereile.
Ist es der Sinn, der alles wirkt und schafft?

Aus den engen Wänden der Zelle schweift nun der Blick des einsamen Grüblers hinaus in die Welt, in ihr wechselnd Weben und glühend Leben, das ihm erst jüngst in einer elementaren Offenbarung kund geworden, und versunken in diese bhnde Verkettung ewigen Wirkens und Vergehens, also indem das Denken nunmehr auf seinen Inhalt reflektiert, ringt sich zögernd der Gedanke los:

Es sollte steh’n, im Anfang war die Kraft.

Wer sieht nicht sofort, dass dieses „sollte“ hier nichts anderes bedeutet als: es muss, das heisst es kann nicht anders sein – ich kann mir nicht anders denken – als dass Logos soviel wie Kraft bedeutet. Die Notwendigkeit, die sich in diesem „es sollte“ ankündigt, ist eine ganz andere als wie etwa in dem Satz: „Das Wort sie sollen lassen stehen.“ Es ist nicht die Notwendigkeit eines Gebotes, sondern die Notwendigkeit des Zusammenhanges einer Erkenntnis in Grund und Folge, die sich nur deshalb hier im teleologischen Gewände als ein Mittel zum Zweck darstellt, weil zwar der formale Denkvorgang stets reine logische Denknotwendigkeit ist, aber doch mit jedem bewusst bearbeiteten Denkinhalt zu einer Handlung des Menschen wird, die wie jede andere bewusste Handlung einen Zweck verfolgt, hier also den Zweck, das Etwas, was im Anfang war, richtig zu bestimmen. Wir haben hier also das Sollen in der vorhin dargelegten zweiten Bedeutung. Nur indem die Aufmerksamkeit sich von der formalen Beschaffenheit des Denkens weg auf dessen bewusst gestalteten Inhalt wendet und dieser nun als ein Handeln erscheint, durch welches im bewusst methodischen Nachdenken das Resultat desselben, wahre Erkenntnis, erzielt werden kann, erscheint nunmehr die Wahrheit als der Zweck des Denkens und gewinnen die einzelnen inhaltlichen GUeder desselben in dem Masse, als sie sich sukzessive zur Erkenntnis fügen, den teleologischen Schein von Mitteln zum Zweck, obzwar sie gerade in dieser Eignung nur durch die formale logische Denknotwendigkeit bestimmt sind, in welcher sie einen simultanen Zusammenhang haben. So bezeichnet auch der Ausspruch eines Technikers, der, einem Baugebrechen abzuhelfen, etwa sagt: Hier sollte ein Pfeiler stehen, nur die einen bestimmten Erfolg – die Festigkeit des Bauwerkes – erst ermöglichende kausale Gesetzlichkeit, die allerdings hier teleologisch ausgedrückt wird, weil ja das ganze Bauwerk nur Menschenzweck ist. Ebenso ist auch alles bewusste inhaltliche Nachdenken bloss Menschenzweck; aber was der Reflexion zu diesem Zwecke nur als nötiges Mittel erscheint, das ist schon vorher durchaus bestimmt durch die Notwendigkeit, in welcher diese konkreten Elemente des Denkprozesses formal überhaupt so und nicht anders gedacht werden können. Darum fühlt sich auch das Denken, solange es noch nicht in den Bann dieser Denknotwendigkeit getreten ist, unruhig.

Doch schon, indem ich dieses niederschreibe,
Warnt mich etwas, dass ich dabei nicht bleibe!

Da tritt also wieder ein Ausdruck auf, der den Vorgang unter die Kategorien des Sollens einzureihen scheint. Wir werden recht bald sehen, inwieferne nun tatsächlich das bewusste Festhalten an dem, was als denk unmöglich erkannt oder vermutet wird, zugleich auch der sittlichen Verurteilung anheimfällt, und insoferne kann auch die Warnung, die Faust empfindet, als ethischen Charakters bezeichnet werden. Aber die schon jetzt geläufige Trennung des logischen und ethischen Standpunkts durchführend, macht es wohl keine Schwierigkeit, zu sehen, dass es in der Sphäre des Denkens keine Gebote des Rechten sind, die den Forscher warnen, sondern dass es nur eben die immer noch nicht vollziehbare Denknotwendigkeit ist, die ihn nicht sich zufrieden geben lässt. Die „Warnung“ richtet das Denken, nicht etwa nach einem Ziele aus, sondern auf sich selbst zurück; sie führt das Denken zum Bedenken, wie schon oben, als die Bedeutung des Sinnes zweifelhaft geworden, und lässt Hilfe nur aus der eigenen Kraft erhoffen, wenn sie endlich dahin führt, den denknotwendigen Zusammenhang so eindringlich aufzuweisen, dass man ihn mit Augen zu sehen vermeint;

Mir hilft der Geist, auf einmal seh’ ich Rat
Und schreib’ getrost: Im Anfang war die Tat!

Nun erst ist das Denken zu jener formalen Einheit seiner Inhalte gelangt, in welcher für sein Bewusstsein Notwendigkeit besteht, das heisst, in welcher allein gedacht werden kann, dass der Logos am Anfang war. Dem Blick aber, der auf die mühsame Denkarbeit zurückschaut, wie sie in bewusster Erinnerung geblieben ist, kann es nicht anders dünken, als dass diese Einheit das Ziel war, zu welchem das Nachdenken strebte, dass sie überhaupt eine Forderung in sich schliesst, welche das Denken in bewusstem Schaffen erfüllen zu sollen sich angeleitet findet, während sie doch tatsächlich die Form ist, in der alles Denken seine inhaltliche Erkenntnis notwendig erst gewinnt, das heisst bestehen kann.

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Fussnote

1. Vergl. Baruch Spinoza, Ethik, II., 47. Lehrsatz, Anm. (Reclam, Seite 8, 137): „In der Tat bestehen die meisten Irrtümer darin allein, dass wir den Dingen ihre Benennungen nicht genau anpassen. Wenn zum Beispiel jemand sagt, dass die aus dem Mittelpunkt des Kreises nach der Peripherie gezogenen Linien ungleich seien, so versteht er offenbar unter Kreis – hier wenigstens – etwas anderes als die Mathematiker. Ebenso wenn die Menschen im Rechnen irren, haben sie andere Zahlen im Kopf«, andere auf dem Papier. In Betracht ihres Geistes irren sie keineswegs. Sie scheinen aber zu irren, weil wir meinen, sie halten dieselben Zahlen im Kopfe, die auf dem Papier stehen ... Daher rühren auch die meisten Meinungsstreitigkeiten, indem die Menschen ihre Meinung nicht richtig ausdrücken oder die Meinung des anderen falsch deuten. Denn tatsächlich ist es so, dass, während sie einander heftig widersprechen, entweder der eine geradeso denkt wie der andere oder der eine an etwas anderes denkt als der andere; so dass die Irrtümer und Widersinnigkeiten, welche bei den anderen angenommen werden, gar nicht bestehen.“


Zuletzt aktualisiert am 16 December 2020